Can Dündar übernimmt Erdoğans Putsch-Erzählung
Can Dündar, Kampf auf der Bosporus-Brücke, ZDF, 22.1.2021
Ein Zitat Erdogans von 1998 ist heute aktueller denn je, Focus online, 25.6.2017
—
Wie schön.
Erdoğans Propaganda hat gesiegt.
Nun also ist das dilettantisch vorgetragene Schein-Pütschchen vom 15. Juli 2016 endlich auch in Deutschland vom Staatsfernsehen offiziell zum echten Putschversuch der Gülen-Bewegung erklärt.
Hurra! Can Dündar sei Dank.
Wir gratulieren! Çok teşekkür ederiz!
Warum der Putsch höchst wahrscheinlich ein Schein-Putsch war, muss nicht wiederholt werden. Die Indizien sind hinlänglich bekannt. Es genügt hier allein der verräterische Hinweis aus dem Film:
„Alles beginnt mit einer Handvoll Soldaten.“
Eine Handvoll Soldaten
als zu allem entschlossene Putschisten:
Toll!! Das macht Eindruck
und lehrt die putscherprobten türkischen Militärs wahrlich das Fürchten!!
—
Wer auch nur halbwegs Ahnung von der Politik der Türkei ab den 60er Jahren hat —
wozu auch zählt, dass man/frau
- sich mit den geglückten Putschs zuvor befasste,
- die Lage vor Ort in langzeitigen Aufenthalten selbst erlebte und
- Türkisch kann, um die Stimmung und die diversen Quellen überhaupt selbständig und unabhängig recherchieren zu können!! —,
der hatte an der AKP-Version schon am Putschtag Zweifel…
—
Bemerkenswert an Dündars Beitrag sind daher nicht die gezeigten (!) Vorgänge auf der (einen) Bosporus-Brücke. Die sind ohnehin dokumentiert und (zumindest in der Türkei) wohl bekannt.
Auch die Behauptung, es handle sich in der vorgelegten Rekonstruktion des Putschablaufs um
„exklusive Recherchen“
ist dreist gelogen. Das Material ist bekannt.
Bei den Vorgängen auf der Brücke handelt sich um Aufzeichnungen von Überwachungskameras. Dass die Brücke Tag und Nacht unter Dauerbeobachtung steht, weiß jeder (Türke).
Das ließe sich für Inszenierungen doch herrlichst nutzen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Und die AKP ist hervorragend in der Propaganda!
—
Fazit: Der Film ist in seiner politischen Botschaft nur Verarsche für des Denkens Unwillige. Nichts besonderes also.
Bemerkenswert allein — weil herrlich entlarvend — aber sind die dümmlich-kläglichen Kommentare des damaligen deutschen Botschafters Martin Erdmann:
„Das war für uns alle ein Ereignis, das in unseren kühnsten Träumen, Albträumen nicht hätte stattfinden können.“
und des damaligen Spiegel-Türkei-Korrespondenten Maximilian Popp:
„Wenn man verstehen will, was in dieser Nacht in der Türkei vor sich ging, dann muss man auf diese Brücke schauen.“
Naiver geht’s nicht!
Die Vorgänge auf der einen Brücke waren für Sieg oder Niederlage des Putschs völlig irrelevant!! (Auf der zweiten Brücke fand Putsch überhaupt nicht statt.) Außerdem: Ein paar wenige Soldaten — noch dazu die Unerfahrensten der Unerfahrenen, die Dümmsten der Dummen: zum Schlachten auserkorene Opferlämmer — Die gegen den Mob der Straße. Klar, wie das ausgeht!!
Die sofort einsetzende Handy-Foto-Video-Flut der Gegenbewegung — ausgelöst durch Erdoğans eigene Handybotschaft als Initial — lieferte denn auch früh schon die heldenhafte Staffage für die nachfolgende Erzählung: Den triumphalen Sieg der (guten) von den Moscheen aus (!!) zum Märtyrertod aufgeputschten AKP-Huldiger gegen die (böse) Gülenisten-Minderheit, die der AKP den demokratisch errungenen Sieg stehlen will…
Alles höchst durchsichtig.
Zur Erinnerung: Schon 1998 legte der kommende Sultan die Strategie fest:
„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.“
Und auch wie er die Macht zu übernehmen gedenke, sprach er in aller Öffentlichkeit aus:
„Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten“.
Besonderes Augenmerk galt und gilt dabei dem (weil am leichtesten formbaren) Nachwuchs: Ne güzel şehit olmak! (Wie schön, Märtyrer zu werden!) wird jedem Schulbuben bereits eingebläut.
Bestens vorbereitet kam so der Tag des inszenierten Pütschchens, der Tag des Geschenks, um die sukzessiv aufgebaute Volksarmee der Gläubigen wachzuküssen, die Ernte einzufahren und den totalen Sieg für Allah und seinen Sultan endlich zu verkünden.
Allāhu akbar!
—
Und was die Gewaltorgie anbelangt:
auch die kam alles andere als unvorhersehbar. Türkische Medien und ihre Konsumenten lieben drastische Bildsprache; je blutiger, desto stimulierender. Voll Genuss werden Leichen mehrmals in Nahaufnahme herangezoomt und (mindestens dreimal hintereinander) in Miniserie gezeigt und das mehrmals pro Stunde, auf allen Kanälen, aus diversen Perspektiven, um ja kein Detail auszulassen. Türken leben mit und in dieser Bilderflut. Die Texte sind darauf abgestimmte Aufputsch-Begleitmusik. Die Botschaften sind wenig differenziert und ebenfalls extrem blutrünstig. — Beispiel aus der Presse: Blut kann nur mit Blut reingewaschen werden. — Beispiel aus einer AKP-Veranstaltung: Sie werden im Blut schwimmen… — Dies ist Alltag. Auch der heldenhafte Kampf gegen die PKK — jeder Kurde: ein PKK-Aktivist, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist — ist jedem Türken Herzensangelegenheit. Foltervideos der (Para-)Militärs kursieren im Netz und werden stolz verbreitet und gelikt. Wer will, kann auch beim Köpfen zusehen. Die Mehrheit der türkischen Familien kennt Folter ohnehin aus eigener Erfahrung. In der Putschzeit 1980 wurden Hunderttausende inhaftiert und viele davon gefoltert. Mehr als hundert sind — von staatlichen Stellen bestätigt — während der Folter gestorben. Jeder Türke kennt zudem mehrere („erfolgreiche“) Mordanschläge aus seinem persönlichen Umfeld. Selbstjustiz ist Alltag: in Stadt und Land. Jeden Tag werden im Schnitt drei Frauen ermordet. Bei allen Morden geht es häufig um die Ehre. Sein Gesicht vor den andern wahren, ist oberstes Gebot. Selbst Blutrache über Generationen ist nicht ungewöhnlich. Kaum eine Hochzeit auf dem Land — und in den zunehmend verdörflichenden Städten — ohne Freudenschüsse (und dadurch Verletzte).
— Parallelen zum Leben im IS sind selbstredend rein zufällig…
Von der Gewalt überrascht sein konnten also nur Ahnungslose, Weltfremde, Sesselfurzer.
Erdmann und Popp: Was seid ihr doch für armselige Expertchen,
nur tauglich fürs Deppenfernsehen.