Alex Michaelides‘ Plädoyer für Alkestis in ‚Die stumme Patientin‘

Alex Michaelides, Die stumme Patientin. Psychothriller. Aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp. München, 2019

Euripides, Ausgewählte Tragödien in zwei Bänden. Griechisch und Deutsch. Aus dem Griechischen von Dietrich Ebener. Herausgegeben von Bernhard Zimmermann. Mannheim, 2010

Euripides, Alcestis, ed. David Kovacs, perseus (online)

Yassin Musharbash, Jenseits. Thriller. Köln, 2019

Wilhelm Nestle, Euripides. Der Dichter der griechischen Aufklärung. Stuttgart, 1901

Alex Michaelides eröffnet seinen Psychothriller mit einer Frage: „Aber warum spricht sie nicht?“, die er vorgibt, aus „Euripides, Alkestis“ (im Original kein Fettdruck) entnommen zu haben. Im Lauf der Handlung kommt der Autor immer wieder auf die Sprachlosigkeit zu sprechen, wobei er Parallelen zwischen seiner Protagonistin, der stummen Patientin, und der Alkestis (Ἄλκηστις) des Euripides zieht.

Die angesprochene Stelle bei Euripides lautet: τί γάρ ποθ᾽ ἥδ᾽ ἄναυδος ἕστηκεν γυνή; (1143) Dietrich Ebener übersetzt diese Stelle sehr nah am Original: „Warum steht eigentlich mein Weib so schweigsam [ἄ-ναυδος: sprachlos/stumm] da?“ Der deutsche Titel des Psychothrillers Die stumme Patientin trifft insofern das im Stück des Euripides beobachtete und genannte Verhalten sehr genau.

Als Grund für dieses Verhalten lässt Euripides durch Herakles dem Ehemann der Alkestis, Admetos, der die Frage stellte, antworten:

„Du darfst noch nicht vernehmen ihren Gruß, bevor / den Göttern sie der Unterwelt als Sühneopfer / gespendet und bevor der dritte Tag anbricht.“ (1144-46; Übersetzung Ebener)

Alkestis, die sich für ihren Ehemann opferte und starb, wurde in Euripides‘ Stück von Herakles dem Tod (der im Stück als Akteur auftritt) entrissen und als von den Toten Auferstandene ihrem Ehemann zurückgebracht.

Im Unterschied zu Euripides‘ Alkestis wird die Protagonistin in Michaelides‘ Psychothriller in nicht zwei, sondern drei Phasen vorgestellt: als Ehefrau vor dem Verstummen, als Verstummte (und Mörderin ihres Ehemanns) und nach ihrem Verstummen (während der Therapie). Zudem fehlt bei Michaelides der Bezug zur Welt der Götter und Heroen. Er reduziert die Figur Alkestis auf den Aspekt der Selbstopferung:

„Alkestis ist die Heldin eines griechischen Mythos, eine Liebesgeschichte der traurigsten Art. Alkestis opfert aus freien Stücken ihr Leben für ihren Ehemann Admetos, stirbt an seiner Stelle, da niemand sonst dazu bereit ist. Ein verstörender Mythos der Selbstopferung, zumal es unklar war, in welchem Zusammenhang er mit Alicias [der stummen Patientin] Situation stand. Die wahre Bedeutung dieser Anspielung erschloss sich mir eine geraume Weile lang nicht. Bis eines Tages die Wahrheit ans Licht kam …“ (17; im Original kein Fettdruck)

— Frauen, die sich freiwillig opfern, kommen bei Euripides häufig vor:

Iphigenie ringt sich nach zwar heissem aber natürlichen Kampfe mit jugendlicher Lebenslust zu dem Entschluss durch, sich für Hellas zu opfern (Iph. Aul.1386 ff.); Makaria geht für das Wohl der Ihrigen in den Tod (Heraklid 500 ff.); Andromeda lässt sich von ihrem Vater Kepheus an einen Felsen schmieden, um das Land von einem Ungeheuer zu befreien, während [nicht nur] Alcestis [sondern auch], Euadne und Polyxena aus persönlichen Motiven mutvoll dem Tod ins Auge schauen.“ (Nestle, 279; im Original kein Fettdruck)

Euripides hingegen beginnt sein Stück mit dem Auftritt des Gottes Apoll, der berichtet, dass und warum er sich am Hof von Admetos aufhält. Gottvater Zeus habe ihm befohlen, sich als Tagelöhner zu verdingen zur Strafe dafür, dass er die Kyklopen erschlug. Apoll freilich mordete aus Rache, da Zeus zuvor „die Brust [von Apolls Sohn Asklepios] ihm traf mit seinem Blitz.“ (3; Übersetzung Ebener)

Die griechischen Götter der Zeus-Ära: Ein Geschlecht von Mödern!! Der oberste Gott, Gott Zeus, selbst Mörder, der seinen Bruder, Gott Apoll, ebenfalls Mörder, als Mörder bestraft: vorübergehend einem Sterblichen!! zu dienen. Welch unerhörter Fall!! Welch Schmach!! die Euripides der Aufklärer hier kundtut!!

