Glücksversuche einer „Glücksphilosophin“

Zu Ariadne von Schirachs Buch Glücksversuche: Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen

Will man/frau wissen, auf welch geistigem Unterst-Niveau sich Ariadne von Schirachs jüngstes in Buch gepresstes Gelaber über das Glück bewegt, so genügt ein Blick in Richard Herolds Lobhudelei auf Kulturzeit, ausgestrahlt am 10.1.2022. (https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/sendung-vom-10-januar-2022-100.html)

In seinem Beitrag entblödet sich Richard Herold (RH) zu folgenden Aussagen gewürzt mit Einsprengseln irgendwelcher Zufalls?-Passanten und den Antworten der „Philosophin“ (AS):

RH „Mit dem Glück beschäftigt sich die deutsche Philosophin und Autorin Ariadne von Schirach. Sie kennt sich bestens damit aus, ergründete in einer wöchentlichen Kolumne, was uns glücklich macht. Diese Texte hat sie in ihrem aktuellen Buch zusammengefasst.“

Philosophisches Fragen ist wohl kaum eine nationale Angelegenheit. Insbesondere wird das Glück sich wohl kaum nach nationalen Belangen differenzieren: als deutsches, schweizerisches usw. Glück. Die Dummheit des Attributs deutsch zeigt sich schon darin, dass im Beitrag Passanten mit Schweizer Akzent, also Nicht-Deutsche zu Wort kommen. Zudem könnte die Kennzeichnung deutsch eine Nazi-Nähe suggerieren, die der Autor garantiert nicht intendiert. Damit aber nicht genug der Dummheit.

Eine Philosophin ist für Herold jemand, der sich bestens auskennt, eine Expertin also, im vorliegenden Fall eine Expertin für Glück. Eine Philosophin ist also eine Glücksexpertin. — Ginge es um Mäusezucht, gäbe es nach Herold dem Scharfsinnigen wohl auch Mäusezucht-Philosophen und -Philosophinnen.

Das Zusammentragen von Texten und das Publizieren dieser in Buchform: welch höchst philosophische Tätigkeit, preisverdächtig. Ob dieser Großtat sollte das Philosöphchen für den Ἄξιον ἐστίν 2022 nominiert werden. — Ob von Schirach bei der Textanordnung wohl ähnlich genial vorgegangen ist wie die Macher des Koran? Anordnung der Texte nach Anzahl der Wörter? Der Text mit den meisten Wörtern zuerst, der mit den wenigsten zuletzt? Inhalt: Nebensache. Logische Stringenz: Unwichtig.

AS „Glücklich machen uns Naturerfahrungen und glücklich macht uns inneres Wachstum. All diese Dinge sind nicht konsumierbar, aber sie sind erfahrbar und sind eine belastbare Antwort auf die Frage nach dem Glück und nach dem Sinn. Und Glück erscheint uns dann eher als etwas, das uns zufällt, eine goldene Zeit, eine wunderbare Begegnung, eine Liebesgeschichte und so weiter.“

Was ist das denn, inneres Wachstum? Ein Ding gar? Ein nicht konsumierbares Ding: Was soll das denn sein? Ob Philosöphchen dabei an Descartes gedacht hat (res cogitans vs. res extensa)? Welch Ding-Begriff liegt da zugrunde? Doch ist dies nicht geklärt, kann die Antwort nicht belastbar sein. Schon mal vom Satz vom Grund gehört? Leseempfehlung für Philosöpchen: Heideggers Vorlesungsskript Der Satz vom Grund.

Noch so ein nicht näher erläutertes Ding: die hingeworfene Nominalphrase eine wunderbare Begegnung. Was heißt hier wunderbar? Inwiefern können Begegnungen wunderbar sein?

RH „Also doch alles eher Zufall? Nur bedingt, sagt die Autorin. Glück kann erarbeitet werden.“

Und wie soll diese Arbeit am Glück aussehen?

AS „Die Idee ist, ein zufriedenes Leben zu führen und dadurch das Glück anzulocken. Und ein zufriedenes Leben zu führen bedeutet sich zu kennen, sich anzunehmen, aber auch sich zu erziehen, weil wir selber sind oft unser schlimmster Feind. Und die Suche nach dem Glück beginnt damit, sich selbst ein Freund zu werden.“

Das klingt nach den Weisheiten aus Zeitschriften wie Die Bunte. Trost für die Dummen, die sich mit dem Gelaber anderer zufrieden geben, weil sie zu denkfaul sind, um selbst „die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen“. (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, https://www.marxists.org/deutsch/philosophie/hegel/phaenom/vorrede2.htm) Und so treffen sich denn von Schirachs Leser und ihr Philosöphchen in wundersamer Begegnung selbstverschuldeter Unmündigkeit:

„Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

(Kant, Was ist Aufklärung? https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/159_kant.pdf)

RH „Sich selbst ein Freund sein, klingt gut. Was gehört sonst noch zum Glück? — Das vergängliche Glück, das Glück mit anderen Menschen, das Glück mit sich selbst. Ariadne von Schirach meint mit ihren Glücksversuchen aber nicht Selbstoptimierung, nicht das Ich gegen außen aufpeppen, sondern nach innen schauen und sich in Lebenskunst üben. Dabei denken wir oft, das Glück stehe uns doch zu, als Standardausstattung sozusagen für privilegierte Erste-Welt-Menschen.“

Das Glück mit anderen Menschen? Vor wenigen Tagen kam an einer Kreuzung in der Nähe unserer Wohnung ein 15jähriger auf seinem eben erst zum Geburtstag geschenkten Fahhrad ums Leben, weil er zu unachtsam war und der nach rechts abbiegende LKW-Fahrer nicht aufpasste. Soll das Glück mit anderen Menschen sein? Nach Sophokles vielleicht, dem nach nicht geboren zu werden das Beste, und wenn doch geboren worden, möglichst bald zu sterben das Zweitbeste sei. Oder ist das zynisch? Ob Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft helfen kann?

Das Glück mit sich selbst: Was, bitte schön, soll das denn sein? Ein mit sich selbst identisches Glück? Eine Frage der Evidenz? Erst der nicht vollzogene Rekurs auf den Satz vom Grund, nun eine Anspielung auf den Satz der Identität (A=A). — Immerhin das Eingeständnis, es handle sich um Versuche, Laborarbeit also, mit dem Ziel Nicht Selbstoptimierung. Immerhin: Eine definito ex negativo. Wie hübsch, Annäherung an das, was Glück ist, sprich das Wesen des Glücks durch Ausschlussverfahren. Doch lässt sich das Wesen von etwas, einem Ding gar, überhaupt ex negativo zureichend fassen? — Und dann noch ein wenig Fichte: Das Ich selbst, das sich ein Nicht-Ich entgegen setzt, um sich als Ich zu erkennen? Falls die Antwort ja ist, ist dann zu fragen: Wie, durch welchen Begriff, sind sie vereinigt oder zu vereinigen? Fichtes Anwort:

„Wir haben die entgegengesetzten Ich und Nicht-Ich vereinigt durch den Begriff der Theilbarkeit.“

(Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, http://www.zeno.org/Philosophie/M/Fichte,+Johann+Gottlieb/Grundlage+der+gesammten+Wissenschaftslehre/1.+Grunds%C3%A4tze+der+gesammten+Wissenschaftslehre/%C2%A7+3.+Dritter,+seiner+Form+nach+bedingter+Grundsatz)

Trifft dies auf das Glück zu? Ist Glück teilbar? Das Philosöphchen schweigt dazu. Ist auch besser so. Nur nicht festlegen. Für Blabla kann man/frau nicht belangt werden, für nachgewiesene Dummheit schon: Si tacuisses, philosophus mansisses — hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben (frei nach Boethius).

AS „Leute wie ich zum Beispiel sind in einer sehr privilegierten Position. Ich habe die Zeit, ich habe die Muße, ich habe den Raum darüber nachzudenken, wer ich bin, wer ich sein möchte, wer ich auf keinen Fall sein möchte, doch immer wieder werde und so weiter. Und das ist sozusagen ein Privileg, und Teil dieses Privilegs ist es auch immer daran zu erinnern, dass andere das nicht haben und sich dafür einzusetzen, das zu ändern.“

Schau an, Philosöphchen sieht sich als privilegiert. Und das zu Recht, auf mindestens vierfache Weise: (1) Nichts zustande zu bringen außer Gelaber. (2) Dieses Gelaber dann gedruckt zu bekommen — „Parturient montes, nascetur ridiculus mus“ — Die Berge kreißten und gebaren eine lächerliche Maus (Horaz) – (3) dann dafür bezahlt zu werden. (4) Und zu guter Letzt sogar noch gelobpreist werden! Wenn das nicht wahres, multiples Glück ist. — Selig sind die geistig Armen

RH „Hat die Suche nach dem Glück Selbstverwirklichung, aber heute noch eine Berechtigung angesichts von Klimaschock und Coronakrise?“

AS „Ein Glück beginnt damit, dass wir darüber nachdenken, wie wir uns selbst und den anderen und dem Leben gerecht werden, da liegt genau in der Krise die Notwendigkeit zu überlegen, was uns eigentlich wirklich glücklich macht. Ich kann Ihnen das ganz klar beantworten. Am glücklichsten machen Menschen, menschliche Beziehungen, tiefe menschliche Beziehungen. Das kostet nichts. Das kostet Zeit, das kostet Liebe, aber es kostet kein Geld.“

Doch gegebenfalls die Gesundheit oder das Leben. Tiefe menschliche Beziehungen? Zwischen Folterer und Gefoltertem?, wie sie Doğan Akhanlı in seinem Roman Fasıl beschrieb? Erlebnisse, die sein späteres Leben prägten, auf die er aber gern verzichtet hätte. Von wegen:

RH „Das Glück ist also oft nur den sprichwörtlich einen Schritt entfernt. — Zuletzt noch die Frage an die Glücksphilosophin, was sind Ihre ganz eigenen Glücksmomente?“

AS „Wenn ich mich mit einem Menschen unterhalte und austausche, wenn das Kind morgens zum Kuscheln kommt, wenn ich etwas sehr gutes zum Essen habe, wenn ich ein frisches Buch aufschlage, das ich noch nicht kenne, wenn ich in der Sauna daliege, nachdem ich mich abgekühlt habe, wenn ich das erste Mal das Meer sehe nach einer langen Zeit, beim Anblick erster Schlupf?-Vögel und Pflanzen…“

Die zufällig? befragten Passanten scheinen weiter zu sein als die von Herold zur Glücksphilosophin Gekürte. Denn sie haben erkannt: Glück ist relativ, auf die eigene Person bezogen und wird nur reflexiv bewusst und gewusst. Γνῶθι σεαυτόν – Erkenne dich selbst – lautete einer der auf dem Apollon-Tempel, der Orakelstätte in Delphi in Stein gemeißelten Sprüche.

