G. Hekmatjar: Erst Freiheitskämpfer, dann Dschihadist und jetzt Friedensgarant

Frog1(Erich Follath, Dieser nette Herr führt eine Armee von 20 000 Terroristen, Zeit, 17.11.2016, 6f)

Schlagzeile der Tagessschau vom 4.2.2017:

„UN-Sicherheitsrat nimmt afghanischen Milizenchef Hekmatjar von Terrorliste“ (Tagesschau, 4.2.2017)

 

Erich Follath, der Gulbuddin Hekmatjar zwei Mal interviewte, zeigt in seinem Artikel zum

„Comeback eines Massenmörders“

eindrucksvoll das Scheitern des Westens in Afghanistan und zugleich die Verlogenheit und das Fehlen jeglicher politischer Weitsicht/Vernunft im seit bereits nunmehr eineinhalb Jahrzehnten !! (mit für die betroffenen Staaten katastrophalen Folgen) dauernden „Krieg gegen den Terror“.

Der Artikel beginnt mit den jüngsten, unglaublichen und völlig – zumindest für naiv-dümmliche Westler – unerwarteten innenpolitischen Entwicklungen in Afghanistan: Dem Schulterschluss von Aschraf Ghani mit Hekmatjar:

„Aschraf Ghani, der demokratisch gewählte Präsident in seinem Palast zu Kabul, und Gulbuddin Hekmatjar, der Terroristenführer [von geschätzt 20.000 Mann] in seinem vermutlich nahe der Grenze zu Pakistan befindlichen Geheimsversteck, unterzeichnen feierlich einen Friedensvertrag.“

Unglaublich und völlig unerwartet kam diese Nachricht, wenn überhaupt, weil Hekmatjar, der

„»Schlächter von Kabul« […] vermutlich mehr afghanische Menschenleben auf dem Gewissen hat als jeder andere. Aber noch erstaunlicher als diese Rehabilitierung war die Reaktion darauf. Nur Human Rights Watch protestierte gegen das Abkommen und bezeichnete es als eine »Verhöhnung der Opfer«; Politiker in Afghanistan beglückwünschen den Präsidenten, auch die Staatsführer in Paris, London und Berlin zollten Beifall.

[und buckeln damit vor einem der radikalsten und brutalsten Islamisten: Der IS wird bekämpft, doch Hekmatjar wird gepriesen. Schizophrenie pur!!]

Und selbst die Obama-Regierung nannte die Übereinkunft einen »Meilenstein«, obwohl die Hisb-i-Islami auch zahlreiche Amerikaner getötet hat.“

Einst, als die Sowjetunion Afghanistan zehn Jahre lang besetzt hielt (von 1979 bis 1989), war dem Westen – insbesondere den USA – jeder willkommen, der bereit war, gegen die Besatzer zu kämpfen:

„wer gegen Moskau kämpfte, musste in den Augen westlicher Politiker ein Held sein. Ihr Held. Bei einem Deutschland-Trip warb Hekmatjar für seine Sache, Spitzenpolitiker aller Parteien empfingen [und hofierten] ihn. In US-Kongress wurden er und seine Mitstreiter gar mit den amerikanischen Gründervätern gleichgesetzt.“

Doch Hekmatjar verfolgte seine eigenen Ziele, nicht die des (explizit und exklusiv anti-sowjetisch agierenden) Westens. Ggf. ist er sogar der erste (und zugleich noch lebende !! all) der nach ihm kommenden islamistischen (Terroristen-)Führer:

„Und immer häufiger kooperierte er jetzt auch mit einem Mann aus Saudi-Arabien, der ihm an Radikalität in nichts nachstand und der zu ihm als älteren Lehrmeister aufblickte. Mit Osama bin Laden.“

Hekmatjars radikal-islamistische Vorstellungen stießen in ihrer Umsetzung, nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte (1989), jedoch selbst im Nachbarstaat Pakistan auf Ablehnung:

„Selbst die pakistanische Regierung, die Hekmatjar solange so bedingungslos unterstützt hatte, stieß sich zunehmend an seinem Extremismus.

In Islamabad begann man auf eine neue Kraft zu setzen: auf die in pakistanischen Medressen, islamischen Schulen, ausgebildeten »Koranschüler«, was übersetzt so viel heißt wie »Taliban«.“

Nachdem die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen hatten, war daher kein Platz mehr für Hekmatjar:

Hekmatjar „hatte den Machtkampf verloren, er musste fliehen. Und fand Unterschlupf im Iran.“

Mit Osama bin Laden hingegen hatten die Taliban kein Problem. Er konnte von Afghanistan aus, von den Taliban unbehelligt, operieren. Er und Hekmatjar blieben gleichwohl in Verbindung: Auch in seiner Exilzeit bezeichnete Hekmatjar bin Laden, laut Follath, als „»aufrechten Kämpfer und guten Kumpel«.“

Die weltpolitische Lage und Hekmatjars Schicksal änderten sich fundamental erst wieder nach dem verheerenden Anschlag von 9/11:

„Kaum drei Monate nach dem 11. September waren die Taliban von der Macht [in Afghanistan] vertrieben, die USA hatten in Kabul die dem Westen wohl gesinnte Regierung um Präsident Hamid Karsai installiert. Der Iran, an dem Sturz der Islamisten und an guten Beziehungen mit den Nachbarn interessiert, wies Hekmatjar an, Teheran zu verlassen.