— In den Buchreligionen undenkbar: Gott ist unfehlbar – wie auch sein mächtigstes Fußvolk: Propheten und Papst. Wehe dem, der daran frevelt!  — Im Islam ist sogar des Propheten Kinderficken und Massenmord – zumindest – toleriert. Hierauf baut der IS seine Ideologie auf. In Yassin Musharbashs Thriller Jenseits liest sich die Selbstrechtfertigung und -ermächtigung eines IS-Kämpfers zu morden (in Form eines fiktiven Gesprächs mit Abu Karim, als dem Strenggläubigen aber Friedfertigen, der ihn zum Islam brachte) so:

„Wenn ich zu Lebzeiten des Propheten gelebt hätte, habe ich zu dir gesagt, was hätte der Prophet, Friede sei auf ihm, wohl entgegnet, wenn ich ihm gesagt hätte: »Halte inne, Muhammad! Töte die Ungläubigen nicht! Verschone ihre Hälse, ihre Frauen, ihre Dattelpalmen – der Islam ist doch die Religion des Friedens!« Du wärest doch heute gar kein Muslim, Abu Karim, wenn es so gelaufen wäre – weil der Islam es niemals auch nur bis nach Mekka geschafft hätte. Das habe ich dir an den Kopf geworfen.

Der Prophet, Abu Karim, hat selbst ein Schwert geführt. Er hat getötet.

Du nicht. Aber Abu Muhammad schon! So habe ich mit dir geredet.“ (167; im  Original kein Fettdruck)

Ein weiterer Unterschied zu Euripides ist, dass die stumme Patientin nicht auf die Rolle Ehefrau restringiert dargestellt wird. Nicht nur, dass sie als Mörderin die Rolle des Todes übernimmt, sie wird auch – und das wird für die Entwicklung des Thrillers entscheidend – (bereits zu Beginn) als Künstlerin vorgestellt:

„Alicia schwieg zwar – aber sie machte dennoch eine Aussage. Ein Gemälde. Sie fing an, es zu malen, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen und unter Hausarrest gestellt worden war, bevor der Fall vor Gericht ging. Laut der vom Gericht bestellten psychiatrischen Betreuerin aß und schlief Alicia kaum – alles, was sie tat, war malen. […]

Bei dem Bild handelte es sich um ein Selbstportrait. Sie betitelte es in der unteren linken Ecke der Leinwand, in hellblauer griechischer Schrift.

Der Titel bestand aus einem einzigen Wort:

Alkestis.“ (16)

Eine weitere Schlüsselszene im Psychothriller ist die Stelle, wo Alicia ihren Vater unbeabsichtigt belauscht, nachdem seine Frau den von ihr willentlich verursachten Autoaufprall gegen die Wand nicht überlebte, seine auf dem Beifahrersitz angeschnallte Tochter jedoch schon:

„Eva … Warum musste sie sterben? Warum ausgerechnet sie? Warum konnte nicht stattdessen Alicia sterben? […]

So wie Admetos Alkestis zum physischen Sterben verurteilt hatte, hatte Vernon Rose seine Tochter zum psychischen Tod verdammt. Admetos musste Alkestis auf eine gewisse Art geliebt haben; in Vernon Rose dagegen war keine Liebe zu finden, nur Hass. Was er getan hatte, was seelischer Kindsmord, und Alicia wusste das.“ (308)

Dieses Erlebnis wird als Grund für den Mord am Ehemann nachträglich benannt:

„Aber eines Tages brechen all der Schmerz, all die Wut wieder hervor, wie Feuer aus einem Drachenbauch – und man greift zu einer Waffe. Man richtet seinen Zorn nicht gegen den Vater, der tot und unerreichbar ist, sondern gegen den Ehemann, der einen Platz im eigenen Leben eingenommen hat, der einen liebt und das Bett mit einem teilt.“ (309)

Doch das ist freilich nicht die ganze Wahrheit: Michaelides‘ Thriller ist wesentlich komplexer und entwickelt sich in eine für den Leser unerwartete Richtung — vorgetragen in einer Art Doppelbiographie, deren Stränge gekonnt aufeinander zu geführt und ineinander verschlungen werden…

Prädikat: lesenswert!