Fazit: Statt von Schirachs Gewäsch zu konsumieren, seien aufgeklärten Menschen die Weisheiten der Sieben Weisen empfohlen. Deren Sprüche sind kurz, präzise und bedenkenswert — und zudem auch noch als Buch pekuniär wesentlich günstiger erhältlich.

Überlegungen zur Tragödie

Im Nachgang zu Flaßpöhlers Sensibilitätsgequake einige wenige Anmerkungen zur Tragödie und Tragödientheorie.* Denn gerade die Tragödie führt vor Augen, wie schon die Athener ihre – um es Flaßpöhlerisch zu sagen – Sensitivität nutzten, um zu schaffen, was Aristoteles als die Sprachhandlung, μῦθος, als Nachahmung, μίμησις, der Praxis, πρᾶξις, dessen, was vor sich geht, bezeichnet („ἔστιν δὲ τῆς μὲν πράξεως ὁ μῦθος ἡ μίμησις“, Περὶ ποιητικῆς, 1450α, ~4).** Es gilt Mythen zu schaffen („μύθους ποιεῖν“, 1449β, ~5) die nicht Nachahmung der Menschen, sondern ihres Tuns und Lebens sind („μίμησίς ἐστιν οὐκ ἀνθρώπων ἀλλὰ πράξεων καὶ βίου“, 1450α, ~16). Es geht also um das Herstellen und Gestalten von möglichst realitätsnahen Handlungsabläufen. (Aristoteles wird aufgrund seines μίμησις-Verständnisses daher gern als erster Adäquationstheoretiker bezeichnet.)

Zur Tragödientheorie

Περὶ ποιητικῆς des Aristoteles sind Reflexionen über die Poetik, keine vollständig durchkomponierte, stringent ausformulierte Gesamtdarstellung. Und erst recht sind die folgenden Ausführungen lediglich Skizzen zu Einzelaspekten von Aristoteles‘ Tragödientheorie.

Jedes ausgesprochene Machtwort beruht auf Entscheidungen. Es bewirkt Reaktionen, Handlungen, pro oder contra. Da die Reaktion bewegt/bewirkt ist, bedeutet sie auf Seite der Betroffenen πάθος, leidvolles Erleben, insbesondere dann, wenn die Forderung des Mächtige(re)n mit den Werten derer, an die die Forderung gerichtet ist, konfligiert. Doch wie immer die Reaktionen ausfallen, sie wirken auf die Mächtigen zurück. Stehen die Auswirkungen im Gegensatz zur Ausgangsintention, bezeichnet Aristoteles dies als Peripetie: Peripetie, περιπέτεια, ist der Umschlag, μεταβολή, dessen, worauf das Handeln abgezielt wurde, des ursprünglich Intendierten in sein Gegenteil („ἔστι δὲ περιπέτεια μὲν ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττομένων μεταβολὴ“, Περὶ ποιητικῆς,1452a, ~21). Aus Sicht des zuschauenden Zuhörers aber kann und soll – so Aristoteles – das Mitleiden am (schweren) Leid, πάθος (siehe insbes. Περὶ ποιητικῆς, 1452β, ~11) , οἰκτρά (siehe Περὶ ποιητικῆς, 1453β, ~14), derer auf der Bühne zur κάθαρσις, Reinigung der Psyche, ψυχή, vom Leid des Lebens führen. (Περὶ ποιητικῆς, 1449β, ~28)***

Sophokles‘ Wort, dass es das Beste sei, gar nicht erst geboren zu werden und das Zweitbeste, falls doch geboren worden, möglichst früh zu sterben (Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ, 1224ff.), gründet in der Grunderfahrung schicksalsbestimmten Lebens –: dass jede Entscheidung notwendigerweise Folgen nach sich zieht (ob man/frau dafür kann oder nicht). In dieser Grunderfahrung wurzelt die Grundstimmung von πάθος. Ödipus, der selbstgeblendete, unbehauste Exilant, spricht es kurz vor seinem Tod als Summe**** seines Lebens aus: All mein Tun ist mehr (passiv) erlitten als (aktiv) getan. („ἐπεὶ τά γ᾽ ἔργα μου πεπονθότ᾽ ἐστὶ μᾶλλον ἢ δεδρακότα“, Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ, 266f.)

Die Tragödie: das erste große Sensibiliisierungsprogramm – der Antike!

Philosöphchen Floßpöhler zum Lesen empfohlen!!

Zur Tragödie

  1. Tragödien sind ausnahmslos athenisch, nicht (gesamt-)griechisch. Tragödien haben gemeinsam, dass sie im Dionysos-Theater von Athen zur Aufführung kamen oder (wie Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ) zur Aufführung verfasst wurden. Das Attribut griechisch ist also falsch und das Attribut athenisch ist überflüssig.
  2. Aufführungsort (Dionysostheater) und Aufführungszeit (Dionysien) weisen die religiöse Bedeutung der Tragödie aus. Tragödien haben dionysischen Fest-Charakter. Gott Dionysos wird direkt (z.B. in den Βάκχαι des Euripides) oder indirekt ins Geschehen einbezogen. (So wird er in Ἀντιγόνη zur Reinigung der Stadt von gewaltiger Krankheit herbeigerufen, 1140ff.)
  3. In Tragödien werden – von einigem effekthascherischem Beiwerk zur Unterhaltung der Massen abgesehen – ernste Sprachhandlungen vollzogen. Jedes Wort ist mit Bedacht zu wählen. Und es sollte nur so viel gesprochen werden wie nötig. Jede Art von Geschwätzigkeit ist zu vermeiden. Schauspieler verbergen sich hinter (statischen) Masken. Es agieren nur die Stimmen, sei es von Einzelnen oder von Mehreren, von Vielen, von Gemeinschaften (Chören). Die Reden der Chöre sind gegenstrophig gebaut: auf jede Strophe folgt eine Gegenstrophe. (Das heißt aber nicht im Sinne von Schulaufsätzen, für und wider das Rauchen. Es geht um Nuancen…)
  4. Im Zentrum der Sprachhandlung steht (fast) immer eine einfache, einzige, alles Weitere entscheidende Entscheidung eines Mächtigen. (In der Tragödie Antigone (Ἀντιγόνη) ist es Kreon – kρέων bedeutet Herrscher –, der mit seinem Befehl die Tragödie ins Rollen bringt. In Οἰδίπους τύραννος ist Ödipus als Tyrann tituliert, nicht als βασιλεύς, König. Wenn wir gleichwohl von König Ödipus sprechen, ist das in unserem Sprachgebrauch zwar nicht falsch, aber die von Sophokles unterstellten Machtverhältnisse mehr als verharmlosend. Denn als Tyrann, also unrechtmäßig: zwar in Erbfolge, aber als Vatermörder an die Macht gekommen, hat Ödipus (bis zum Sturz) die Macht, die Konsequenzen seines Handelns selbst zu gestalten. Er wählt die Selbstblendung und das Exil. Die Selbstblendung vollzieht er. Dann wird er von Kreon, dem nun Herrschenden zudem ins Exil gejagt. (Wäre Ödipus selbstbestimmt ins Exil gegangen, hätte Kreon sich nicht schuldig gemacht…) Es geht immer um das Umgehen mit Macht. Weissagen heißt weise sagen; weise sagt, wer die Fähigkeit aufbringt, die Konsequenz(-en) einer geforderten Entscheidung vorab nüchtern zu bedenken und diese – im Rahmen des von den Göttern Erlaubten! – auszusprechen. (Die Macht des Orakels von Delphi beruhte letztlich darauf, dass seine Weissagungen eintrafen. Manch Fragender soll die Antwort dem Orakel gar vorgegeben haben: self-fulfilling prophecy…)
  5. Jede getroffene Entscheidung zeitigt Konsequenzen und verursacht, schafft Leiden. Gott Dionysos ist das Sinnbild für das Leiden alles Lebendigen – in seinem ersten Leben (als Zagreus) überlebte er das Säuglingsalter nicht; er wurde gevielteilt –, aber auch für die Erlösung vom Leid. Er ist es, der vermag, die Psyche zu reinigen. Er (wie auch Gott Osiris) ist der Wiedergeborene, Auferstandene (Dionysos) und wird als Baby (Iakchos) verehrt. (Weih-Nacht-en lässt grüßen.) — Aischylos prophezeite in seiner Tragödie Der gefesselte Prometheus (Προμηθεὺς Δεσμώτης) Gottvater Zeus gar seinen Untergang, sollte er einen Sohn (Dionysos) zeugen. — Ein weiser Mann, der Aischylos…

*In Wikipedia heißt es:

„Die Tragödie ist eine Form des Dramas und neben der Komödie die bedeutsamste Vertreterin dieser Gattung. Sie lässt sich bis in das antike Griechenland zurückführen.“

(https://de.wikipedia.org/wiki/Trag%C3%B6die, zugegriffen am 2.1.2022)

Eine Aussage, die auf Abwege führt…

**Alle Übersetzungen sind vom Autor: Versuche…

***ψυχή ist für Aristoteles das Vermögen eines Lebewesens, Leben zu ermöglichen und zu erhalten (Περὶ ψυχῆς, 415a, 15ff.) — Heidegger übersetzt „παθήματα τῆς ψυχῆς“ (Hermeutik, 16a, 6f) treffend mit „Erleidnisse der Seele“ (Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, 244)

****Insbesondere Heidegger hat immer wieder auf die Grundbedeutung von λέγειν: (ver-)sammeln hingewiesen. Aristoteles‚ Bestimmung des Menschen als ζῷον λόγον ἔχον ist entsprechend mit zu deuten. Die spätere lateinische Fassung animal rationale verunklart die ursprüngliche Intention dann endgültig. (Siehe insbes. Beiträge zur Philosophie, 498)

Frau Flaßpöhlers Sensibilitätsgequake

Zur Leseprobe

Das im Fernsehen gefeierte jüngste Machwerk des über „Pornographie und das moderne Subjekt“ und damit aus der Warte wissenschaftlich geschulter Seriosität höchst zweifelhaft promovierten Philosöphchen Flaßpöhler ist höchstnotpeinlich für sie und all die, die ihr Geschwätz hochjubeln und über ihre Großtat an diversen philosophischen TV-Tischen entzückt frohlocken (Eilenberger, Precht und Co.).

