Zum Begriff ‚Geister‘ bei Hölderlin – Kritik von Otts „Hölderlins Geister“
Karl-Heinz Ott, Hölderlins Geister, München 2019
Michael Köhlmeier, Das große Sagenbuch des klassischen Altertums, München, 202019
I
Karl-Heinz Otts Buch, eine der Neuerscheinungen zu Hölderlins 250. Geburtstag, setzt sich zum Ziel, Hölderlins Geister zu benennen und wohl auch zu deuten. Einige Seiten vor dem Schluss seines Buchs schreibt Ott:
„Ums Deuten kommt man nicht herum, es geschieht von allein. Jedes Lesen setzt Assoziationen frei; wir haben sie nicht im Griff, sie schweifen in tausenderlei Richtungen.“ (230)
Diesem Konzeptionsprinzip des Aus- und Abschweifens entsprechend ist Otts Buch aufgebaut. Er kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, aufs Blättchen… Alles in steter Bewegung, ohne Halt, zerschwafelt und zerfaselt; und am Ende bleibt dem Leser nur ein Chaosbrei aus Zitaten, von Rück-, Vor- und Querverweisen, Anspielungen und Deutungsanrissen. Ein Gewoge, hin und her, ohne erkennbaren Faden.
II
Der Titel „Hölderlins Geister“ bereits ist schlecht gewählt. Denn er erinnert fatal an Goethes Gedicht „Zauberlehrling“, in dem es heißt:
„Die ich rief, die Geister,
Werd‘ ich nun nicht los.“
Geht es Ott doch nicht um das Anrufen von Geistern zu einem bestimmten Zauberzweck. Die Auseinandersetzung mit den Geistern erfolgt unter anderen, gleichwohl vagen, in der Schwebe gehalten Rücksichten.
III
Hier (einige) Geister-Stellen aus Otts Buch (ohne Gewähr auf Vollständigkeit) – zunächst geordnet nach dem Fortlauf des Buchs:
- „die große Gleichheit der Geister […] in Freiheit. Monotheismus und Polytheismus sollen sich nicht nur vertragen, sie sollen eins sein.“ (18)
- In Hölderlins „vereinigungsseligen Kosmos […] beflügelt sein Weingott die Geister, doch stets mit heiligem Ernst. Von Delirien keine Spur, von Barbarei schon zweimal nicht.“ (37)
- „Wieland stellt fest, dass die Einbildungskräfte sprießen wie selten zuvor, aller Aufklärung zum Trotz. Man sehnt sich nach Geistern und nach Phänomenen, die alle Vernunft übersteigen.“ (51)
- „Liberale Geister kennen keine männliche Standhaftigkeit, sie schwanken und wanken. Baeumler verabscheut den Liberalismus als weibische Kultur.“ (76)
- „Von nichts ist bei Hölderlin mehr die Rede als von der Einigkeit und Gleichheit der Geister, nach nichts sehnt er sich mehr.“ (162)
- Hölderlin im Hyperion: „Von Kinderharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein.“ (179)
- Hölderlin im Gedicht Hymne an die Jugend: „In der Jugend Strahlen sonnen / Ewig alle Geister sich.“ (223)
- Der letzte Absatz des Buchs lautet: „Ein bisschen steht um die alte Burse herum noch immer die Zeit still, nicht nur bei Nacht. Hört man Schritte hallen durch die Stille, hört man auch noch anderes. […] Es sind Geister, die nichts von Geistern an sich haben. Gespenster ohne Gespenstisches. Anwesenheit könnte man dazu sagen. Anwesenheit aus naher Ferne, von was auch immer.“ (236)
IV
Diese acht Aussagen ließen sich ex post wie folgt ordnen:
In der Auseinandersetzung mit und gegen Kant entstehe, so Ott, ein neues Bedürfnis nach Metaphysik, nach dem, was die Vernunft übersteigt. (3) Diesem Zeitgeist entsprechend habe Hölderlin seine Einbildungskräfte darauf konzentriert, einen jenseitigen Kosmos der Geister zu entwerfen. Dieser neu, besser: erneut zu schaffende Kosmos der Geister sei bei Hölderlin, so Ott, durch Anwendung der Gestaltungsprinzipien von Einigkeit und Gleichheit zu erreichen. (5) Dies setze – wider das Christentum – die Einheit von Monotheismus und Polytheismus voraus. (1) Diese Einheit wiederum könne aber nur durch den Weingott, sprich Dionysos, gestiftet werden. (2) Sobald durch ihn die Einheit verwirklicht worden sei, wäre die Harmonie der Geister geschaffen, die den Anfang einer neuen Weltgeschichte einleitete. (6) Doch nur jugendliche Dichter vermöchten es, einen solchen Kosmos der Geister zu entwerfen. (7) — Doch was die Geister letztlich sind, bleibt bei Ott offen, (8) außer dass sie – politisch vereinnahmt – (nicht bräunlich, sondern) liberal seien (4):
„Die späten Hymnen […, so Ott] weisen tatsächlich ins Offene“ (227)
So endet das Buch, wie es begann: in geisterhaftem Spuk. Erkenntnisgewinn? Fehlanzeige; auch nach 236 Seiten ermüdendem Lesen nicht auszumachen.