Äsop über die Schamlosigkeit der Eromenoi (ἐρώμενοι)

Äsop, Fabeln. Griechisch / Deutsch. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Voskuhl. Nachwort von Niklas Holzberg. Ditzingen, 2005

In dem bereits früher besprochenen Buch von Vanessa Springora Die Einwilligung heißt es u.a.:

„1974 veröffentlichte G. [Gabriel Matzneff] eine Abhandlung mit dem Titel Les Moins de seize ans – Die unter Sechzehnjährigen -, eine Art Manifest für die sexuelle Befreiung Minderjähriger“. (132)

„G. stellt darin insbesondere die Behauptung auf, dass die sexuelle Initiation Heranwachsender durch einen Erwachsenen dem Wohl der Jugendlichen diene und daher von der Gesellschaft gefördert werden solle.“ (133)

Wie bereits gesagt, insbesondere (auch sehr namhafte) Linke fanden bis zu Springoras Abrechnung mit Matzneff dessen Petitionen auf Legalisierung des Kinderfickens durchaus unterstützenswert. Erwachsene wissen halt viel besser, was den süßen Kleinen zu eigenem Lustgewinn gut tut, nicht wahr Herr Cohn-Bendit?

Schließlich hätten doch schon die alten Griechen Päderastie gelobt. Als guter Europäer gelte es daher, diese Tradition fortzuführen. Im Anschluss an obiges Zitat fährt Springora denn auch fort:

„Durch diese Praxis, die im Übrigen in der Antike weit verbreitet gewesen sei, werde gewährleistet, dass die Heranwachsenden frei über die Wahl ihres Partners und ihre sexuellen Wünsche entscheiden könnten.“ (133)

Gerade Springoras Buch zeigt denn en dé­tail den widerlichen Euphemismus dieses Vorurteils.

Dass Päderastie als gesellschaftlich weithin akzeptiertes Verhalten selbst bei den alten Griechen durchaus kritisch begleitet wurde, ja gar als schamlos angesehen wurde, zeigt Äsop in seiner Fabel Zeus und die Scham (Fabel 109):

„Als Zeus die Menschen gemacht hatte, pflanzte er ihnen sofort die anderen Eigenschaften ein, allein die Scham vergaß er. Deshalb war er in Verlegenheit, wie er sie hineinbekommen sollte. Er befahl ihr also, durch den Hintern hineinzukriechen. Sie aber weigerte sich zuerst und sagte, das sei unwürdig. Als er ihr aber heftig zusetzte, sagte sie: »Ich gehe doch nur unter der Bedingung hinein, dass ich, wenn etwas anderes nach mir da hereinkommt, sofort wieder hinausgehe!« Daher kommt es, dass alle Strichjungen keine Scham haben.“ (Äsop in der Übersetzung Voskuhls, 111)

Dass just Gottvater Zeus auf die Scham vergaß, verwundert freilich angesichts seines notorischen Fremdgehens wenig…

 

Zum Begriff ‚Geister‘ bei Hölderlin – Kritik von Otts „Hölderlins Geister“

Karl-Heinz Ott, Hölderlins Geister, München 2019

Michael Köhlmeier, Das große Sagenbuch des klassischen Altertums, München, 202019

I

Karl-Heinz Otts Buch, eine der Neuerscheinungen zu Hölderlins 250. Geburtstag, setzt sich zum Ziel, Hölderlins Geister zu benennen und wohl auch zu deuten. Einige Seiten vor dem Schluss seines Buchs schreibt Ott:

„Ums Deuten kommt man nicht herum, es geschieht von allein. Jedes Lesen setzt Assoziationen frei; wir haben sie nicht im Griff, sie schweifen in tausenderlei Richtungen.“ (230)

Diesem Konzeptionsprinzip des Aus- und Abschweifens entsprechend ist Otts Buch aufgebaut. Er kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, aufs Blättchen… Alles in steter Bewegung, ohne Halt, zerschwafelt und zerfaselt; und am Ende bleibt dem Leser nur ein Chaosbrei aus Zitaten, von Rück-, Vor- und Querverweisen, Anspielungen und Deutungsanrissen. Ein Gewoge, hin und her, ohne erkennbaren Faden.