Denn liest man/frau die z.B. auf Amazon zur Verfügung gestellte Leseprobe (komplett) durch (S. 31-36 des Buchs), so wird jedem/jeder nicht völlig Verblödeten sofort klar, wie hier gearbeitet wird: nämlich mit den Mitteln der

  1. Pauschalisierung
  2. Übertreibung
  3. Vereinseitigung
  4. Personalisierung

Wer solche Mittel (ge-)braucht, handelt populistisch. — Doch selbstredend trifft das auf das TV-geadelte Philosöphchen Flaßpöhler ebensowenig zu wie auf die andern TV-Pseudo-Größen, denn: populistisch das sind doch nur die Rechten, die AfD-ler, Querdenker, usw.

Das Ziel Flaßpöhlers ist klar: Die Ritterzeit soll anhand möglichst weniger, fiktiver Personen (Ritter Johan und seine Frau) als möglichst schrecklichst, brutalst und unsensibelst gezeigt werden, um dann unsere Jetzt-Zeit, die Gegenwart zum Ende des Jahres 2021, hurrah, als desto strahlender, sprich als das Goldene Zeitalter der Sensibilität dagegen abheben, ausrufen und feiern zu können. Άξιον εστί! Je größer die Differenz, desto überzeugender die Botschaft.

Solch Vorgehen mag methodisch zwar höchst effektiv sein, wissenschaftlich seriös ist es freilich nicht. Ganz das Gegenteil.

Zur Methodologie

Das gern von Moderatoren als promovierte Philosophin titulierte und vorgestellte Philosöphchen Flaßpöhler — muss ja toll sein, hat ja promoviert — arbeitet im Sinne Heideggers histori(zist)isch:

„Historie ist als Fest-stellen ein ständiges Vergleichen, das Herbeiholen des Anderen, darin man sich als das Weitergekommene spiegelt; ein Vergleichen, das von sich weg denkt, weil es nicht mit sich selbst fertig wird.“

(Beiträge zur Philosophie, 493)

Philosophisch durchdrungen ist so ein (wie auch immer ausgeartetes) Weg-denken, Flaßpöhlers Ansatz also schon mal nicht. Er ist, wenn überhaupt, als historisch wissenschaftlich intendiert — auslegbar.

Doch auch dies scheitert in toto. Denn das Bild, das Frau Flaßpöhler entwirft, ist wirklichkeitsinadäquat. Frau Flaßpöhler scheint u.a. von Ritterepen wie Wolfram von Eschenbachs Parzival, die an Ritter hohe moralische Anforderungen stellen – bekanntlich versagt Parzival zunächst, weil er eben nicht sensibel (re-)agiert und die entscheidende Frage eben nicht stellt (5. Buch) – keine Ahnung zu haben. Oder aber sie tut willentlich so, als existierten solche Verhaltensvorgaben/-ideale überhaupt nicht. Und als seien aus dieser Epoche auch keinerlei sensible Verhaltensweisen dokumentiert.

Zur Soziologie der Emotionen

Sensibilität ist aber nicht (nur) historisch-vergleichend (diachron) analysierbar, sondern auch soziologisch (diachron wie synchron). Soziologe Sighard Neckel betont (im Interview mit Nadja Boufeljah):

„Emotionen sind in der Soziologie immer relevanter geworden und stellen ein wichtiges Thema in der soziologischen Analyse dar, weil jegliches Handeln von Emotionen begleitet ist. Unsere Wahrnehmung der Welt, die Art und Weise, wie Ereignisse, Personen und Objekte bewertet werden, all das ist stets mit Emotionen verbunden. Erleben, Deuten und Handeln ist also von Emotionen nicht zu trennen und insofern ist die Soziologie der Emotionen so etwas wie ein Fundamentalthema der Soziologie.“

(Über Emotionssoziologie, Neid und die Emotionalisierung der Gegenwartsgesellschaft, in: Soziologiemagazin, 2/2014, 4; im Original kein Fettdruck)

Neue Sensibilität

Sensibilität (als Phänomen) ist vor allem fundamental-ontologisch, existenzial(-analytisch) fassbar — obwohl von Heidegger in Sein und Zeit nicht thematisiert…

Gleichwohl wird Sensibilität gesellschaftlich-politisch je different akzentuiert.

In seinem Versuch über die Befreiung konstatierte Herbert Marcuse zur Zeit der (Nach-)Studentenrevolte, 1969:

„Die neue Sensibilität ist zum politischen Faktor geworden. Dieses Ergebnis, das durchaus einen Wendepunkt in der Evolution der gegenwärtigen Gesellschaften bezeichnen könnte, erfordert, daß die kritische Theorie den neuen Sachverhalt in ihre Begriffe aufnimmt und erwägt, was er für den möglichen Aufbau einer freien Gesellschaft bedeutet.“

(Versuch über die Befreiung, Frankfurt a. M., 1969, https://www.uni-marburg.de/de/fb03/politikwissenschaft/fachgebiete/politische-theorie-und-ideengeschichte/portal-ideengeschichte-1/studium/12-krisen-marcuse.pdf, 43)

Und auch Neckel konstatierte 2014 (schon) „die Emotionalisierung der modernen Gesellschaft der Gegenwart“:

„Emotionales Engagement wird als etwas besonders Wichtiges und Wertvolles bewertet. Mehr noch: Es wird von Personen erwartet, dass sie in der Lage sind, Emotionen bei sich selbst zu mobilisieren, Empathie zu zeigen, begeisterungsfähig zu sein, sich emotional zu identifizieren. Ich glaube, dass dies ein spezielles emotionales Merkmal unserer Gegenwart ist.“

(a.a.O., 10)

Fazit

Sensibilität ist also weder diachron noch synchron ein gesellschaftsphilosophisch/politisch neues Phänomen/Thema. Frau Faßpöhlers Dahergequake hat also nicht mal Neuigkeitswert.

Frei nach einem meiner Mathelehrer von einst: Unter den Blinden ist freilich selbst der Einäugige König.

Geil auf Lockdown: Einsam aber sicher!

„Kulturzeit“ vom 09.03.2021

Ausstellung ANSELM KIEFER, Kunsthalle Mannheim, unter Vorbehalt bis 22.8.2021

Woran es liegt, dass wir Deutschen, die Erfinder und Meister der German Angst, uns in der Pandemie vorbildlich verhalten, uns zu Hause einigeln, draußen auch dann noch Maske tragen, wenn weit und breit kein anderer in Sicht ist und somit keinerlei Ansteckungsrisiko besteht und (laut Politbarometer) stets die Politiker hochjubeln, die den Lockdown am rigoroseren durchzusetzen vorgeben? Es liegt wohl an unserem gestörten Verhältnis zu Leben und Tod.

Paul Celan verdichtete seine Holocaust-Erfahrungen in dem Bild: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Die betriebsmäßige Todesmaschinerie des Dritten Reichs (in seinen diversen Ausprägungen) ist im kollektiven Bewusstsein auch heute fest verankert – in jedem von uns, welch politischer Couleur auch immer wir anhängen.

In den (Nach-Weltkriegs-)Ruinen unserer zerbombten Städte sehen wir – wie Hermann Kasack einst – noch heute den lungernden Tod, den Untergang aus eigener Schuld – je nach politischer Couleur die einen mehr, die andern weniger. Nur für wenige, unvorbelastete und insofern unschuldige Kinder – wie den kleinen Anselm Kiefer – öffne(te)n die grausigen Ruinenfelder sich als eine Spielwiese für Kreativität, freilich für eine im Nachhinein vornehmlich in Blei gegossene.

Anlässlich seiner Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim erklärte er in der Kulturzeit vom 9.3.2021:

„Als ich geboren wurde, in der Nacht wurde unser Haus gebombt. Und da hatte ich den besten Spielplatz. Wunderbare Ruinen. Die Steine, die Backsteine hab ich genommen, um Häuser zu bauen. Das war mein einziges Spielzeug. Was anderes gab’s nicht.

Ich schau unheimlich gern die Bilder an der zerbombten deutschen Städte. Das ist für mich die reine Ästhetik. Auch, weil das für mich ein Anfang ist, nicht ein Ende, immer. Ruine ist immer für mich ein Anfang.“

Im Laufe der Bundesrepublik dann entwickelten wir ein extremes, überzogenes Sicherheitsbedürfnis. Das Wirtschaftswunder ist dem geschuldet: Nie wieder hungern! Vor die Alternative Freiheit oder Sicherheit gestellt, entschieden wir im Westen uns stets für Letzteres. Der Fall der Mauer war denn auch vor allem ein Ost-Projekt: Freiheit statt Sozialismus! Es war ein Aufstand gegen den real existierenden Mangel. Die Freiheitseuphorie der Ostler verflog denn auch schnell, nachdem die sehnsuchtsvoll erwartete Verheißung, die D-Mark, da war. Das Gebilde DDR wurde ruck-zuck abgewrackt und der Osten unter allseitigem Jubel der BRD angefügt.

Nun hält uns die Pandemie den Spiegel vor. Corona offenbart, wie wir unser Miteinander leben. Covid-Patienten werden, sobald sie ein Krankenhaus betreten, isoliert, persönlicher Beziehungen beraubt, zu einem Betriebsfall, in den Geschäftsbetrieb eingegliedert und dem Tod-nach-Möglichkeit-Verhinderungs-Getriebe übergeben und überlassen. Gesunden sie, so können sie in den Alltag zurück. Sterben sie, so sterben sie isoliert, einsam und steril.