Die Amerikaner versuchten jetzt, ihn [Hekmatjar] mit allen Mitteln auszuschalten.“

Doch das misslang.

„Später brüstete er [Hekmatjar] sich in einem Video aus dem Untergrund damit, den [sic] [al-]Kaida-Chef in einer dramatischen Aktion zur Flucht aus den Berghöhlen von Tora Bora verholfen zu haben.“

Doch erneut unterlag der nach Afghanistan zurückgekehrte Hekmatjar den

„besser formierten Taliban [. Sie] wurden zur dominierenden Kraft im Untergrund; sie kündigten ihr Zweckbündnis mit Hekmatyar auf.

Hekmatjar entschloss sich [daher] zu einer neuen Doppelstrategie: Er spaltete seine Gottespartei, in einen militärischen und in einen politischen Flügel. Seit Beginn dieses Jahrzehnts [bereits] können Hisb-i-Islami-Mitglieder fürs Parlament kandidieren und auch Regierungsämter annehmen“.

Es bleibt abzuwarten, ob aus dem „Schlächter von Kabul [… nun tatsächlich der] Schlichter von Kabul“ wird…

(alle Zitate von S. 7; im Original keine Hervorhebungen)

Frog4

R. Martin: Die (schizophrene) Gutmenschperspektive

Frog1(Ralph Martin, Im Herzen des Unverständnisses, In der Übersetzung von Tobias Rüther, FAS, 20.11.2016, 47)

(Susan Neiman, Die Quelle allen Unglücks?, Zeit, 27.10.2016, 49)

Der (amerikanische) Gutmensch Ralph Martin schreibt über seinen Besuch in seiner Heimatstadt Granville, Ohio, am 4. Juli 2016:

„Die Granville Coffee Company“ nennt man auch den „Christian Coffee Place“, weil die Rechte evangelikale Christen hingehen und unter Bibelsprüchen aus dem Alten Testament sitzen um eine Bibel, die auf einem Tisch in der Mitte auslegt. Einige Wochen nachdem ich wieder zuhause angekommen war, bin ich ihr her gegangen. Zwei Sechzigjährige weiße Männer unterhielten sich darüber, wie blöd die Europäer wären, so eine riesige Zahl Muslime in ihre Länder zu lassen. Weil das ja nur Terrorismus mit sich bringen könnte. Es war der Tag, nachdem ein Terrorist auf der Promenade von Nizza mit einem Lastwagen 86 Menschen getötet hatte. Wenn man zu blöd ist, sagten die beiden Männer, dann muss man ja damit rechnen, dass sowas passiert. Ich sah zu, dass ich weiterkam, und habe meinen super heißen Kaffee so schnell getrunken, dass ich mir den Mund verbrannte.“

Es ist diese Einstellung: des Rückzugs, Einigelns und Aufgehens in der eigenen Komfortzone, die die Spaltung der Gesellschaft – hier die Gut-Herren, dort die minderwertige Plebs – vorantreibt…

Man/frau streiche in folgendem Zitat das Wort Heidegger und ersetze es durch Der Gutmenschen (oder ein anderes x-beliebiges Subjekt), schon wird das hier vorliegende Denkmuster(-Stereotyp) sichtbar:

Heideggers Verachtung der Öffentlichkeit ist nur ein Beispiel dafür, wie sich elitäres Denken [überhaupt] bedroht fühlt.“ (Neiman; imOriginal keine Hervorhebung)

Martin sollte von Kittlitz lesen (siehe: Forderung nach Selbstkritik)…

Doch ich fürchte, Martin und seine Freunde fühlen sich Leuten wie den beiden Sechzigjährigen, von denen Martin erzählt, intellektuell und moralisch so (pseudo-göttlich) überhoben, dass von Kittlitz‘ Forderung nach Reflexion der eigenen (Über-Ich-)Position für sie a priori ausscheidet: von ihnen (als den, wie sie sich wohl-fühlen, Wahrern von Gut und Schön) als unerhört zurückgewiesen wird… ((Sie sind und bleiben in ihrer Höhle, im System 1 verfangen…: Geben (sich und allen andern) aber vor, frei zu sein…