V
Dabei gäbe es durchaus Ansatzpunkte der Bestimmung des Begriffs Geister, auf die Ott jedoch mit keinem Wort näher eingeht:
- Die Vereinnahmung von Christus als letzten der griechischen Götter bei Hölderlin: Dazu gibt es reichlich Literatur. Insbesondere die Parallelen zwischen Christus und Dionysos sind reichlich diskutiert. Doch von Ott kein Wort dazu.
- „Der Große Pan ist tot“, heißt es (auch) bei Ott. (18) Stimmt. Gott Pan war der erste der griechischen Götter, die starben. (Er stank so sehr nach Ziege, dass die anderen Götter sich weigerten, ihn mitzunehmen, wenn sie auszogen, um von den Kräutern zu essen, die unsterblich machen. Und da er kein Unsterblichkeit erhaltendes Kraut mehr bekam: Pech gehabt.) Der letzte war Dionysos: „die Erlöserfigur in der griechischen Mythologie“. (Köhlmeier, 601)
- Doch Dionysos wurde, laut Hölderlin, wiedergeboren in Christus, wie auch Ott behauptet. (164) Doch inwiefern? Auch dazu findet sich bei Ott kein Wörtchen. Kein Wörtchen zu den Evangelisten und dem Nachhall der altgriechischen Tradition in ihren Schriften… Kein Wort zum Bezug von Mythos und Logos.
- Kein Hinweis auf das Zitat, mit dem Hegel seine Phänomenologie des Geistes schließt: „aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm [dem absoluten Geist] seine Unendlichkeit“. Hegel zitiert hier die Schlusszeilen eines Gedichts (ohne Titel) aus Schillers Philosophischen Briefen, das im Abschnitt Gott steht, mit dem die Briefe schließen:
„Freundlos war der große Weltenmeister,
fühlte Mangel, darum schuf er Geister,
sel’ge Spiegel seiner Seligkeit.
Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,
aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches
schäumt ihm die Unendlichkeit.“
- Auch in den Räubern finden sich mehrere Stellen, die auf Hölderlin (vor)verweisen, z.B. der Ausdruck Harmonie der Geister. (Erster Akt, erste Szene) Doch Ott geht auf Ähnlichkeiten und Differenzen der Begriffswelt / Metaphorologie (Blumenberg) zwischen Hölderlin und seinen Jugendfreunden Hegel und Schelling ebenso wenig ein wie auf die zwischen Hölderlin und Schiller (von dem Hölderlin sich Unterstützung für das Publizieren seiner eigenen Gedichte erhoffte und dessen Werke er daher sehr genau studiert haben dürfte).
- Besonders disqualifizierend ist folgende Aussage: „Im Übrigen wissen die Griechen noch nicht, dass es sich bei Dionysos und Apoll um ein klassisches Gegensatzpaar handelt. Das ist Nietzsches Erfindung.“ (36) Welch Blödsinn! Es war Gottvater Zeus selbst, der seine beiden Söhne, Dionysos und Apoll, zu den Herren über Delphi bestimmte. (Von Frühling bis Herbst herrschte Apoll und im Winter Dionysos.) Apoll war es, der sich im und über das Orakel offenbarte. Dionysos offenbarte nicht; er wirkte im Verborgenen, im Dunkeln. Nietzsches Erfindung bestand einzig darin, die beiden Wirkmächte des Verbergens und Entbergens der Natur und ihrer Geschöpfe auf die Welt der Kunst zu übertragen. Noch einmal Köhlmeier:
„Apoll und Dionysos verstanden sich wider Erwarten sehr gut. Warum? Weil sie sich ergänzten zu einem. Und das war die allergrößte Gefahr, die dem Zeus drohte, das hat er wohl nicht vorausgesehen. Nämlich zusammen – Apoll und Dionysos, dass Apollinische und das Dionysische –, zusammen waren sie unschlagbar.
Gemeinsam drängten sie den ganzen großen Götterhimmel schließlich zurück. Und in ihrer Verschmelzung gaben sie einer neuen, einer ungeheuer mächtigen Gottgestalt Charakter – nämlich Jesus Christus.“ (614f.)
VI
Wie heißt es bei Hölderlins Odendichter-Vorbild Pindar über die verschwatzten Gelehrten, über die sich sowohl vorher als auch danach Meister der Sprache (sehr hübsch die Xenien von Goethe und Schiller) ebenfalls köstlichst zu amüsieren wussten, so schön:
μαθόντες δὲ λάβροι
παγγλωσσίᾳ κόρακες ὢς ἄκραντα γαρυέτων
Διὸς πρὸς ὄρνιχα θεῖον·
ihr Allwissen sei nur Krähengekrächze angesichts des göttlichen Vogels des Zeus. (2. Olymp. Ode, Vers 87ff.)