Philosophisch gesehen hängt dieser Sicherheitswahn – so Heidegger – eng mit dem Siegeszug des von Nietzsche prognostizierten Willens zur Macht zusammen. Da dieser Gedanke, der die Beziehung zwischen Wachstumsbesessenheit und Sicherheitswahn ins Zentrum rückt, selbst in Fachkreisen wenig bekannt ist — Nietzsche wird ja gern (wie auch Hölderlin) als ob seiner verqueren Sprachakrobatik wahnsinnig gewordener Dichter(-Philosoph) abgewertet —, hier längere Passagen aus Heideggers Der Anfang des abendländischen Denkens (Gesamtausgabe, Bd. 55):

„Zuletzt hat Nietzsche die Gleichsetzung von ›Sein‹ und ›Leben‹ ausgesprochen, und zwar in dem Sinne, daß das ›Leben‹ als »Wille zur Macht« erfahren und begriffen ist. Damit wird dem Wort ›Sein‹ die Rolle des Grundwortes der Philosophie genommen. ›Sein‹ bleibt die Bezeichnung dessen, was ›Beständigkeit‹ meint. Diese wird allerdings im Sinne der neuzeitlichen Metaphysik als ›Sicherheit‹ und ›Sicherung‹ gedacht. Allein die Bestandssicherung, also ›das Sein‹, ist nicht der Wille zur Macht selbst, ist nicht ›das Leben‹ selbst, sondern nur eine vom Leben selbst gesetzte Bedingung seiner selbst. Der Wille zur Macht kann nur wollen, was er allein will und wollen muß, nämlich ›mehr Macht‹, also Machtsteigerung, wenn jeweils die erreichte Machtstufe gesichert ist, von der aus und über die hinaus der nächste Schritt sich vollzieht. Das jeweils Gesicherte, das Seiende, und die jeweilige Sicherung, das Sein, bleiben, innerhalb der Perspektive des Willens zur Macht gesehen, dass stets nur Vorübergehende, was nur ›ist‹, um überwunden zu werden, was daher notwendig verdunsten muß im Feuer des Willens zur Macht.“ (104; im Original kein Fettdruck)

„Der höchste Wille zur Macht ist, das Werden zu wollen, dieses aber als Sein stabilisieren“. (105)

„Wir sind in der Vergessenheit des Seins und wir sind dergestalt, daß wir vom Willen zur Macht als der Wirklichkeit des Wirklichen gewollt sind, ob wir es wissen oder nicht, ob wir es grausig finden oder nicht. Wir sind, so wie wir geschichtlich sind, als die im Willen zur Macht Gewollten. […] Der Wille zur Macht ist weder eine Erfindung Nietzsches noch eine Erfindung der Deutschen, sondern er ist das Sein des Seienden, auf dessen Grunde die europäischen Nationen samt den Amerikanern in den letzten Jahrhunderten seiend geworden sind und das Seiende vergegenständlicht haben.“ (107)

Gutmenschen-Hybris vs. Kants kategorischen Imperativ

Für Kant heißt Aufklärung zunächst/vor allem Vernunftkritik. Von ihm können wir lernen, was es für einen Aufklärer heißt, weise zu sein, sprich vernünftig zu leben: i.e. vernünftig zu denken und zu handeln.

Unter Bezug auf die Kritik der praktischen Vernunft (Seitenverweise nach AA) sind folgende Aspekte relevant:

  1. Bezug von Theorie und Praxis

Für Kant waren sowohl spekulative/theoretische als auch praktische Vernunft: reine Vernunft. (159) Doch nur die praktische Vernunft helfe uns über die Sinnenwelt hinaus und verschaffe uns Erkenntnisse von übersinnlicher Ordnung und Verknüpfung. (190) In der Verbindung von reiner spekulativer und reiner praktischer Vernunft zu Erkenntnis hat letztere insofern das Primat. (218)

Fazit 1: Handeln hat den Vorrang vor dem Denken. Gut zu sein erweist sich im Handeln.

2. Der Mensch als Zwitterwesen

Möglichkeitsbedingung der praktischen Vernunft sei, dass jede handelnde Person zugleich Noumenon, d.h. reine Intelligenz, als auch Erscheinung sei: Als Erscheinung unterliege sie der Kausalität nach Naturgesetzen, als Noumenon sei sie ein nicht der Zeit nach bestimmtes Dasein — Heidegger greift in Sein und Zeit auf diese Fragestellung zurück —, d.h. als Noumenon ist der/die Handelnde von allem Naturgesetze frei: er/sie unterliegt der Kausalität nach Freiheit. (206)

Fazit 2: Der Mensch ist sowohl Erscheinung (Materie) als auch Geistwesen (Noumenon).*

3. Zur Willensfreiheit des Menschen

Freiheit aber ist ein Postulat: ein zwar theoretischer, aber kein erweislicher Satz (!!), (220) d.h. reiner Vernunftglaube. (226) Denn ein Postulat kann durch spekulative Vernunft weder bewiesen, noch widerlegt werden. (257) Immerhin sei Freiheit die einzige von insgesamt drei Ideen (neben der Idee der Freiheit postuliert Kant noch die Ideen Gott und Unsterblichkeit), wovon wir a priori wissen: weil bzw. insofern sie die Bedingung des moralischen Gesetzes sei. (5)

Fazit 3: Frei ist der Mensch, wenn überhaupt (!), nur in seinem Willen, d.h. als Handelnder.

4. Vom Wesen vernünftigen Handelns

Laut Kant wissen wir also nicht, ob der Mensch überhaupt in seinen Handlungen frei ist oder nicht. Willensfreiheit ist von Kant lediglich postuliert, um sittliches Handeln (und das höchste Gut als Gegenstand sittlichen Handelns) überhaupt begründen zu können: Das höchste Gut sei nur durch Freiheit des Willens hervorzubringen. (203) Wenn jedoch das höchste Gut sich nur im Rahmen der eigenen Vernünftigkeit aus Freiheit begründen lässt, so ist intersubjektive Gültigkeit sittlicher Normen nicht diktierbar! (Selbst von Gott nicht!) Sie ist überhaupt nur erreichbar, wenn diese Normen von (ausnahmslos) allen! Vernunftwesen, sprich Menschen, aufgrund ihrer Vernünftigkeit geteilt werden können. Daher formuliert Kant den kategorischen Imperativ wie folgt:

„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (54)

Fazit 4: Sittlich, weil vernünftig, ist das Handeln des Einzelnen, wenn zu erwarten ist, dass dieses Handeln von allen Vernunftwesen (Menschen) als zumindest (einspruchslos) akzeptabel angesehen ist.

5. Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung

Das von Kant gleichwohl zu benennen angestrebte Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung (Prinzip a priori) muss also so gefasst sein, dass es allgemeingültig ist. Es muss folglich ein Wert a priori sein, der aus der Kausalität nach Freiheit resultiert. Im Unterschied zur Kausalität nach Naturgesetzen zielt die Kausalität nach Freiheit nicht auf Ursache(n) als Letztbegründung, sondern auf Zwecke. Das höchste Gut ist folglich der notwendige höchste Zweck. (207) Dementsprechend lässt sich das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung nun wie folgt setzen:

„Daß, in der Ordnung der Zwecke, der Mensch (mit ihm jedes vernünftige Wesen) Zweck an sich selbst sei, d. i. niemals bloß als Mittel von jemandem (selbst nicht von Gott) ohne zugleich hierbei selbst Zweck zu sein, könne gebraucht werden, daß also die Menschheit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse, folgt nunmehr von selbst, weil er das Subjekt des moralischen Gesetzes“ ist. (237; Fettdruck: im Original gesperrt gedruckt)

Fazit 5: Die reine praktische Vernunft kann nur ein (einziges) allgemeines Gesetz formulieren. Der zunächst formulierte kategorische Imperativ ist als das höchste Gut (241) und reine moralische Gesetz, (258) das uneigennützige Achtung fordere, (266) entsprechend so zu präzisieren:

Handle so, dass du jeden Menschen niemals bloß als Mittel, sondern als Zweck an sich selbst gebrauchst.

Schlussfolgerung

Wenn Gutmenschen also unterstellen, allein im Besitz sittlicher Werte zu sein, so ist das eine ungerechtfertigte Anmaßung, weil ihr Anspruch dem Prinzip der Allgemeingültigkeit widerspricht. Im Gegenteil: Indem sie anderen moralische Integrität absprechen, gebrauchen sie diese als Mittel zur Abwertung, also um ihre eigenen Zwecke in eigennütziger Absicht, und d.h. dem Allgemeinheitsgrundsatz zuwider, also widerrechtlich durchzusetzen.


*In Beilage VII seines Buchs Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (²1789) stellt Friedrich H. Jacobi daher die Frage: „hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen?“ (Meiner A, 286) und antwortet: „Ich nehme den ganzen Menschen, ohne ihn zu teilen“ (287) und so trifft denn beides zu…

Zeit der Sophisten. Scobel, Eilenberger und Gabriel im Verkaufsförderungskarussell

„Kulturzeit extra: Der philosophische Jahresrückblick 2020“, Kulturzeit vom 18.12.2020

Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Markus Gabriel – Für einen neuen Existentialismus!, SFR, 6.12.2020

Eine Zeit der Krise — wie die Corona-Zeit — ist immer auch eine Zeit der Chance für ansonsten mittelmäßig erfolgreiche Welterklärer, sich als alle anderen Mitbewerber*innen überragende Meister der Krisenbewältigung zu profilieren und d.h. zu inszenieren und: inszeniert zu werden.

Einer der bereits etablierten Inszenierer ist Gerd Scobel. Auf Kulturzeit darf/muss er immer dann ran, wenn die geplante Sendung ein (pseudo-)philosophisches und/oder -wissenschaftliches Niveau erreichen soll/könnte, das über den üblichen Gequake-Level hinaus reicht. So wurde er denn ausersehen, den Kulturzeit-Jahresrückblick zu moderieren. In der Kulturzeit-Sondersendung vom 18.12.2020 erklärte er das Jahr 2020 im Rückblick zu einem Jahr der Philosophie:

„2020. Dürre und verheerende Waldbrände weltweit, der Klimawandel. Dann, zu Beginn des Jahres die Pandemie. Sars-Cov-2 fordert viele Tote. Leergefegt sind die Straßen in den Hauptstädten der Welt. Schwere Zeiten, aber einen schönen guten Abend, meine Damen und Herren bei Kulturzeit. Hegel, dessen 250. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wurde, definiert die Philosophie als ein Erfassen der Zeit in Gedanken. Reicht Ihnen das? Auch Bilder und Symbole müssen ja eingefangen und interpretiert werden. Und, dann zunehmend nicht nur Gedanken, sondern vor allem auch Daten. Um unsere Gegenwart philosophisch zu erfassen, ist heute anderes und mehr nötig als damals.

