Antigone-Adaption frei nach Thea Dorns „Trost“-Gesang
Thea Dorn, Trost. Briefe an Max, München, 2021
Wolfgang Ambros, Es lebe der Zentralfriedhof, google.com, zugegriffen am 25.2.22021
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Thea Dorn singt in ihren Briefen an Max den Zorn Johannas (wie einst Homer in der Ilias den Zorn des Achill):
„Ich lasse mir meinen Zorn nicht ausreden!!!!“ (152)
Johannas Zornesausbruch gründet im Tod ihrer betagten Mutter:
„Aber meine Mutter, meine brillante, dauerumtriebige, vierundachtzigjährige, bescheuerte Mir-kann-keiner-was-anhaben-Mutter – sie musste stur nach Italien fahren, obwohl sich dieses Land bereits mit einem Bein im Ausnahmezustand befand. Obwohl es bereits Reisewarnungen gab.“ (11)
Vier Gründe nennt Johanna für ihren Zorn im ersten Brief:
„Meine Mutter ist tot.
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Gestorben, weil sie sich in ihrem verdammten Leichtsinn für unsterblich hielt.
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Gestorben, weil blinde Politiker nicht sehen wollten, welche Gefahr auf uns zukommt.
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Gestorben, weil Wissenschaftler fröhlich verkündet haben, mit ein bisschen Händewaschen und In-die-Armbeuge-Niesen sei dieses Virus schon auszutricksen.
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Gestorben, weil unsere Krankenhäuser von einer Seuche heillos überfordert sind.“ (9)
Den Bezug zu Sophokles′ Tragödie Antigone stellt Dorn wie folgt her:
„Die grassierende Staatsräson ist um kein Haar weniger brutal als die von König Kreon, der Antigone verbieten will, ihren toten Bruder zu bestatten. Nur dass unser Staatsfeind Nr. 1 ein Virus ist.“ (16)
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Bleiben wir ein wenig bei Sophokles Tragödie Antigone.
In der Tat ist die Ausgangskonstellation vergleichbar. Antigone möchte ihren Bruder bestatten, doch Herrscher Kreon verbietet es. In einer Nebenrolle tritt als dritte Maske Antigones Schwester Ismene auf: Antigone widersetzt sich dem Herrscher; sie steht für Rebellion. Ismene hingegen unterwirft sich dem Herrscher; sie steht für Duckmäusertum. Aus der Schar der weiteren, kleineren Nebenrollen sticht vor allem der Seher Teiresias heraus. Denn er verkündet das Wort Gottes. Den Chor schließlich bilden die Greise aus Theben, der Stadt, in der die Tragödie spielt.
Unsere Corona-Adaption könnte dann wie folgt aussehen:
- Johanna, die Zornige übernimmt die Rolle der aufmüpfigen Antigone (gesprochen von Thea Dorn persönlich);
- Mutti, gefühlskalt-emotionslos, zahlenvernarrt-technokratisch und einschläfernd-verstaubt ersetzt als eingeblendete Sprechblase den machtgeilen, zynischen Kreon;
- Doktorchen der Volksverdummung Karl Lauterbach, der TV-Lieblings-Politikerklärer für Markus Lanz und Co., ebenso fantasie- wie humorlos, spielt Muttis Lieblingsagent (des VEB Horch und Guck);
- Professor Lothar H. Wieler verkündet – anstatt Seher Teiresias – drei Mal täglich die Schluck-Botschaften des Inzidenz-Orakels;
- den Chor der dümmlich Alten bilden (beliebige) Omas und Opas aus der Verwahrstation Zum lieben Jesulein.
Als Zusatzgast wäre Heribert Prantl denkbar, der, um das Thema Corona in einen größeren, allübergreifenden Gutmensch-Diskursrahmen einzubetten – anstatt des Chors –, die Schlussweisheit verkünden darf:
„Vergesst mir ob Corona die Flüchtlinge nicht!“
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Oder sollten wir den Soff nicht eher in eine
Komödie
verpacken und das Virus auf die Anklagebank setzen?
Wie herrlich-unbedarft war doch die Zeit, als Sänger Wolfgang Ambros noch echt Wienerisch makaber den 100. Jahrestag des Bestehens des Zentralfriedhofs feiern durfte:
Es lebe der Zentralfriedhof
Und olle seine Toten
Der Eintritt is‘ für Lebende
Heit‘ ausnahmslos verboten,
Weü da Tod a Fest heit‘ gibt die gonze lange Nocht,
Und von die Gäst‘ ka anziger a Eintrittskort’n braucht
Dank da recht schee, Woifi! Du fehlst ma!