Frog4

 

Nicolas Hénin: Entstehung und Bekämpfung des IS

Frog1(Nicolas Hénin, Der IS und die Fehler des Westens. Warum wir den Terror militärisch nicht besiegen können. Aus dem Französischen von Sandra Schmidt. Zürich, 2016)

(James Wright, 10 Years After ‚Mission Accomplished,‘ the Risks of Another Intervention, The Atlantic online, 1.5.2013)

(Deniz Yücel, Gute Kurden, böse Kurden. Wer ist Terrorist?, WELT online, 24.2.2016)

Nicolas Hénins Ziel:

„zu zeigen […], dass die Radikalisierung das Ergebnis von Gewalt und Unterdrückung ist. Wenn Gewalt eine Radikalisierung in Gang setzt, müsse es umgekehrt helfen, eine Entradikalisierung zu erzeugen, sofern man der Bevölkerung mehr Sicherheit bietet.“

Doch dieser Aspekt des nation (re-)building wird nur an wenigen Stellen aufgegriffen. Richtlinien für eine Politik, die auf die Wiedergewinnung von Sicherheit zielt, fehlt völlig.

Das Buch wird der Komplexität des Themas nicht gerecht. Zum einen wird al-Assad pauschal als das schlechthin Böse dargestellt. Zum andern wird auf die Verwicklung der Geheimdienste (insbesondere der CIA) und die höchst ambivalente Rolle einiger Schlüsselländer (insbesondere der Türkei) viel zu wenig/nicht ausreichend eingegangen. Zudem wird die Bedeutung der Freien Syrischen Armee (FSA) als Entradikalisierungsinstrument überzogen, extrem positiv dargelegt, ja völlig unrealistisch aufgewertet. Das ist schade. Denn dadurch verliert das Buch insgesamt an Aussagekraft. Dasselbe gilt für die im letzten Satz des Buchs als Imperativ vorgetragene Gutmenschenideologie, der zufolge

„die Flüchtlinge […] unsere wichtigsten Verbündeten [seien], wenn es darum geht, unsere Jugendlichen davon abzuhalten, sich in das Abenteuer des Dschihad zu stürzen!“ …

Gleichwohl: Das Buch bietet viele Hintergründe, um die Gemengenlage im Irak und in Syrien angemessener, weit detaillierter als in den meisten Darstellungen bislang verstehen zu können.

(Einige) wichtige Aussagen des Buchs:

Das Versagen der US-Amerikaner: Dumm, dreist und völlig naiv

Es ist zweifelsfrei erwiesen, dass die USA sofort nach dem Anschlag von 9/11 daraufhin arbeiteten, (u.a.) den Irak und Syrien von ihren „Despoten“ zu „befreien“. Dies wissend, ist nicht nachvollziehbar, dass die (nachfolgend genannten) Äußerungen von Hamdane Ammar als „Hirngespinste“ abgetan werden. Denn de facto ist es tatsächlich so, dass „die Amerikaner […] den Irak den Schiiten übergeben haben [… und nun] versuchen […] Syrien in die Hände der Sunniten fallen zu lassen.“ (15) Denn darauf läuft vor allem die Destabilisierung und Neuordnung Syriens faktisch zu. Allerdings ist hierbei anzumerken, dass der damals amtierende „amerikanische Präsident George W. Bush [ein Primitivling, der die Welt manichäistisch-pauschal in Gut und Böse einteilte und…] den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten [zumindest zur Zeit des Einmarsches in den Irak gar] nicht kannte.“ (98f) !! Wie in Afghanistan alle Kräfte unterstützt wurden, die seinerzeit gegen die russische Okkupation ankämpften/vorgaben anzukämpfen, wurden auch im Irak und in Syrien die Kräfte als „gut“ und vorbehaltlos unterstützenswert angesehen, die gegen die „bösen, bösen“ Diktatoren (durch die CIA) mobilisierbar waren/aufgewiegelt/rekrutiert werden konnten.

Dem Westen – auch den USA?? – wird von Hénin andererseits pauschal vorgeworfen, bei der „Vermarktung des syrischen Regimes als Verteidiger der Christen“ (16) durch al-Assad unkritisch mitzuspielen. Hénin versucht nachzuweisen, dass Yassin al-Haj Saleh Recht hat, wenn er behauptet: „Das Regime benutzt den Laizismus [lediglich] als Instrument, als etwas, das es dem Westen anbieten kann“. (19) Dass aber Verfolgung und Ermordung von Minderheiten (Alawiten, Christen…) definitiv erst nach Ausbruch des Aufstands gegen al-Assad zu beobachten sind, blendet der Autor aus. Auf der einen Seite schließt sich Hénin der Aussage des „Wissenschaftler[s] Aymenn Jawad al-Tamimi“ (127) an, der behauptet, dass nichts darauf hinweise, „dass es eine von den militanten Islamisten organisierte Kampagne zur Verfolgung der Christen in Syrien gäbe“; (128) auf der anderen Seite zitiert er