[an auszuwertendem Material vielleicht; sicherlich aber nicht an gedanklicher Arbeit — oder sind wir in der Zwischenzeit, ohne es zu merken, zu Übermenschen mutiert, die mehr vermögen als nur die Anstrengung des Begriffs?]

Für uns ein Grund, bei Kulturzeit heute statt eines klassischen Jahresrückblicks zu versuchen, unsere Gegenwart unter heutigen Bedingungen philosophisch zu bestimmen. Warum philosophisch? Weil in diesem Jahr Philosophie vielleicht das erste Mal seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle spielte, als es darum ging, die Gegenwart nicht nur zu verstehen, sondern auch Gesellschaft und Politik gut zu steuern.

[Welch Plädoyer für die Re-Etablierung politischer Philosophie in praxi! Daran ist bekanntlich schon Politik-Berater Platon voll gescheitert…]

Philosophie gehört nach wie vor als ein zentrales Element zum umfassenden Prozess der Aufklärung, über die wir in dieser Sendung noch zu sprechen haben nicht nur mit Blick auf Trump oder das Klima. Allerdings reicht es nicht, sich mit der Rolle der kritischen Prüfung althergebrachter Paradigmen zu begnügen. Wie Anna Riek zeigt, muss es auch darum gehen, dem, was marode ist, neue zukunftsbezogene Narrative entgegenzusetzen.“

Im Anschluss an den Beitrag Rieks dann gab Scobel dem neuen TV-Philosophen-Stern Wolfram Eilenberger Gelegenheit, seine Weisheiten kundzutun. So wie zuvor Prechts begann auch Eilenbergers Karriere damit, nicht nur einen, sondern gleich zwei Bestseller gelandet zu haben. Quantität = Qualität lautet die Devise der nivellierten Bildungsgesellschaft, sprich: wer viel verkauft, muss viel zu sagen haben. Der muss ins Fernsehen!

ScobeI leitete denn das Gespräch mit Eilenberger auch wie folgt ein:

„Im Studio begrüße ich jetzt den Philosophen, Schriftsteller und Publizisten Wolfram Eilenberger, ehemals Chefredakteur des Philosophiemagazins und Autor der beiden Bestseller Zeit der Zauberer und Feuer der Freiheit.“

Selbstredend waren die beiden Super-Bücher auch so positioniert, dass man/frau sie wie auf einem Verkaufsstand während des ganzen Interviews vor das Gesicht gesetzt bekam: eine indirekt und doch plump ausgesprochene Kaufempfehlung.

Die anschließende Unterhaltung unter Freunden – Eilenberger wurde geduzt – entwickelte sich dann auf erwartet dürftigem TV-Verkaufsförderung-Niveau: Weitere potentielle Käufer*innen sollen ja zum Kauf ermuntert und nicht abgeschreckt werden:

G.S. „Wolfram, bei allem Negativen war in meinen Augen dieses Jahr ein Jahr der Philosophie. Kant hätte möglicherweise gesagt, das war ein Ereignis. Teilst Du diese Ansicht? Und warum, glaubst du, wenn ‘s so ist, dass Philosophie wieder so gefragt ist?“

W.E. „Ich denke, es ist ein Jahr, das uns allen sehr zu denken gegeben hat, weil tiefe Störungen in unserem Weltverhältnis uns ermöglichen, grundlegende Fragen zu stellen, auch die ganze Komplexität unserer Lebenswelt wieder in den Blick zu geraten und, ja, ich denke, 2020 war in diesem Sinne ein Jahr, das uns zu denken gab, zu philosophieren gab und vielleicht nach 1989 das wichtigste Schwellenjahr meiner Generation.“

G.S. „Was macht denn Philosophie anders als beispielsweise die Wissenschaften?“

W.E. „Na, die Philosophie hat erst mal keine eigenen Experimente. Sie stellt auch keine Tatsachen im eigentlichen Sinne fest. Sie generiert sie auch nicht neu. Ich glaube, die Kunst der Philosophie besteht darin, Klarheit durch begriffliche Analyse zu schaffen, uns von Kernillusionen unseres Daseins zu befreien, damit wir eine klarere Sicht auf die Welt, auf die anderen Menschen und uns selbst bekommen.“

Ca. zwei Wochen vor diesem Auftritt in der Kulturzeit, am 6.12.2020, wurde Eilenberger im SRF sogar die Ehre zuteil, einen weiteren Superstar der TV-Philosophenzunft, den Universitätsprofessor Markus Gabriel zu interviewen.

In seiner Anmoderation stellte er Gabriel als den Guru

„einer radikal neuen Philosophie, die unsere Kultur von ihren tiefsten, ja todbringenden Irrtümern heilen will“, 

vor. Schleimerischer geht‘ s kaum noch.

Und was sind diese Irrtümer, von denen uns Gabriel – in Eilenbergers Schleimerei-Gequake

„einer der aufregendsten Denker unserer Zeit“

– durch „Intervention in den Zeitgeist“ (Gabriel) befreien will? — Es sind vornehmlich die folgenden drei Geißeln, die von Gabriel mit den Schlagwörtern Physikalismus, Neurozentrismus und moralischer Nihilismus tituliert werden.

Dass diese Erkenntnis Gabriels entgegen der Eigen- und Fremdstilisierung nicht allzu revolutionär sein kann, zeigt schon der Fakt, dass eine andere TV-Größe jüngst über die Unberechenbarkeit des Lebens schwadronierte. TV-Vorzeigewissenschaftler Harald Lesch veröffentlichte mit Thomas Schwartz (nebst Zuarbeiter Simon Biallowons) das in quantitativer wie qualitativer Hinsicht recht dünn ausgefallene Büchlein Unberechenbar.

Auch die Autoren von Unberechenbar, Das Leben ist mehr als eine Gleichung, plädieren für eine Entmystifizierung des Glaubens an die Berechenbarkeit von allem mittels der „Prinzipien, die der Physik und der Mathematik zugrunde liegen“. (12) Freilich geht ihre Kritik nicht so weit, das Wissenschaftsparadigma per se infrage zu stellen: schließlich leben sie — und das recht gut — von der Wissenschaft im universitären Wissenschaftsbetrieb.

Indem sie das „Anything goes unserer Zeit“ (117) verurteilen, prangern sie zudem auch „die scheinbare Entgrenzung des Lebens und der Moral“ und damit den moralischen Nihilismus an. (eb.)

Wo also ist das radikal Neue, das Gabriel für seinen Entwurf in Anspruch nimmt? Es existiert schlichtweg nicht! Alles nur sophistisches Geplänkel: Verkaufsrhetorik…

Konkurrenz belebt das Geschäft,

Pseudo-Konkurrenz erst recht!

Anmerkungen zum Buch „Unberechenbar“

Harald Lesch und Thomas Schwartz und unter Mitarbeit von Simon Biallowons, Unberechenbar. Das Leben ist mehr als eine Gleichung, Freiburg im Br., 2020

Ob Mutti dieses Machwerk in Auftrag gegeben hat? Diesen Aufruf zur grenzenlosen Verdummung? Zwei Stellen mögen genügen, um die (versteckte) Intention der Autoren Harald Lesch, Thomas Schwartz (und Simon Biallowons als Mitarbeiter) vorzuführen:

1 „Vorab: Sollte im Folgenden der Eindruck entstehen, wir wären Dorfromantiker, dann ist das nicht etwa irreführend, im Gegenteil, wir sind tatsächlich Dorfromantiker. Aber keine naiven.“ (127)

2 „Gesellschaftsspiele haben in der Corona-Krise geboomt. Klar, man war auf die kleinen Beziehungsräume von Familie oder WG zurückgeworfen und hatte jede Menge Spielzeit. Es war ein zeitlicher Freiraum entstanden, der gefüllt werden musste und bei dem das Gesellschaftsspiel, egal ob Skat, Trivial Pursuit oder Siedler von Catan, wieder oder sogar neu entdeckt wurde.“ (149f.)

Die nachfolgend geschilderte Episode aus dem Leben des Vorsokratikers Heraklit möge dazu dienen, Pseudoweisheit vs. Weisheit klar zu kontrastieren. Von Heraklit ist uns – nebst etlichen Fragmenten – überliefert, dass er, einer von denen, die in seiner Stadt Ephesos das Sagen hatten, einst floh, um im außerhalb der Stadt gelegenen Artemis-Tempel Asyl zu suchen. Dort saß er dann und spielte (Würfel) mit den Kindern.

Dazu 2 Kurzkommentare:

1

Vorsokratische und sokratische Philosophie entwickelten sich in den Metropolen ihrer Zeit und nicht in den Dörfern. In denen lebten nur einfältige Bauern; einfältig: weil sie ihre Zeit zum Überleben und zur Reproduktion nutzen mussten und nur dazu nutzen konnten. Grundvoraussetzung für das Denken ist Muße, σχολή (Phaidros 228a.) — Im Neugriechischen bedeutet σχολή Schule. — Muße entsteht nur aufgrund der Entlastung vom Alltag. — In der Schule sollen die Kinder vom Alltag entlastet lernen. — Dies war in den arbeitsteiligen und mit Sklaven reichlich bestückten Städten weit eher gegeben als in (abgelegenen) Dörfern. Denker – damals wie heute – sind zudem auf den Umgang mit anderen Denkern angewiesen. Insbesondere aus den Dialogen Platons mit diversen Gesprächspartnern unterschiedlichster Couleur wird dies überdeutlich.