II

Der Titel „Hölderlins Geister“ bereits ist schlecht gewählt. Denn er erinnert fatal an Goethes Gedicht „Zauberlehrling“, in dem es heißt:

„Die ich rief, die Geister,

Werd‘ ich nun nicht los.“

Geht es Ott doch nicht um das Anrufen von Geistern zu einem bestimmten Zauberzweck. Die Auseinandersetzung mit den Geistern erfolgt unter anderen, gleichwohl vagen, in der Schwebe gehalten Rücksichten.

III

Hier (einige) Geister-Stellen aus Otts Buch (ohne Gewähr auf Vollständigkeit) – zunächst geordnet nach dem Fortlauf des Buchs:

  • „die große Gleichheit der Geister […] in Freiheit. Monotheismus und Polytheismus sollen sich nicht nur vertragen, sie sollen eins sein.“ (18)
  • In Hölderlins „vereinigungsseligen Kosmos […] beflügelt sein Weingott die Geister, doch stets mit heiligem Ernst. Von Delirien keine Spur, von Barbarei schon zweimal nicht.“ (37)
  • Wieland stellt fest, dass die Einbildungskräfte sprießen wie selten zuvor, aller Aufklärung zum Trotz. Man sehnt sich nach Geistern und nach Phänomenen, die alle Vernunft übersteigen.“ (51)
  • „Liberale Geister kennen keine männliche Standhaftigkeit, sie schwanken und wanken. Baeumler verabscheut den Liberalismus als weibische Kultur.“ (76)
  • „Von nichts ist bei Hölderlin mehr die Rede als von der Einigkeit und Gleichheit der Geister, nach nichts sehnt er sich mehr.“ (162)
  • Hölderlin im Hyperion: „Von Kinderharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein.“ (179)
  • Hölderlin im Gedicht Hymne an die Jugend: „In der Jugend Strahlen sonnen / Ewig alle Geister sich.“ (223)
  • Der letzte Absatz des Buchs lautet: „Ein bisschen steht um die alte Burse herum noch immer die Zeit still, nicht nur bei Nacht. Hört man Schritte hallen durch die Stille, hört man auch noch anderes. […] Es sind Geister, die nichts von Geistern an sich haben. Gespenster ohne Gespenstisches. Anwesenheit könnte man dazu sagen. Anwesenheit aus naher Ferne, von was auch immer.“ (236)

IV

Diese acht Aussagen ließen sich ex post wie folgt ordnen:

In der Auseinandersetzung mit und gegen Kant entstehe, so Ott, ein neues Bedürfnis nach Metaphysik, nach dem, was die Vernunft übersteigt. (3) Diesem Zeitgeist entsprechend habe Hölderlin seine Einbildungskräfte darauf konzentriert, einen jenseitigen Kosmos der Geister zu entwerfen. Dieser neu, besser: erneut zu schaffende Kosmos der Geister sei bei Hölderlin, so Ott, durch Anwendung der Gestaltungsprinzipien von Einigkeit und Gleichheit zu erreichen. (5) Dies setze – wider das Christentum – die Einheit von Monotheismus und Polytheismus voraus. (1) Diese Einheit wiederum könne aber nur durch den Weingott, sprich Dionysos, gestiftet werden. (2) Sobald durch ihn die Einheit verwirklicht worden sei, wäre die Harmonie der Geister geschaffen, die den Anfang einer neuen Weltgeschichte einleitete. (6) Doch nur jugendliche Dichter vermöchten es, einen solchen Kosmos der Geister zu entwerfen. (7) — Doch was die Geister letztlich sind, bleibt bei Ott offen, (8) außer dass sie – politisch vereinnahmt – (nicht bräunlich, sondern) liberal seien (4):

„Die späten Hymnen […, so Ott] weisen tatsächlich ins Offene“ (227)

So endet das Buch, wie es begann: in geisterhaftem Spuk. Erkenntnisgewinn? Fehlanzeige; auch nach 236 Seiten ermüdendem Lesen nicht auszumachen.