„die folgende Prophezeiung, die Abu Mussab al-Sarkawi zuteilwird: »Die Flamme wurde im Irak entzündet, und sie wird – mit der Erlaubnis Gottes – immer größer werden, bis sie die Armeen der Kreuzfahrer in Dabip [= Apokalypse] verbrennt.«“ (136)

Gerade durch letzteres Zitat aber ist die Stoßrichtung des IS eindeutig vorgegeben: Er behauptet, den Kampf gegen die Kreuzfahrer wieder aufgenommen zu haben und propagiert/reklamiert für sich, den Endkampf hin auf den prophezeiten endgültigen Sieg des sunnitischen Islam über die Ungläubigen zu führen.

Vorab jedoch gelte es, vor allem die Abtrünnigen zu bestrafen: „Überhaupt lautet der Wahlspruch des Islamischen Staates: »Neun Kugeln für die Abtrünnigen, eine Kugel für die Kreuzritter.«“ (165)

Das aber ist nur ein Grund/eine Rechtfertigung für all die Anschläge gegen die Schiiten… (s.u.)

IS und al-Assad

Hénin schließt sich zudem der Behauptung von Abdullah Abu Moussab al-Souri an: „der Islamische Staat war weitgehend vom syrischen Regime unterwandert.“ (35) Daher habe sich, so Hénin, der „Islamische Staat [… auch] so gut wie nie direkt dem Regime entgegengestellt.“ (36) Selbst wenn dem nicht so ist, so gilt: Dass „Baschar al-Assad […] kein Interesse an dessen [des IS] Verschwinden haben kann, würde dies doch zugleich das Ende einer sehr nützlichen Drohkulisse bedeuten.“ (43)

Fortschreibung der Gespenst-Erzählung des Aufstands der Knechte gegen ihre Herren

Die Aufständischen stammten „aus den ärmsten, meist ländlichen Gebieten und den wenigen Industriestädten im Zentrum. In jedem Fall bestimmt vor allem der Herkunftsort, ob man sich der Regierung oder der Revolution verpflichtet fühlt.“ (65) Dem gegenüber stehen

die „Machthaber [von…] Aleppo und Tartus [… und einigen Stadtteilen von] Damaskus. Sie können sich auf die Treue der Alawiten, der meisten Christen und vieler Geschäftsleute verlassen. Aber sie haben es sich mit der Bevölkerungsmehrheit der Sunniten verscherzt.“ (65)

Dieses Weltverständnis „eine[r] breite[n] Verschwörungstheorie der Starken gegen die Schwachen, [… einem] Märtyrertum der Muslime […] und […] Anprangern des medialen Diskurses, der ihrer [der IS-Aktivisten] Meinung nach mit zweierlei Maß messe“, bestimme die IS-Perspektive. (174)

Zufluchtsort al-Nusra und IS

Die Revolution wird daher als ein „zwangsläufiger Prozess“ der Radikalisierung dargestellt, der (auch) in „der westlichen Untätigkeit“ wurzele:

„»Wenn ihr nichts tut, um uns zu helfen, werden wir alle al-Quaida-Kämpfer.« Wie oft habe ich diesen Satz gehört“. (67)

Und weil der Aufstand zunächst hauptsächlich ökonomisch bedingt gewesen sei/ist, hätten die Dschihadisten, so Zyad Majed, „die meisten Neuzugänge [zu] verzeichnen […]. Sie hatten einfach die besten Sponsoren.“ (69) !!!

Außerdem sei vielen Syrern das ‚autoritäre Gehabe‘ des IS „lieber als die Anarchie in den von der FSA kontrollierten Gegenden.“ (81)

Wenn dem aber so ist, warum sieht Hénin dann die FSA als (sogar alleinigen) Hoffnungsträger??…

Unterschied zwischen al-Nusra und IS

Yassin al-Haj Saleh:

„der Hauptunterschied zwischen der al-Nusra-Front und dem Islamischen Staat [besteht] darin […], dass die al-Nusra zum größten Teil aus Syrern besteht und in erster Linie syrische Themen auf ihrer Agenda hat, während der Islamische Staat internationale Ziele verfolgt und aus zahlreichen Muhajirin [Mudschahedin sind die zugewanderten, nicht syrisch-stämmigen Kämpfer…] besteht.“ (71)

Zwischen al-Nusra und IS bestehe insofern eine „Konkurrenzbeziehung“!! (109)

Entstehung und Erstarken des IS

Der Dschihadismus ist ein junges Phänomen. „Der Dschihadismus existierte im Irak erst mit der Bedrohung durch die Vereinigten Staaten.“ (97) Aus politisch-religiöser Unkenntnis der Region wurden nach dem militärischen Sieg über Saddam Hussein im nation re-building zwei eklatante Fehler begangen:

Es waren „zwei frühe Entscheidungen des Zivilverwalters Paul Bremer, die die Geburtsurkunde für die Aufstände im Irak besiegelten. Es handelt sich um Entscheidungen in Form von Kolonialverordnungen, so genannten executive orders.