Sokrates bezeichnet sich als φιλομαθής, als Lernfreund und führt mit der ihm typischen unterschwelligen Ironie näher aus, von wem er sich denn Belehrung erhofft:

τὰ μὲν οὖν χωρία καὶ τὰ δένδρα οὐδέν μ᾽ ἐθέλει διδάσκειν, οἱ δ᾽ ἐν τῷ ἄστει ἄνθρωποι.

weder Felder noch Bäume wollen mich lehren, aber die Menschen in der Stadt. (Phaidros 230d)

2

Spiele spielen ist etwas für Kinder. Sie dien(t)en zur Charakterdiagnostik und -bildung, zur Erziehung und Vorbereitung auf das Erwachsenenleben als Mann im bzw. für den Staat. (Auch dies ist bei Platon, u.a. in Politeia, detailliert nachzulesen.) Es kam darauf an, im politischen Leben der Stadt zu bestehen. Dazu musste man sowohl körperlich als auch geistig fit sein. Körperlich, weil kriegerische Auseinandersetzungen die Regel und nicht die Ausnahme waren; geistig, weil man die politischen Spiele der Stadt durchschauen musste, um sie zu beherrschen (und nicht von ihnen beherrscht zu werden). — Wurde man z.B. angeklagt, so musste man sich selbst verteidigen. (Schulungen hierzu offerierten die Sophisten…)

Auch wenn wir Heutige uns (eher) nicht politisch engagieren (müssen), so gilt auch für uns: uns aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien (Kant). Depperlspiele spielen hilft da nicht weiter, sondern nur (Selbst-)Bildung.

Was die drei Pseudoweisen verschweigen

Analog zur Pädagogik, Kinderführung/-leitung, entwickelt und formuliert Platon Grundsätze der ψυχ-αγωγία, der Führung/Leitung der Psyche, für Erwachsene. (Phaidros, 271c) Doch solch ein Plädoyer für Bildung fehlt in der Schrift der drei Pseudoweisen aus Deutschland. Und das ist auffällig. Denn Lesch und Schwartz sind Professoren. (Was der dritte, Simon Biallowons, macht, wird uns nicht verraten.) Sie leben (recht einträglich) davon, den (wissenschaftlichen) Nachwuchs zu belehren. Wenn Sie also das Thema Bildung geflissentlich übergehen, so muss das einen Grund haben.

Und so unterstellen wir: Sie wollen einlullen.

Ihre eigentliche Rede — Schwartz ist Theologe — lautet:

Das Leben ist nicht berechenbar, ihr Bürger*innen. Krisen wie die jetzige sind Teil des Lebens. Da müssen wir durch. Fürchtet euch nicht! Und so werdet ihr der Verzweiflung resilient widerstehen! Wir schaffen das! Wir haben so vieles geschafft. Wir schaffen das! Auch Corona schaffen wir! Vertraut auf eure Führer, ihr Bürger*innen. Euer aller Mutti wird‘s schon richten. Sie entlastet euch vom Denken. Seid dankbar, ihr Dörfler, und amüsiert euch frohgemut in der Zwischenzeit, bis es wieder aufwärts geht, mit Gesellschaftsspielen.

Pfarrerstochter Mutti und Pfarrer Schwartz wissen:

Selig die Armen im Geist, denn ihr ist das Reich der Himmel (Matthäus, 5:3)

schon auf Erden,

hurra!!

TV-Guru Leschs Pseudoweisheiten

Unberechenbar – Harald Lesch über das Leben, ttt, 29.11.2020

ttt-Moderator Max Moor stellt Harald Lesch wie folgt vor:

„Gelernter Physiker, leidenschaftlicher Philosoph und passionierter Welterklärer, Sie kennen ihn, meine Damen und Herren. Harald Lesch hat ein Buch geschrieben zusammen mit dem Theologen Thomas Schwartz. Thema: Nichts weniger als das Leben. Ein wunderbares Aha-Erlebnis für alle Nicht-Perfekten, also für alle. Darin steht: ohne Fehler und Mängel, ohne all die Dinge, die anders laufen als gedacht, gäbe es nicht nur uns nicht, sondern überhaupt kein Leben. Das ganze Universum wäre nie entstanden, und so gesehen ist unser Streben nach Perfektion geradezu lebensfeindlich und unser Hoffen auf die Unfehlbarkeit von Computeralgorithmen Selbstmord. Der ewige Optimist Lesch schenkt uns ein wenig seiner unperfekten Zeit.“

Dass das Buch, um das es geht — Unberechenbar —, von zwei Autoren verfasst wurde, wird kaum erwähnt. Im Mittelpunkt steht der allseits bekannte und beliebte TV-Guru Lesch. (Schwartz war, ist und bleibt ein Epiphänomen. Warum also über seinen Anteil am Werk eigens nachdenken?!) In den nachfolgenden ttt-Beitrag werden von Angelika Kellhammer (daher auch) nur Redebeiträge Leschs eingeflochten.

Zunächst fällt auf: Lesch argumentiert nicht; er reiht lediglich Behauptung an Behauptung in extrem plakativer Machenschaft:

„Wie so vieles ist das Leben ein Resultat eines Fehlers, einer kleinen Asymmetrie. Das ganze Universum ist das Resultat einer kleinen Asymmetrie. Wenn alles perfekt wäre, würde es uns gar nicht geben. Wenn das Universum ein Berateruniversum wäre, dann wäre, mit perfekter PowerPoint-Präsentation sozusagen, dann würde es uns gar nicht geben. Alles, was auf dieser Welt wirklich interessant ist und auch zu Neuem führt, ist das, was instabil sein kann.

[Dann der erste Begründungsversuch:]

Nämlich nur das Instabile kreiert neue Eigenschaften, die vorher nicht da waren. Wenn immer dasselbe passiert, passiert nichts Neues.

[Da hat er Nietzsches Diktum der ewigen Wiederkehr des Gleichen entweder nicht verstanden oder gar nicht erst bedacht. Heidegger:

„Weil das Sein als ewige Wiederkehr des Gleichen die Beständigung der Anwesenheit ausmacht, deshalb ist das Beständige: das unbedingte Daß.“ (Nietzsche II, 9)

Oder allgemeinverständlich gefasst: Das Gleiche ist nicht Das Selbe… Zudem: evolutionstheoretisch ist (noch) nicht eindeutig geklärt, ob Struktur-Anomalien funktional bedingt sind oder ob – wie zumeist angenommen wird – Anomalien Struktur-Fehler sind (die dann – wenn schon, denn schon – funktional genutzt werden können und ggf. auch werden).]

Und es gibt einen schönen, ich finde nach wie vor, einen ganz grandiosen jüdischen Satz: Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, dann mache einen Plan.“

Hurra! Es lebe die Planlosigkeit!— Doch was für Götter gilt, gilt für Menschen noch lange nicht!— Hybris war schon den alten Griechen der schlimmste aller Frevel.

Über KI sagt Lesch:

„Das sind Maschinen, die lernen, und zwar unabhängig von uns. Wir geben dieser Maschine nichts mehr vor, sondern die lernt von alleine, ändert ihre Funktion und damit hat das natürlich auch veränderte Auswirkungen für uns. Das ist ja irre. Ich meine, da muss ich wirklich sagen, da haben wir uns Außerirdische geschaffen. Nachdem die Außerirdischen schon nicht hierhergekommen sind, verschaffen wir uns jetzt eine Form von Intelligenz möglicherweise, die garantiert nicht menschlich ist. Und ich erinnere an den Satz des großen Alan Turing, einen der Pioniere der Computerforschung, der gesagt hat: „Nur Maschinen können Maschinen verstehen.“

[Wo steht das?]

Und wenn das so ist, dann sollten wir ganz, ganz ganz vorsichtig sein, damit diese Maschinen und diese Algorithmen überall einzusetzen. Auch da muss ich sagen, hat man eher den Eindruck, dass alle sagen: Das können wir sowieso nicht aufhalten. Das ist wie eine Naturgewalt. Stimmt nicht. Wir sind die Akteure nach wie vor, und wir können bestimmen, ob diese Maschinen angeschaltet werden oder ausgeschaltet werden.“

Zudem sind Maschinen modifizierbar, zumindest sofern sie, wie bislang, strikt funktionsbezogen programmiert werden….

Und das Beste zum Schluss:

  • Erst das großartige Natur-Mensch-Glück-Gestammel:

„Was mich da umtreibt ist die Kenntnis von dem, was ich, des Bekannten in etwas zu überführen, das menschlich ist. Also die Kenntnis von der Natur, mit der man ja nicht verhandeln kann, in etwas zu überführen, was Menschen verstehen. Das kann ein Witz sein, ein Kalauer, ein gutes Gedicht sein und immer freundlich, weil jeder braucht alle anderen, und niemand von uns ist allein. Es darf nicht diejenigen geben, die glauben, vor ihnen sei nichts gewesen und nach innen wird nichts mehr kommen. Das nicht, sondern zusammen, das ist das Glück.“

  • Und dann das von Moor angekündigte, lang ersehnte Optimismus-Credo:

„Ich meine, es gibt keine Alternative zum Optimismus. Es gibt viele Leute, die mich für diesen Satz heftig kritisieren, weil, das weiß ich, weil die sagen: das ist doch naiv so zu denken. Nein, es ist im Gegenteil so: dieser Versuch aus Wissenschaften immer so etwas zu machen wie die Kunst des Sterbens, ja, wir müssen irgendwie gucken, wie wir damit klarkommen und dann werden wir hier vergehen. Das ist nicht der Punkt. Und Hannah Arendt hat diesen wunderbaren Satz geprägt: „Wenn Menschen zusammenkommen, dann muss man mit Wundern rechnen.“

[Wo steht das?]

Und wir wissen nie, was passiert. Das ist ein anderer Ausdruck dafür, dass die Welt nicht berechenbar ist. Wir wissen es nicht. Wir werden alles probieren und dann werden wir sehen, wie wir damit klarkommen.“

Hurra! Es lebe die Planlosigkeit!— Allbekanntes Beispiel Kernkraft: Erst mal Kernkraftwerke bauen und kräftig absahnen… Wie wir den radioaktiven Müll entsorgen??– Unwichtig. Ein Epiproblemchen. Darum kümmern wir uns später… — Wie der aus dem Himmel geworfene Münchner, der im Hofbräuhaus sitzt, eine Mass nach der andern in sich reinschüttet und dabei auf die göttlichen Eingebungen wartet, die freilich weder ihm noch auch der bayrischen Regierung je kommen…

Fazit: Nicht nur Precht taugt zum TV-Guru pseudowissenschaftlichen Gequakes!

