Überlegungen zur Tragödie

Im Nachgang zu Flaßpöhlers Sensibilitätsgequake einige wenige Anmerkungen zur Tragödie und Tragödientheorie.* Denn gerade die Tragödie führt vor Augen, wie schon die Athener ihre – um es Flaßpöhlerisch zu sagen – Sensitivität nutzten, um zu schaffen, was Aristoteles als die Sprachhandlung, μῦθος, als Nachahmung, μίμησις, der Praxis, πρᾶξις, dessen, was vor sich geht, bezeichnet („ἔστιν δὲ τῆς μὲν πράξεως ὁ μῦθος ἡ μίμησις“, Περὶ ποιητικῆς, 1450α, ~4).** Es gilt Mythen zu schaffen („μύθους ποιεῖν“, 1449β, ~5) die nicht Nachahmung der Menschen, sondern ihres Tuns und Lebens sind („μίμησίς ἐστιν οὐκ ἀνθρώπων ἀλλὰ πράξεων καὶ βίου“, 1450α, ~16). Es geht also um das Herstellen und Gestalten von möglichst realitätsnahen Handlungsabläufen. (Aristoteles wird aufgrund seines μίμησις-Verständnisses daher gern als erster Adäquationstheoretiker bezeichnet.)

Zur Tragödientheorie

Περὶ ποιητικῆς des Aristoteles sind Reflexionen über die Poetik, keine vollständig durchkomponierte, stringent ausformulierte Gesamtdarstellung. Und erst recht sind die folgenden Ausführungen lediglich Skizzen zu Einzelaspekten von Aristoteles‘ Tragödientheorie.

Jedes ausgesprochene Machtwort beruht auf Entscheidungen. Es bewirkt Reaktionen, Handlungen, pro oder contra. Da die Reaktion bewegt/bewirkt ist, bedeutet sie auf Seite der Betroffenen πάθος, leidvolles Erleben, insbesondere dann, wenn die Forderung des Mächtige(re)n mit den Werten derer, an die die Forderung gerichtet ist, konfligiert. Doch wie immer die Reaktionen ausfallen, sie wirken auf die Mächtigen zurück. Stehen die Auswirkungen im Gegensatz zur Ausgangsintention, bezeichnet Aristoteles dies als Peripetie: Peripetie, περιπέτεια, ist der Umschlag, μεταβολή, dessen, worauf das Handeln abgezielt wurde, des ursprünglich Intendierten in sein Gegenteil („ἔστι δὲ περιπέτεια μὲν ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττομένων μεταβολὴ“, Περὶ ποιητικῆς,1452a, ~21). Aus Sicht des zuschauenden Zuhörers aber kann und soll – so Aristoteles – das Mitleiden am (schweren) Leid, πάθος (siehe insbes. Περὶ ποιητικῆς, 1452β, ~11) , οἰκτρά (siehe Περὶ ποιητικῆς, 1453β, ~14), derer auf der Bühne zur κάθαρσις, Reinigung der Psyche, ψυχή, vom Leid des Lebens führen. (Περὶ ποιητικῆς, 1449β, ~28)***

Sophokles‘ Wort, dass es das Beste sei, gar nicht erst geboren zu werden und das Zweitbeste, falls doch geboren worden, möglichst früh zu sterben (Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ, 1224ff.), gründet in der Grunderfahrung schicksalsbestimmten Lebens –: dass jede Entscheidung notwendigerweise Folgen nach sich zieht (ob man/frau dafür kann oder nicht). In dieser Grunderfahrung wurzelt die Grundstimmung von πάθος. Ödipus, der selbstgeblendete, unbehauste Exilant, spricht es kurz vor seinem Tod als Summe**** seines Lebens aus: All mein Tun ist mehr (passiv) erlitten als (aktiv) getan. („ἐπεὶ τά γ᾽ ἔργα μου πεπονθότ᾽ ἐστὶ μᾶλλον ἢ δεδρακότα“, Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ, 266f.)

Die Tragödie: das erste große Sensibiliisierungsprogramm – der Antike!

Philosöphchen Floßpöhler zum Lesen empfohlen!!