Nummer eins: Auflösung der Baath-Partei und Ausschluss all ihrer Mitglieder aus der Verwaltung. Nummer zwei: Zerschlagung der irakischen Armee.“ (101)

Die Umpolung im irakischen Machtapparat – Aufbau und Ermächtigung einer schiitischen Elite bei gleichzeitiger radikaler Entmachtung der bisherigen sunnitischen Kräfte – führte dazu, dass sich die sunnitische „Bevölkerung [… als] von den Sicherheitskräften des eigenen Landes besetzt“ empfand/empfindet (111) !! und sich eine von den Sunniten zumindest tolerierte „fanatisch anti-schiitische Bewegung [etablierte]. Der Einfluss des irakischen Ablegers von al-Quaida, geführt von Abu Mussab al-Sarkawi, tritt [dabei] deutlich zu Tage.“ (103)

„Der Sprengstoffanschlag auf den al-Askari– Schrein, die »Goldene Moschee« der Schiiten in Samarra, am 22. Februar 2006[,] löste eine Welle umfangreicher Repressionen aus.

Zur Erinnerung:

On May 1, 2003, just six weeks after the invasion of Iraq began, President George W. Bush landed on the USS Abraham Lincoln and declared „Major combat operations in Iraq have ended.“ When he spoke on the carrier someone had placed a banner behind him that declared „Mission Accomplished.““ (Wright, 1.5.2013)

Hénin kommentiert trocken und präzise:

„Der Irak gleitet [sodann] in den Bürgerkrieg ab. Die amerikanische Armee ist [völlig] ratlos, verzichtet darauf, sich zwischen die Fronten zu stellen und begnügt sich damit, immer mehr Mauern durch die Stadt zu ziehen.“ (103)

Das von den Amerikanern angestrebte nation re-buildung ist spätestens zu diesem Zeitpunkt gescheitert.

Bedrohungspotenzial der syrischen Zivilbevölkerung in Syrien durch den IS

Fadel Abdul-Ghany: „das [syrische] Regime [unter al-Assad habe] 150 Mal mehr Zivilisten getötet als der islamische Staat!“ (88) Hénin schließt sich dem an: „Die Sicherheitskräfte Syriens verüben heute bei Weitem die meisten Morde und stellen immer noch die größte Bedrohung für die Bevölkerung dar.“ (89)

Diskreditierung der PYD

Die „Milizen der PYD (Partiya Yekitîya Demokrat), die Kobane verteidigten, zu unterstützen sei moralisch fragwürdig. Denn die PYD sei der syrische Zweig der PKK,

„einer Partei mit stalinistischen Strukturen. Die PYD hat unmittelbar nach Beginn der Revolution ein Abkommen mit dem [syrischen] Regime geschlossen. Ihre Strukturen sind mafiös und autoritär. [… Zwar sei] sie weniger kriminell als der Islamische Staat […, doch] das Wohlwollen unserer Medien [habe sie nicht] verdient“. (119)

Das ist eine sehr einfache Sicht der Dinge. Die Bundesregierung (z.B.) sieht das anders:

„Die Bundesregierung sieht die syrisch-kurdische YPG nicht als Terrororganisation. Eine Einschätzung, die der türkischen Regierung nicht gefallen dürfte.“ (Yücel)

Auch in diesem Fall lässt sich keine pauschale gut:böse-Zusprechung vornehmen…

Gründe für die exzessive Gewalt(-Verherrlichung) des IS

„Eine große Zahl der Dschihadisten sind ziemlich lausige Moslems und in der Regel noch gar nicht lange dabei. Sie […] kompensieren den Umstand, dass ihr Glaube erst ganz frisch ist, mit unglaublicher Radikalität.“ (170)

Oliver Roy sei darin zuzustimmen, dass die Dschihadisten „vom Tod fasziniert“ seien – das übrigens versucht auch die AKP den jungen Türken (auch auf deutschem Boden!) einzubleuen – und bei einigen von ihnen