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Wie sagte schon der göttliche Platon so treffend über das Begehr der Masse(n):

τὰ δόξαντ᾽ ἂν πλήθει οἵπερ δικάσουσινοὐδὲ τὰ ὄντως ἀγαθὰ  καλὰ ἀλλ᾽ ὅσα δόξει (Phaidros, 260a)

Maßgeblich für die (Volks-)Menge, die das Urteil fällt, ist (eben) nicht, dass (all) das, was (Gegenstand) ist, (wahrhaft) gut ist oder schön, sondern (dass es so) scheine als ob.

Solch Redenschreiber, die den Geschmack der Masse bedienen (λογογράφοι), nannte Platon verächtlich Sophisten, sprich Pseudoweise… (Phaidros, 257d)

„lesenswert“-Profi-Buchbesprecher outen sich als Philosophie inkompetent

lesenswert Quartett, 8.11.2020, 3sat, 8.11.2020

Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929, Stuttgart, 2018

Martin Heidegger, Nietzsche I, Stuttgart, 1961

Anlässlich des Buchs Feuer der Freiheit – Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten von Wolfram Eilenberger schwätzten die drei vom Fernsehen bestellten und bezahlten Literaturbesprecher: „Gastgeber Denis Scheck“ nebst Adjutanten/-in Insa Wilke und Ijoma Mangold in der Sendung lesenswert am 8.11.2020 auch über Eilenbergers früheres Werk Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929 wie folgt:

Denis Scheck

war als Gastgeber gefordert zu beginnen. Erst titulierte er Eilenberger als Philosophen. Dann wertete er ihn zum Erzähler ab:

„Wolfram Eilenberger, der wurde bekannt mit einem veritablen Bestseller: Zeit der Zauberer. Da hat er von Heidegger, von Ludwig Wittgenstein, von Walter Benjamin und Ernst Cassirer erzählt und [nicht und, sondern in] den zwanziger Jahren. Und jetzt hat er mit Feuer der Freiheit einen Band über vier Denkerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben“.

Ein erzählender Philosoph also. Das klingt wie Schriftstellerphilosoph — wie Mann (Frau eher nicht) einst Nietzsche titulierte, um ihn abzuwerten — wie passend, dass er auch noch geisteskrank war, Syphilis bedingt: das Schwein –, um sich nicht mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Eine Haltung, die u.a. Heidegger scharf kritisierte und vehement zurückwies. Für ihn markiert Nietzsches Philosophie gar das „Ende der abendländischen Metaphysik“ (8): aller bisherigen abendländischen Philosophietradition!! — Gegen diese Tradition schrieb Heidegger in und mit Sein und Zeit (1927) an.

Überhaupt sind die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts eine Zeit des Übergangs. Eilenbergers Verdienst ist es, dies in Zeit der Zauberer anhand von vier Hauptakteuren herausgearbeitet zu haben.

Ijoma Mangold

Da Mangold sich am liebsten selbst reden hört, musste er natürlich zu Schecks Gerede sofort etwas hinzu quaken. Er bezeichnete Zeit der Zauberer als „Deutsches Sachbuch“. Auch für ihn ist Eilenberger ein Erzähler:

„Schon in seinem ersten Buch ist er nach dem Prinzip verfahren, wir erzählen etwas [ja, was denn? Bitte genauer!] über die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Ja klar, Heidegger, Wittgenstein, Walter Benjamin, völlig klar. Und dann ein Überraschungsgast, mit dem niemand gerechnet hat: Ernst Cassirer.“

Mangold, dieser ungebildete Volltrottel begreift überhaupt nicht, dass Ernst Cassirer einer maßgeblichen (!!) Philosophie-Ausleger der alten Garde war, gegen die Heidegger zu Beginn seiner Karriere — auch als Person — opponierte. Eilenberger führt dies denn auch clare et distincte aus/vor. (Mangold muss dies überschlafen haben.) Bereits zu Beginn seiner Darstellung geht Eilenberger hierzu detailliert auf das Großereignis II. Internationalen Davoser Hochschulkurse (März 1929) ein. Zurecht schreibt Eilenberger:

„Die Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger gilt heute als einschneidendes Ereignis in der Geschichte des Denkens.“ (24)

Cassirer war eben nicht irgendwer, sondern einer der namhaftesten Philosophie-Professoren seiner Zeit! — Übrigens, Herr Mangold: Cassirer zu lesen ist ein intellektuelles Vergnügen…

Und dann meinte auch noch

Insa Wilke

etwas Kluges zum bisherigen Gerede beitragen zu müssen:

„Er [Eilenberger] benutzt ein Verfahren, das nicht so originell ist; das ist das konstellierende Verfahren. Das ist in der Essayistik inzwischen eigentlich durchaus gängig: also drei [??] Denkerinnen oder auch im letzten Buch drei [??] Denker, die man auf den ersten Blick nicht zusammenbringt, zusammenzustellen, nicht unter der Behauptung einer, eines kausalen Zusammenhangs, sondern er stellt einen Zusammenhang her.

Was diese Dummschwätzerin, die nicht bis vier zählen kann und auch in Logik wenig bedarft zu sein scheint, nicht begreift: Gemeinsamkeit und Unterschiede im Werk von Heidegger und Wittgenstein wurden (wissenschaftlich) mehrmals untersucht, auch Bezüge zwischen Cassirer und Heidegger wurden (nicht nur in Fachkreisen) diskutiert. — Eilenberger, z.B., geht dezidiert und detailliert auf das Gespräch Cassirer contra Heidegger in Davos ein. — Kurz gesagt: Sich im akademischen Betrieb bewegende Berufsphilosophen/-innen sind zwangsläufig miteinander im Kontakt: sie sind Konkurrenten/-innen um begrenzte Ressourcen.

Philosophen/-innen sind (zudem) eine Gemeinschaft aus/im Inter-esse. Heidegger:

„Der große Denker ist dadurch groß, daß er aus dem Werk der anderen »Großen« ihr Größtes herauszuhören und dieses ursprünglich zu verwandeln vermag.“ (33)

Übrigens, Herr Mangold: Der Außenseiter unter den vier genannten Meisterdenkern (Eilenberger) ist nicht Cassirer, sondern Benjamin! Denn:

„Aus akademisch-philosophischer Sicht ist Walter Benjamin im Jahre 1929 eine ausgesprochene Non-Entität.“ (33)

Ein wenig Faktenstudium würde nicht schaden…

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Anm. Die Davoser Disputation ist abgedruckt im Anhang zu Heideggers Werk Kant und das Problem der Metaphysik (1929) — das Heidegger als sein Kantbuch bezeichnete –, das er unmittelbar in Anschluss an die Davoser Hochschulkurse abfasste. — Das allein schon zeigt die Bedeutsamkeit der Disputation…

 

 

 

Was heißt radikal? – unter Beug auf Heidegger…

Martin Heidegger, Nietzsche, Erster Band, Klett-Cotta-Ausgabe, Stuttgart, 82020 (zitiert als I)

Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Klostermann-Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt a. M. 42014 (zitiert nach Abschn.)

Laura Beck, Change the World – Junge Weltretter, ttt, 4.10.2020

I

Das Wort radikal ist griechisch-römischen Ursprungs. Es geht zurück auf das griechische Wort ῥάδιξ, das im Lateinischen radix heißt – wobei im Schriftbild lediglich die griechischen durch lateinische Buchstaben ersetzt wurden. Im Deutschen sagen wir Rettich für eine Pflanze, die nur ein (einziges) Radix, eine Wurzelknolle, ist. Im Englischen heißt Rettich radish; im Französischen radis. In solch Sprachverwandtschaft kann man/frau unschwer unsere gemeinsame europäische Kultur des Pflanzens als in griechisch-römischem Erb-Boden gedeihend erkennen.

Auf Neugriechisch heißt radikal übrigens ριζικό, in lateinischen Buchstaben geschrieben Risiko (mit Betonung auf o) – ein Wort, das ebenfalls auf Altgriechisch ῥάδιξ zurückgeht. Alles Radikale wäre demnach Risiko behaftet. Und weiter: der Risikogesellschaft (Ulrich Beck), in der wir leben (weil wir uns nicht nur natürlichen, sondern auch selbst-geschaffenen Risiken aussetzen), wäre ein Bezug zur Radikalität immanent. Eine noch nicht gestellte Frage…

II

in seinem zweiten Hauptwerk „Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis)“ zeigt Heidegger, warum Philosophie einen neuen, völlig anderen Anfang braucht. Aus seiner radikal neuen Perspektive, dass die abendländische Philosophie in die Seinsverlassenheit (die „der Grund der Seinsvergessenheit“ ist) geführt habe, (Abschn. 55, S. 114) plädiert er für einen Neuanfang, wobei dieser Neuanfang radikal anders sein müsse (um eine neue Geschichte, anders als die bisherige, begründen zu können). Die von der Metaphysik geprägte Philosophie von den Vorsokratikern bis heute sei zu verlassen. 2.500 Jahre abendländische Geistesgeschichte seien in der Philosophie Nietzsches, im Nihilismus, zu ihrem Ende gekommen,

„einzig durch Nietzsche [sei…] das Ende der abendländischen Metaphysik“ vollzogen worden. (Abschn. 85, S. 174) Es gelte „Nietzsche als das Ende der abendländischen Metaphysik [zu] begreifen“ (Abschn. 89, S. 176)

und zwar als Nihilismus:

„Nihilismus heißt: Die obersten Werte entwerten sich.“ (I, S. 23) – Für Heidegger ist der Nihilismus Nietzsches Resultat dessen, „was Nietzsche selbst früh als seine Aufgabe erkannte: der Umkehrung des Platonismus.“ (Abschn. 90, S. 182) –

Und da keine „geschichtliche Bewegung […] aus der Geschichte herausspringen und schlechthin von vorne anfangen“ kann, (eb.) braucht es „die neuen Philosophen“, die „nach Nietzsche [als] Versuchende“, nicht als (All-)Wissende!, „die obersten Werte setzen“. (I, S. 23)

In den 30er Jahren, in den Jahren des wachsenden, immer mächtiger werdenden und sich durchsetzenden Hitlerregimes erkannte/sagte er ex post, dass sein Werk „Sein und Zeit“ (veröffentlicht 1927) noch auf der Grundlage und im Fahrwasser der (alten) Philosophietradition geschrieben wurde und daher zwar radikal, aber nicht radikal genug für die anstehende/ausstehende, komplett neue Blickbahn gewesen sei. –

Übrigens kritisiert er in seinen „“Beiträgen“, seinem zweiten Hauptwerk, u.a. die nationalsozialistische Ideologie hinsichtlich der ihr zentralen Aspekte des Völkischen und des RiesenhaftTotalen pointiert scharf.