Zur Tragödie

  1. Tragödien sind ausnahmslos athenisch, nicht (gesamt-)griechisch. Tragödien haben gemeinsam, dass sie im Dionysos-Theater von Athen zur Aufführung kamen oder (wie Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ) zur Aufführung verfasst wurden. Das Attribut griechisch ist also falsch und das Attribut athenisch ist überflüssig.
  2. Aufführungsort (Dionysostheater) und Aufführungszeit (Dionysien) weisen die religiöse Bedeutung der Tragödie aus. Tragödien haben dionysischen Fest-Charakter. Gott Dionysos wird direkt (z.B. in den Βάκχαι des Euripides) oder indirekt ins Geschehen einbezogen. (So wird er in Ἀντιγόνη zur Reinigung der Stadt von gewaltiger Krankheit herbeigerufen, 1140ff.)
  3. In Tragödien werden – von einigem effekthascherischem Beiwerk zur Unterhaltung der Massen abgesehen – ernste Sprachhandlungen vollzogen. Jedes Wort ist mit Bedacht zu wählen. Und es sollte nur so viel gesprochen werden wie nötig. Jede Art von Geschwätzigkeit ist zu vermeiden. Schauspieler verbergen sich hinter (statischen) Masken. Es agieren nur die Stimmen, sei es von Einzelnen oder von Mehreren, von Vielen, von Gemeinschaften (Chören). Die Reden der Chöre sind gegenstrophig gebaut: auf jede Strophe folgt eine Gegenstrophe. (Das heißt aber nicht im Sinne von Schulaufsätzen, für und wider das Rauchen. Es geht um Nuancen…)
  4. Im Zentrum der Sprachhandlung steht (fast) immer eine einfache, einzige, alles Weitere entscheidende Entscheidung eines Mächtigen. (In der Tragödie Antigone (Ἀντιγόνη) ist es Kreon – kρέων bedeutet Herrscher –, der mit seinem Befehl die Tragödie ins Rollen bringt. In Οἰδίπους τύραννος ist Ödipus als Tyrann tituliert, nicht als βασιλεύς, König. Wenn wir gleichwohl von König Ödipus sprechen, ist das in unserem Sprachgebrauch zwar nicht falsch, aber die von Sophokles unterstellten Machtverhältnisse mehr als verharmlosend. Denn als Tyrann, also unrechtmäßig: zwar in Erbfolge, aber als Vatermörder an die Macht gekommen, hat Ödipus (bis zum Sturz) die Macht, die Konsequenzen seines Handelns selbst zu gestalten. Er wählt die Selbstblendung und das Exil. Die Selbstblendung vollzieht er. Dann wird er von Kreon, dem nun Herrschenden zudem ins Exil gejagt. (Wäre Ödipus selbstbestimmt ins Exil gegangen, hätte Kreon sich nicht schuldig gemacht…) Es geht immer um das Umgehen mit Macht. Weissagen heißt weise sagen; weise sagt, wer die Fähigkeit aufbringt, die Konsequenz(-en) einer geforderten Entscheidung vorab nüchtern zu bedenken und diese – im Rahmen des von den Göttern Erlaubten! – auszusprechen. (Die Macht des Orakels von Delphi beruhte letztlich darauf, dass seine Weissagungen eintrafen. Manch Fragender soll die Antwort dem Orakel gar vorgegeben haben: self-fulfilling prophecy…)
  5. Jede getroffene Entscheidung zeitigt Konsequenzen und verursacht, schafft Leiden. Gott Dionysos ist das Sinnbild für das Leiden alles Lebendigen – in seinem ersten Leben (als Zagreus) überlebte er das Säuglingsalter nicht; er wurde gevielteilt –, aber auch für die Erlösung vom Leid. Er ist es, der vermag, die Psyche zu reinigen. Er (wie auch Gott Osiris) ist der Wiedergeborene, Auferstandene (Dionysos) und wird als Baby (Iakchos) verehrt. (Weih-Nacht-en lässt grüßen.) — Aischylos prophezeite in seiner Tragödie Der gefesselte Prometheus (Προμηθεὺς Δεσμώτης) Gottvater Zeus gar seinen Untergang, sollte er einen Sohn (Dionysos) zeugen. — Ein weiser Mann, der Aischylos…

*In Wikipedia heißt es:

„Die Tragödie ist eine Form des Dramas und neben der Komödie die bedeutsamste Vertreterin dieser Gattung. Sie lässt sich bis in das antike Griechenland zurückführen.“

(https://de.wikipedia.org/wiki/Trag%C3%B6die, zugegriffen am 2.1.2022)

Eine Aussage, die auf Abwege führt…

**Alle Übersetzungen sind vom Autor: Versuche…

***ψυχή ist für Aristoteles das Vermögen eines Lebewesens, Leben zu ermöglichen und zu erhalten (Περὶ ψυχῆς, 415a, 15ff.) — Heidegger übersetzt „παθήματα τῆς ψυχῆς“ (Hermeutik, 16a, 6f) treffend mit „Erleidnisse der Seele“ (Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, 244)