„eine pathologische Disposition zur Morbidität [zu] erkennen [sei]. Bei Daesh [= IS] finden sich die verlorenen, frustrierten oder marginalisierten Kinder der Globalisierung [häufig Konvertiten auf der Flucht aus ihrem bisherigen Dasein] eingehüllt in einem Gefühl der Allmacht wieder, die aus ihrer eigenen, zudem in ihren Augen legitimen Gewalt resultiert.“ (172)

Die künftigen Märtyrer „inszenieren sich als Helden in Videobotschaften, in denen sie erklären, warum sie glücklich sind[,] den Märtyrertod zu sterben.“ (173) Dazu erzogen werden freilich nicht nur die vom IS Angeworbenen. (Übrigens: Eine recht einfühlsam vorgetragene, fiktive Rekrutierungserzählung findet sich in Joakim Zanders Thriller Der Bruder. Lesenswert!) Doch in allen islamisch dominierten Ländern, so auch in Erdoğland wird (durch Diyanet/Ditib) verkündet: Ne güzel şehit olmak!

Diese Märtyrer-Vollzug-Botschaften lassen sich (auch) als Fragmente eines in sich geschlossenen Heldenepos (wie z.B. der Ilias) lesen, indem die Täter selbst – und nicht mehr ein Geschichtenerzähler (z.B. der meddah in Orhan Pamuks Krimi Rot ist mein Name, Kap. 56) – als Erzähler ihrer eigenen Geschichte, als Legendenbildner auftreten.

Vorschläge zur Bekämpfung des IS

„Wenn man den Islamischen Staat auf seine Ausgangslage als Sekte zurückführt, holt man ihn gleichzeitig von seinem Sockel und nimmt ihm das Etikett der »terroristischen Supertruppe«, das seinem eigenen Idealbild entspricht und das auf unsere Regierungen im anzuheften versuchen“. (176)

„Der Islamische Staat hat eine Legende konstruiert und wir kaufen sie ihm ab. […] Bei jedem Ausbruch barbarischer Gewalt sind unsere Medien schnellstens zur Stelle und kommen so dem Wunsch des Islamischen Staates entgegen, sich in unsere Agenda zu drängen.“ (177)

Die Dschihadisten „wollen, […] dass wir in ihre Eskalation einsteigen, dass wir aufhören nachzudenken und dass wir glauben, Gegengewalt sei die einzig mögliche Antwort auf Gewalt.“ (194) „Wichtiger noch als die Ausschaltung der Terroristen ist es [daher], ihre erfolgreiche Propaganda zu zerstören.“ (195)

Hénin empfiehlt zudem, „einen »legalen Dschihad« zu erfinden […:] Ein humanitäres, soziales oder sonst wie geartetes Engagement“. (180)

Frog4

„Citizenfour“ – Auszüge aus Snowdens Stellungnahmen

Frog1Citizenfour ist das Pseudonym, unter dem Edward Joseph „Ed“ Snowden im Januar 2013 sein erstes Mail an Laura Poitras (die Regisseurin des Films) schickt. (Deutsche Bearbeitung: a&o buero filmproduktion; koproduziert von BR und NDR)

Der gleichnamige Film ist der letzte Teil von Poitras‘ „Trilogie über Amerika nach dem 11. September.“ (Der 1. Teil handelte vom „Irak-Krieg“; im 2. „Film ging es um Guantánamo und den Krieg gegen den Terror.“)

Da der Film demnächst nicht mehr auf den Seiten der ARD im Internet abrufbar ist, hier Auszüge aus den in den Film einbezogenen, von Poitras gefilmten Interviews von Glenn Greenwald mit Snowden in Hongkong während der „Zusammenkunft, die insgesamt acht Tage“ dauerte, in der Zeit kurz vor, während und nach den ersten Veröffentlichungen.

3.6.2013

„Zunächst mal, und ich glaube, das habe ich online [in den Mails an Poitras] mehrfach erwähnt, ich finde, dass die modernen Medien zu sehr auf Personen fixiert sind.“

„Ich befürchte, je mehr wir uns auf mich konzentrieren, desto mehr nutzen sie das zur Ablenkung. Das ist nicht unbedingt in meinem Sinne. Und deshalb habe ich immer gesagt, dass ich nicht die Story bin.“

„Ich werde alles tun, was ich kann, um Ihnen bei der Veröffentlichung zu helfen. Ich habe keine Erfahrung mit den Medien. Das muss ich jetzt erst lernen.“