„der eigentliche Nihilismus ist: man will sich die Ziel-losigkeit nicht eingestehen. Und deshalb »hat« man plötzlich wieder »Ziele« und sei es nur, daß, was allenfalls ein Mittel für die Zielaufrichtung und Verfolgung sein kann, selbst zum Ziel hinaufgesteigert wird: das Volk z.B. Und deshalb ist eben da, wo man wieder Ziele zu haben glaubt, wo man wieder »glücklich« ist, wo man dazu übergeht, die bisher den »Meisten« verschlossenen »Kulturgüter« (Sinus und Seebadereisen) allem »Volke« gleichmäßig zugänglich zu machen, eben da, in dieser lärmenden »Erlebnis«-Trunkenboldigkeit, ist der größte Nihilismus“. (Abschn. 72, S. 139)

Das Hitlertum sieht er als Teil eines überkommenen-altmodischen, nicht zukunftsorientierten Denkens. Heideggers (freilich nur in der Abgeschiedenheit seiner Berghütte, etc. vorgetragener) „Punk“ basiert auf Nietzsches Nihilismus. Selbst der Nihilismus unserer Punk-Generationen (ab Mitte der siebziger Jahre) ist nur eine Nachwirkung der von Heidegger konstatierten Machenschaften in unseren Gesellschaften.

III

Als die Perser 480 v. Chr. Athen eroberten, verbrannten sie die Akropolis. Doch schon einige Tage später begann der dort mitverbrannte Olivenbaum – den dem Mythos zufolge die Göttin Athene den Athenern als Geschenk vermacht hatte – neue Blätter zu treiben. Das heißt: (Selbst verbrannte) Pflanzen können sich regenerieren. Will man/frau eine Pflanze radikal zerstören, so muss man/frau sie vollständig ausgraben und vor allem ihre Wurzeln (lat. radices) zerstören. Denn Pflanzen beginnen zu leben, indem sie Wurzeln bilden (lat. radices agere). Solange die Wurzeln einer Pflanze leben, lebt sie weiter. Sogar Zähne leben so lange, wie ihre Wurzeln da sind. –

Hierzu zwei Aspekte aus Heideggers Philosophie nach Sein und Zeit:

      • Zum einen: die Wurzelmetaphorik im Streit Erde vs. Welt unter Bezug auf das Verstehen:

Das „Verstehen [ist] als Entwurf ein geworfener […] gewurzelt in der Erde, aufragend in eine Welt.“ (Abschn. 138, S. 259)

Begriffe, die nicht entsprechend gegründet werden, nennt Heidegger folglich ‚entwurzelte Begriffe‘. So sind für ihn

„Erörterungen über essentia und existentia […] ein leeres Geschiebe entwurzelter Begriffe.“ (Abschn. 150, S. 272)

      • Zum andern: Heidegger betrachtet Zeit als etwas, das im Zeit-Raum stattfindet. Doch im Gegensatz zu Einstein verbleibt für ihn das Gefüge von Raum und Zeit unter dem Primat der Zeit; er verräumlicht die Zeit, aber er verzeitigt nicht (bzw. nur andeutungsweise) den Raum:

Das „Durchdenken der Zeit bringt sie in der Bezogenheit auf das Da des Da-seins mit der Räumlichkeit des Da-seins und somit mit dem Raum in wesentlichen Bezug […] Aber Zeit und Raum sind hier, an der gewöhnlichen Vorstellung von ihnen gemessen, ursprünglicher und vollends der Zeit-Raum, der keine Verkoppelung, sondern das ursprünglichere ihrer Zusammengehörigkeit.“ (Abschn. 95, S. 189)

und

„Die Zeit als entrückende-eröffnende ist in sich […] zugleich einräumend, sie schafft »Raum«. Dieser ist nicht gleichen Wesens mit ihr, aber ihr zugehörig, wie sie ihm.

Raum muss aber auch hier ursprünglich als Räumung begriffen sein (wie sich diese in der Räumlichkeit des Da-seins anzeigen, aber nicht voll ursprünglich begreifen läßt).“ (Abschn. 98, S. 192)

IV

in der aktuellen Politik sieht man/frau einen derart radikalen Ansatz in der Bewegung „Fridays for Future“. Es begann unspektakulär mit Protesten eines einzelnen kleinen, unscheinbaren, schüchternen Schulmädchens namens Greta Thunberg irgendwo in Europa. In wenigen Wochen erwuchs daraus eine weltweite Bewegung. Und noch immer eint all die Protestierenden einzig die ursprünglich nur von einer Einzelnen vorgetragene Forderung nach einem radikalen Wechsel der Klimapolitik. Sie alle haben ein gemeinsames Ziel. Doch wie es erreicht werden könnte, wissen sie nicht. Die Umsetzung ihrer Forderung in Politik sehen sie nicht als ihre Aufgabe an. Wohl aber das Engagement in konkretem Handeln wie z.B. Müllbeseitigung, und Entwicklung technischer Lösungen (siehe ttt-Beitrag von Laura Beck). –

Auch Heidegger stellt eine radikale Forderung. Er sieht es als nötig an, dass die Philosophie neu anfange. Der wesentliche Grund hierfür sei die „Seinsverlassenheit, näher gebracht durch eine Besinnung auf die Weltverdüsterung und Erdzerstörung“. (Abschn. 56, S. 119) Er skizziert diesen anderen Anfang (u.a. in den Beiträgen) vor, aber er formuliert die entsprechende Philosophie nicht aus. Er sagt, dass dies die Aufgabe für die Zukünftigen sei. (siehe insbes. Abschn. 45, S. 96ff.) –

Im Gegensatz zu den bereits politisch etablierten „Grünen“ sind die „Fridays for Future“-Aktivisten (noch) keine Politiker/-innen. Doch vergessen wir nicht: auch die Grünen waren in ihren Anfängen – lange vor der Wiedervereinigung – eine radikale Bewegung: für Frieden, gegen Atomkraft, usw. Doch jetzt agieren sie als Partei – ähnlich wie andere Parteien. (Derzeit rangieren sie in Umfragen sogar als zweitstärkste Kraft nach der CDU/CSU.) –

Doch vergessen wir nicht, dass das Vergleichen, so Heidegger, bereits der erste Schritt sei, um das Verglichene anzugleichen, ja identisch zu machen:

„Alles Vergleichen ist aber im Wesen ein Gleichmachen, die Rückbeziehung auf ein Gleiches, das als solches gar nicht ins Wissen kommt, sondern jenes Selbstverständliche ausmacht, aus dem alles Erklären und Beziehen seine Klarheit nimmt.“ (Abschn. 76, S. 151) –

Siehe auch die Ansätze der Gleichschaltung, der totalen Konformität, etc. die das Hitler-Regime radikal umsetzte und dessen Machenschaften Heidegger als Zeitzeuge beobachtete und (zumindest) öffentlich nicht kritisierte (anfangs sogar als Neuanfang begrüßte):

„Die totale Weltanschauung muß sich der Eröffnung ihres Grundes und der Ergründung ihres Reiches ihres »Schaffens« verschließen; d. h. ihr Schaffen kann nie ins Wesen kommen und zum Über-sich-hinaus-schaffen werden, weil die totale Weltanschauung damit sich selbst infrage stellen müßte. Die Folge ist die: das Schaffen wird im vorhinein ersetzt durch den Betrieb. Die Wege und Wagnisse einstmaligen Schaffens werden in das Riesenhafte der Machenschaft eingerichtet, und dieses Machenschaftliche ist der Anschein der Lebendigkeit des Schöpferischen.“ (Abschn. 14, S. 40f.)

V

Eine andere Spielart von Radikalität besteht darin, zu den Wurzeln historisch/geschichtlich zurückzugehen/zurückzukehren und das Leben von neuem zu beginnen. Auslöser für diese Rückbewegung ist ebenfalls die Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Doch im Unterschied zu der vorab genannten Spielart geht es hier nicht darum, die (bisherige) Tradition zu verlassen, sondern sie zu desavouieren. –

Heidegger betont ausdrücklich, dass die neue Blickbahn (des anderen Anfangs) die bisherige (des ersten Anfangs) nicht abwehrte (sondern grundlege):

„die Ab-setzung des anderen Anfangs gegen den ersten [ist…] niemals »Verneinung« im gewöhnlichen Sinne der Abweisung und gar Herabsetzung.“ (Absch. 90, S. 178)

„Die Rede vom Ende der Metaphysik darf nicht zur Meinung verleiten, die Philosophie sei mit der »Metaphysik« fertig, im Gegenfall: diese muß ihr jetzt erst in ihrer Wesensunmöglichkeit zugespielt und die Philosophie selbst so in ihren anderen Anfang hinübergespielt werden.“ (Abschn. 85, S. 173) –

Ein Beispiel hierfür ist der Islamische Staat (IS). Seiner Ideologie zufolge entspreche der zur Zeit gelebte Islam nirgendwo der vom Propheten Mohammed geforderten Praxis. Die Geschichte des Islam sei eine Geschichte des Ab-/Verfalls. Es sei geboten, die islamische Bewegung neu zu beginnen. Vorbild für den Neuanfang ist das Leben, wie es Mohammed und sein Gefolge (einst) führten.

Doch die Rückkehr zu den Anfängen muss nicht Jahrhunderte an Geschichte voraussetzen. Die diversen Neonazi-Bewegungen sehen sich als Nachfolger des Hitler-Regimes, das 1945, vor weniger als einem Jahrhundert, unterging. –

Heidegger zufolge gründen alle radikalen Bewegungen im (von Nietzsche prophetisch angekündigten und vorformulierten) Nihilismus. Machtgeile Führer wie Trump, Putin, Erdoğan, Lukaschenko usw. sind nur möglich als Emporkömmlinge, Helden aus nihilistischem Umfeld. Sie sind Gefangene ihrer eigenen Machenschaften. Sie bedürfen ihrer Unterstützer, die sie möglichst zahlreich um sich scharen, um sich und ihnen die Macht und damit die Machenschaften als Erwerbsgrundlage (noch) möglichst lange zu erhalten. Ein Pakt auf Gegenseitigkeit…