****Insbesondere Heidegger hat immer wieder auf die Grundbedeutung von λέγειν: (ver-)sammeln hingewiesen. Aristoteles‚ Bestimmung des Menschen als ζῷον λόγον ἔχον ist entsprechend mit zu deuten. Die spätere lateinische Fassung animal rationale verunklart die ursprüngliche Intention dann endgültig. (Siehe insbes. Beiträge zur Philosophie, 498)

Lewitscharoffs Froschgesänge

Sibylle Lewitscharoff, Das Pfingstwunder, Berlin, 2018

Unter Bezug auf den 9. Gesang in Dante Alighieris Die Göttliche Komödie (Vers 73ff.) bindet Sibylle Lewitscharoff in ihren wunderbaren Roman Das Pfingstwunder nachfolgend zitierte Stelle ein. Der Roman rekapituliert die Redebeiträge eines in Rom, der ewigen Stadt, zu Pfingsten abgehaltenen international besetzten Dante-Kongresses aus Sicht des einzigen Teilnehmers, der nicht vom Pfingstwunder erfasst, aus Irdischem hinweggetragen wurde, sondern unerlöst sich sein Versagen zu erklären trachtet…

„Aber die Frösche hatten es ihm angetan. Wer weiß, vielleicht haben die Japaner ein inniges Verhältnis zu Fröschen. Liest man die zauberhafte Geschichte Frosch rettet Tokyo von Haruki Murakami, weiß man, der Japaner steht mit dem Frosch auf du und du, bewirtet ihn gar höflich mit Tee. In unserem Fall haben wir es allerdings nicht mit leibhaftigen Fröschen zu tun, sondern mit aufgescheuchten Seelen, die in alle Richtungen schießen, um froschgleich, wie Dante es beschreibt, im Wasser unterzutauchen oder sich in der schaumigen Lache zu bergen, sobald der große Feind näher tritt und die Scharen vor sich herscheucht. Mit zuckenden Händen und fortstrebenden Fingern ahmte Ryunosuke die Flucht der Seelen nach, wodurch er große Aufmerksamkeit erregte auch bei [Hund] Kenny, der sich auf die Vorderpfoten stellte und ihn erwartungsvoll anblickte, als würde der Mann ihm sogleich eins dieser Fröschlein ins Maul jagen.“ (111f.; im Original kein Fettdruck)

Antigone-Adaption frei nach Thea Dorns „Trost“-Gesang

Thea Dorn, Trost. Briefe an Max, München, 2021

Wolfgang Ambros, Es lebe der Zentralfriedhof, google.com, zugegriffen am 25.2.22021

Thea Dorn singt in ihren Briefen an Max den Zorn Johannas (wie einst Homer in der Ilias den Zorn des Achill):

„Ich lasse mir meinen Zorn nicht ausreden!!!!“ (152)

Johannas Zornesausbruch gründet im Tod ihrer betagten Mutter:

„Aber meine Mutter, meine brillante, dauerumtriebige, vierundachtzigjährige, bescheuerte Mir-kann-keiner-was-anhaben-Mutter – sie musste stur nach Italien fahren, obwohl sich dieses Land bereits mit einem Bein im Ausnahmezustand befand. Obwohl es bereits Reisewarnungen gab.“ (11)

Vier Gründe nennt Johanna für ihren Zorn im ersten Brief:

„Meine Mutter ist tot.

  1. Gestorben, weil sie sich in ihrem verdammten Leichtsinn für unsterblich hielt.

  2. Gestorben, weil blinde Politiker nicht sehen wollten, welche Gefahr auf uns zukommt.

  3. Gestorben, weil Wissenschaftler fröhlich verkündet haben, mit ein bisschen Händewaschen und In-die-Armbeuge-Niesen sei dieses Virus schon auszutricksen.

  4. Gestorben, weil unsere Krankenhäuser von einer Seuche heillos überfordert sind.“ (9)

Den Bezug zu Sophokles′ Tragödie Antigone stellt Dorn wie folgt her:

„Die grassierende Staatsräson ist um kein Haar weniger brutal als die von König Kreon, der Antigone verbieten will, ihren toten Bruder zu bestatten. Nur dass unser Staatsfeind Nr. 1 ein Virus ist.“ (16)

—-

Bleiben wir ein wenig bei Sophokles Tragödie Antigone.

In der Tat ist die Ausgangskonstellation vergleichbar. Antigone möchte ihren Bruder bestatten, doch Herrscher Kreon verbietet es. In einer Nebenrolle tritt als dritte Maske Antigones Schwester Ismene auf: Antigone widersetzt sich dem Herrscher; sie steht für Rebellion. Ismene hingegen unterwirft sich dem Herrscher; sie steht für Duckmäusertum. Aus der Schar der weiteren, kleineren Nebenrollen sticht vor allem der Seher Teiresias heraus. Denn er verkündet das Wort Gottes. Den Chor schließlich bilden die Greise aus Theben, der Stadt, in der die Tragödie spielt.