„Für mich geht es letztlich um die Macht des Staates im Vergleich zu den Möglichkeiten des Volkes, sich dieser Macht zu widersetzen. Ich sitze da jeden Tag und werde dafür bezahlt, Methoden zu entwickeln, um die Macht des Staates zu stärken. Und mir wird klar, wenn sich die Politik verändert, die als einzige den Staat im Zaum hält, dann gibt es keinen Widerstand mehr. Dazu müsste man schon ein absolutes technisches Genie sein. Ich weiß nicht, ob sich noch irgendjemand, egal wie begabt er ist, all diesen Behörden und schlauen Leuten widersetzen könnte. Nicht mal gegen die mittelmäßigen Leute und ihre Hilfsmittel kommt man an. Ich habe gesehen, dass die Versprechungen der Obama-Regierung verraten und verworfen wurden. Man entwickelte die Dinge sogar noch weiter, von denen man versprochen hatte, sie einzudämmen und zu zügeln. Es wurde schlimmer; vor allem die Drohnenangriffe. Das habe ich bei der NSA gelernt. Wir sahen am Schreibtisch Drohnenvideos. Das hat mich in meinem Entschluss bestärkt.“

„In Echtzeit, ja. Die Videos wurden in niedriger Qualität gestreamt. Meistens waren es Überwachungsdrohnen, keine Morddrohnen, die Bomben abwerfen. Aber die Drohne kreiste stundenlang über einem Haus. Man wusste nicht, bei wem. Wir kannten den Zusammenhang nicht. Aber es gab eine Seite mit einer langen Liste von Drohnenzielen, in vielen Ländern unter verschiedenen Codenamen. Man konnte jeden Stream anklicken, den man sehen wollte.“

„Ich weiß noch, wie das Internet war, bevor es überwacht wurde. Das war einmalig in der Menschheitsgeschichte. Kinder am einen Ende der Welt führten eine gleichberechtigte Diskussion, in der ihre Ideen absolut respektiert wurden, mit Experten am anderen Ende der Welt, zu jedem Thema, überall, jederzeit, immer, frei und unbeschränkt. Jetzt sehen wir den schleichenden Verfall dieses Modells. Die Leute zensieren jetzt ihre eigene Meinung. Sie machen Witze darüber, dass sie auf der Liste landen, wenn sie für ein politisches Ziel spenden oder wenn sie diskutieren. Wir erwarten schon, dass wir beobachtet werden. Viele Leute sagen mir, dass sie aufpassen, was sie in eine Suchmaschine eintippen. Sie wissen, dass das protokolliert wird. Das ist eine intellektuelle Einschränkung. Ich bin eher bereit, eine Haftstrafe zu riskieren oder andere negative Auswirkungen für mich selbst als dass ich bereit wäre, meine geistige Freiheit einschränken zu lassen oder die geistige Freiheit meiner Mitmenschen, die mir genauso wichtig sind wie ich selbst. Das heißt nicht, dass ich mich aufopfern will. Denn ich als Mensch fühle mich gut dabei, wenn ich zum Wohle anderer beitragen kann.“

4.6.2013

„Aber es gibt eine Infrastruktur in den USA und auf der ganzen Welt, die von der NSA in Kooperation mit anderen Regierungen errichtet wurde. Damit wird im Prinzip jegliche digitale Kommunikation aufgefangen, alle Funkverbindungen und auch analoge Verbindungen, für die es entsprechende Sensoren gibt. Durch diese Infrastruktur ist es möglich, den weitaus größten Teil der menschlichen Kommunikation und der Kommunikation von Computer zu Computer, die ja auch Beziehungen zwischen Menschen herstellt, automatisch aufzufangen, ohne das gezielt tun zu müssen. Dadurch kann jemand Ihre Kommunikation im Nachhinein durchsuchen auf Grundlage einer Selbstbefugnis. Ein Beispiel: Wenn ich wissen möchte, was in Ihren E-Mails steht, oder was Ihre Frau am Telefon sagt, dann brauche ich nur einen sogenannten Selektor, irgendein Element in der Kommunikationskette, mit dem Sie eindeutig oder fast eindeutig zu identifizieren sind. Das sind E-Mail-Adressen, IP-Adressen, Telefonnummern, Kreditkarten oder auch Passwörter, die außer Ihnen niemand benutzt. So etwas gebe ich ins System ein, und die Datenbank sagt nicht nur, ob es in der Vergangenheit irgendwo auftauchte, sondern es gibt noch eine weitere Stufe der Überprüfung. Die reicht in die Zukunft. Wenn das in Zukunft irgendwo auftaucht, dann will ich in Echtzeit darüber benachrichtigt werden, dass Sie mit jemandem kommunizieren.“

„Ich werde den Kontakt zu meiner Familie nicht in dem Maße weiterführen können, wie ich es mein Leben lang getan habe, sonst würde ich riskieren, sie mit hineinzuziehen.“

„Je enger mein Kontakt zu meinen Angehörigen ist, desto eher wird man sie bedrängen.“