V

Dabei gäbe es durchaus Ansatzpunkte der Bestimmung des Begriffs Geister, auf die Ott jedoch mit keinem Wort näher eingeht:

  • Die Vereinnahmung von Christus als letzten der griechischen Götter bei Hölderlin: Dazu gibt es reichlich Literatur. Insbesondere die Parallelen zwischen Christus und Dionysos sind reichlich diskutiert. Doch von Ott kein Wort dazu.
  • Der Große Pan ist tot“, heißt es (auch) bei Ott. (18) Stimmt. Gott Pan war der erste der griechischen Götter, die starben. (Er stank so sehr nach Ziege, dass die anderen Götter sich weigerten, ihn mitzunehmen, wenn sie auszogen, um von den Kräutern zu essen, die unsterblich machen. Und da er kein Unsterblichkeit erhaltendes Kraut mehr bekam: Pech gehabt.) Der letzte war Dionysos: „die Erlöserfigur in der griechischen Mythologie“. (Köhlmeier, 601)
  • Doch Dionysos wurde, laut Hölderlin, wiedergeboren in Christus, wie auch Ott behauptet. (164) Doch inwiefern? Auch dazu findet sich bei Ott kein Wörtchen. Kein Wörtchen zu den Evangelisten und dem Nachhall der altgriechischen Tradition in ihren Schriften… Kein Wort zum Bezug von Mythos und Logos.
  • Kein Hinweis auf das Zitat, mit dem Hegel seine Phänomenologie des Geistes schließt: „aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm [dem absoluten Geist] seine Unendlichkeit“. Hegel zitiert hier die Schlusszeilen eines Gedichts (ohne Titel) aus Schillers Philosophischen Briefen, das im Abschnitt Gott steht, mit dem die Briefe schließen:

„Freundlos war der große Weltenmeister,

fühlte Mangel, darum schuf er Geister,

sel’ge Spiegel seiner Seligkeit.

Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,

aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches

schäumt ihm die Unendlichkeit.“

  • Auch in den Räubern finden sich mehrere Stellen, die auf Hölderlin (vor)verweisen, z.B. der Ausdruck Harmonie der Geister. (Erster Akt, erste Szene) Doch Ott geht auf Ähnlichkeiten und Differenzen der Begriffswelt / Metaphorologie (Blumenberg) zwischen Hölderlin und seinen Jugendfreunden Hegel und Schelling ebenso wenig ein wie auf die zwischen Hölderlin und Schiller (von dem Hölderlin sich Unterstützung für das Publizieren seiner eigenen Gedichte erhoffte und dessen Werke er daher sehr genau studiert haben dürfte).
  • Besonders disqualifizierend ist folgende Aussage: „Im Übrigen wissen die Griechen noch nicht, dass es sich bei Dionysos und Apoll um ein klassisches Gegensatzpaar handelt. Das ist Nietzsches Erfindung.“ (36) Welch Blödsinn! Es war Gottvater Zeus selbst, der seine beiden Söhne, Dionysos und Apoll, zu den Herren über Delphi bestimmte. (Von Frühling bis Herbst herrschte Apoll und im Winter Dionysos.) Apoll war es, der sich im und über das Orakel offenbarte. Dionysos offenbarte nicht; er wirkte im Verborgenen, im Dunkeln. Nietzsches Erfindung bestand einzig darin, die beiden Wirkmächte des Verbergens und Entbergens der Natur und ihrer Geschöpfe auf die Welt der Kunst zu übertragen. Noch einmal Köhlmeier:

„Apoll und Dionysos verstanden sich wider Erwarten sehr gut. Warum? Weil sie sich ergänzten zu einem. Und das war die allergrößte Gefahr, die dem Zeus drohte, das hat er wohl nicht vorausgesehen. Nämlich zusammen – Apoll und Dionysos, dass Apollinische und das Dionysische –, zusammen waren sie unschlagbar.

Gemeinsam drängten sie den ganzen großen Götterhimmel schließlich zurück. Und in ihrer Verschmelzung gaben sie einer neuen, einer ungeheuer mächtigen Gottgestalt Charakter – nämlich Jesus Christus.“ (614f.)

VI

Wie heißt es bei Hölderlins Odendichter-Vorbild Pindar über die verschwatzten Gelehrten, über die sich sowohl vorher als auch danach Meister der Sprache (sehr hübsch die Xenien von Goethe und Schiller) ebenfalls köstlichst zu amüsieren wussten, so schön:

             μαθόντες δὲ λάβροι

παγγλωσσίᾳ κόρακες ὢς ἄκραντα γαρυέτων

Διὸς πρὸς ὄρνιχα θεῖον·

ihr Allwissen sei nur Krähengekrächze angesichts des göttlichen Vogels des Zeus. (2. Olymp. Ode, Vers 87ff.)