Unsere Corona-Adaption könnte dann wie folgt aussehen:

  • Johanna, die Zornige übernimmt die Rolle der aufmüpfigen Antigone (gesprochen von Thea Dorn persönlich);
  • Mutti, gefühlskalt-emotionslos, zahlenvernarrt-technokratisch und einschläfernd-verstaubt ersetzt als eingeblendete Sprechblase den machtgeilen, zynischen Kreon;
  • Doktorchen der Volksverdummung Karl Lauterbach, der TV-Lieblings-Politikerklärer für Markus Lanz und Co., ebenso fantasie- wie humorlos, spielt Muttis Lieblingsagent (des VEB Horch und Guck);
  • Professor Lothar H. Wieler verkündet – anstatt Seher Teiresias – drei Mal täglich die Schluck-Botschaften des Inzidenz-Orakels;
  • den Chor der dümmlich Alten bilden (beliebige) Omas und Opas aus der Verwahrstation Zum lieben Jesulein.

Als Zusatzgast wäre Heribert Prantl denkbar, der, um das Thema Corona in einen größeren, allübergreifenden Gutmensch-Diskursrahmen einzubetten – anstatt des Chors –, die Schlussweisheit verkünden darf:

„Vergesst mir ob Corona die Flüchtlinge nicht!“

—-

Oder sollten wir den Soff nicht eher in eine

Komödie

verpacken und das Virus auf die Anklagebank setzen?

Wie herrlich-unbedarft war doch die Zeit, als Sänger Wolfgang Ambros noch echt Wienerisch makaber den 100. Jahrestag des Bestehens des Zentralfriedhofs feiern durfte:

Es lebe der Zentralfriedhof
Und olle seine Toten
Der Eintritt is‘ für Lebende
Heit‘ ausnahmslos verboten,
Weü da Tod a Fest heit‘ gibt die gonze lange Nocht,
Und von die Gäst‘ ka anziger a Eintrittskort’n braucht

Dank da recht schee, Woifi! Du fehlst ma!

 

 

Corona: Notstand-Politik-Verarsche

Andrea Maurer, Corona-Maßnahmen im Streit der Wissenschaft, heute-journal, 19.2.2021

Alexander Weinlein, »Panikmache«, in: Das Parlament, 15.2.2021

Peter Römer, Die einfachen Notstandsgesetze, in: Kritik der Notstandsgesetze, hrsg. v. Dieter Sterzel, Frankfurt am Main 1968, 187-207

Es war einmal in Zeiten, als die Studenten noch aufmuckten, dass die Regierung vergeblich versuchte, die Demokratie durch Notstandsgesetze auszuhebeln. Es war einmal, 1968, dass Kritiker Peter Römer schrieb:

Die Sicherstellungsgesetze sind Ermächtigungsgesetze. Sie enthalten keine Bestimmungen, die unmittelbar anwendbar und vollziehbar sind. Sie ermächtigen vielmehr die Bundesregierung und gegebenenfalls einzelne Bundesminister zur umfassenden wirtschaftlichen Lenkungsmaßnahmen“. (188; im Original kein Fettdruck)

Heute, in den Zeiten der Pandemie muckt höchstens noch die böse, böse AfD auf. Doch die ist ja in den Augen aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien (Neo-)NaziPartei und folglich nicht ernst zu nehmen und tot zu schweigen — oder wenn das nicht geht: zu diffamieren. Und so findet es denn auch Gutmensch Alexander Weinlein reine „»Panikmache«“ der AfD, dass in dem vom Bundesinnenministerium im März 2020 in Auftrag gegebenen Papier Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen ein

„Worst Case“-Szenario einer ungehemmten Durchseuchung der Bevölkerung mit bis zu einer Million Toten [suggeriert wird]. Um dies zu verhindern, müssten der Bevölkerung die Konsequenzen dieses schlimmsten Falles deutlich vor Augen geführt werden. Auch, um die „die Akzeptanz und Sinnhaftigkeit von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen“ zu erhöhen, heißt es ganz offen.“ (im Original kein Fettdruck)

Wer macht hier Panik? Die Wissenschaftler als zu Regierungsberatern bestellte Lobbyisten, Verräter des Wissenschaftsethos, die z.B. das Worst Case-Szenario bewusst an die Wand malen (helfen)? Oder die, die solche Machenschaften geißeln?