„Aber einige Dokumente sind zu Recht als geheim eingestuft. Sie könnten Menschen und Methoden kompromittieren. Ich bin froh, dass ich technisch in der Lage bin, sie zu schützen. Selbst wenn man mich foltert, würde ich das Passwort nicht preisgeben. Dazu bin ich in der Lage. Es gibt Journalisten, die das wohl auch tun könnten. Viele andere könnten es nicht. Aber die Frage ist ja: Kann eine Organisation diese Informationen kontrollieren, ohne eine unkontrollierte Offenlegung zu riskieren. Aber ich bin einverstanden. Ich will nicht entscheiden müssen, was öffentlich wird und was nicht. Deshalb veröffentliche ich das alles nicht selbst, sondern durch die Presse. Damit halte ich meine Befangenheit und meine eindeutige Meinung aus der Sache raus. Und das öffentliche Interesse wird besser berücksichtigt.“

„Übrigens, da Sie ja geographisch mit Großbritannien vertraut sind, der britische Geheimdienst besitzt wahrscheinlich das invasivste Abhörsystem auf der ganzen Welt. Es heißt Tempora, die weltweit erste Totalspeicherung, Inhalte und Metadaten von allem.“

5.6.2013

„Das zweite Archiv konzentriert sich vor allem auf die SSO.“

“SSO steht für Special Source Operations. Das ist die weltweite passive Datensammlung in den Netzen, sowohl in den USA als auch international. Es gibt verschiedene Methoden. Die Arbeit mit Partnerfirmen ist eine der wichtigsten. Sie tun es mit Inlandsfirmen und mit Multis, die ihre Zentrale in den USA haben. Man kann sie zwingen oder für den Zugang bezahlen. Und sie tun es bilateral mit der Unterstützung bestimmter Regierungen. Das geschieht nach dem Motto: Wir helfen euch beim Aufbau des Systems, wenn ihr uns alle Daten gebt. Hier steckt vielmehr drin, als eine Person oder Team bearbeiten kann. Gut. Über X-keyscore und dessen Funktionsweise gibt es einen riesigen Ordner. Es ist das Frontend-System für die Analyse des Ozeans von Rohdaten, von denen ich sprach. Damit ist die nachträgliche Suche möglich, Live-Suche, Flagging usw. X-keyscore ist das Frontend dafür.“

„Ich hatte darüber gesprochen, dass die Möglichkeiten im Laufe der Zeit immer ausgeklügelter werden. Im Jahr 2011 konnten 1 Milliarde Telefone und Internetverbindungen gleichzeitig mit einer solchen Anlage überwacht werden. Und die Datenrate betrug 125 Gigabyte pro Sekunde, das ist 1 Terabit. Mit jeder einzelnen Anlage, ja.“

„Damals gab es 20 Standorte, zehn in Einrichtungen des Verteidigungsministeriums. Allerdings ist das alles veraltet. Wir haben ziemlich schnell expandiert, aber 20 Standorte das sind mindestens 20 Milliarden.“

7.6.2013

„Es geht auch um ein selbst entwickeltes Tool namens UDAQ. Das ist die Suchmaschine für alles, was sie sammeln. Es geht auch um Projekte und Problemlösungen für bestimmte Tools.“

„Sobald es in den Berichten um mich geht, was jeden Tag der Fall sein kann, werde ich meine Identität preisgeben. Ich werde sagen: Hier geht es nicht darum, dass sich jemand verstecken will. Die Probleme betreffen das ganze Volk. Sie gehen jeden von uns an. Ich habe keine Angst vor euch. Ihr könnt mich nicht einschüchtern wie alle anderen. Wenn es sonst niemand tut, dann tue ich es. Was auch immer ihr mit mir macht, nach mir tut es hoffentlich jemand anders. Das ist das Internetprinzip der Hydra. Eine Person kann man zerstampfen, aber dann kommen sieben weitere von uns.“

„Ich habe mich schon an den Gedanken gewöhnt und mach mir keine Sorgen. Wenn jemand die Tür eintritt, werde ich plötzlich nervös, aber bis dahin, ich weiß nicht. Ich esse ein bisschen weniger. Das ist wohl der einzige Unterschied.“

„Ich will mich nicht verstecken, das seh‘ ich nicht ein, auch wenn die Umstände dafür sprechen. Ich finde es ist ein starkes Signal einfach zu sagen: Ich habe keine Angst. Andere sollten auch keine Angst haben. Ich habe letzte Woche noch neben euch im Büro gesessen. Das geht uns alle an. Es ist unser Land. Das Machtverhältnis zwischen Bürgern und Regierung wird allmählich das von Herrschern und Beherrschten, nicht mehr das von Gewählten und Wählern.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich überhaupt nicht enttarnt werde. Es ist eine Frage der Zeit. Ich glaube nicht, dass es lange dauert. Ich habe meine Spuren nicht verwischt. Denn ich hatte immer vor, mich zu outen.“

Frog4