Immerhin: Andrea Maurer durfte es im heute-journal (vom 19.2.2021) wagen, die AfD-Kritik aufzugreifen und das Vorgehen der Regierung kritisch zu hinterfragen:

„Welcher Wissenschaftler, welche Wissenschaftlerin findet Gehör? Die Antwort ist in der Jahrhundertkrise Pandemie auch politisch. Die Kanzlerin [Mutti im Vorruhestand] hat sich für eine Schule entschieden, wie sie selbst erklärt:

„Die eine Schule sagt, wir müssen alles dafür tun, dass wir die Zahl der Infizierten so klein halten, dass wir das nachverfolgen können und dass uns das Virus nicht aus der Kontrolle gerät und

die andere sagt, schützt doch mal die vulnerablen Gruppen und dann können die anderen ihr Leben so weiterführen, wie sie‘s immer schon geführt haben. [!!!]

Und diese zweite Variante ist für mich nicht die Variante.“

Tatsache ist, die zweite Schule wird im Kanzleramt weniger gehört. Auch bei der Beratung der Bund-Länder-Runde, zu denen das Kanzleramt einlädt, ist sie kaum vertreten. Von einseitiger Beratung ist die Rede. Der Chef der Runde [Michel Müller, Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz] widerspricht:

„Derjenige, der einlädt, sieht natürlich auch, dass er Beratung hat, die noch mal die eigene Position reflektiert, gegebenenfalls aber auch unterstützt. Nur wir lassen uns ja nicht aus einer Richtung und in einer Situation beraten. Also die Beratungsrunden nach dem Kanzleramt haben dann oft eine Folgewirkung ja auch in den jeweiligen Landesregierungen.“

Der Virologe Klaus Stöhr war lange Forschungskoordinator bei der WHO. Aktuell gehört er zu denen, die als Maßnahmenkritiker gelten. Stöhr beklagt Lagerbildung und fordert ein unabhängiges nationales Expertengremium:

„Es ist natürlich schwierig für uns als Wissenschaftler, die wir den wissenschaftlichen Diskurs lieben und suchen, auch in gewissen Lagern nicht nur eingeteilt zu werden, sondern auch zu bleiben.“

Es geht um Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit. Expertise auf Bestellung, diesen Eindruck erweckt ein sogenanntes Geheimpapier [mit Titel: Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen], das das Innenministeriumletzten April bei Wissenschaftlern in Auftrag gab. Von „gewünschte[r] Schockwirkung“ ist im Papier die Rede. [!!] Ein Anwalt hat jetzt die Herausgabe der dazugehörigen Korrespondenz beim RKI [Robert-Koch-Institut] erstritten. 200 Seiten Mail-Verkehr [!] zum Großteil geschwärzt. [!] Der Innenausschuss des Bundestagesbeschäftigt sich mit dem Fall.“

Was es da wohl zu schwärzen gab??

Was bei der Untersuchung wohl herauskommen wird??

 

Von Schirachs grandios neues Meister-Machwerk „Feinde – Gegen die Zeit“

Ferdinand von Schirach im Gespräch mit Wolfram Eilenberger über Die Feinde des Rechts, SRF, Sternstunde Philosophie, 10.1.2021

Ferdinand von Schirach, Feinde – Gegen die Zeit, ARD, 3.1.2021

Thomas Kirn, Trauer, Wut und Verachtung sind geblieben, FAZ online, 25.9.2012

Maximilian Haase, Kölner Jubiläums-„Tatort“: Gab es in der DDR spionierende Prostituierte?, zum Tatort „Der Tod der Anderen“, Weser Kurier online, 10.1.2021

Der Tod der Anderen, Tatort (aus Köln), ARD, 10.1.2021

Katja Weise, NDR Buch des Monats Januar: „Unheimlich nah“, NDR, 12.1.2021

Johann Scheerer, Unheimlich nah, München, 2021

Sophokles, Antigone, Übersetzt von Friedrich Hölderlin, Bearbeitet von Martin Walser und Edgar Selge. Berlin, 62017

Was wurde um den Spielfilm Feinde – Gegen die Zeit in der ARD für ein Aufwand betrieben! Er wurde vorab massiv beworben und nach der Ausstrahlung vielfach besprochen und kommentiert. Ist der Film doch Produkt eines „der erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart“. (Begleittext zur Sternstunde) Und alles nur, um das TV-Publikum (nochmals) darüber aufzuklären, dass der deutschen Polizei Folter anzuwenden untersagt ist und unter allen Umständen unterlassen werden müsse.

Ausgangspunkt des Films ist der mittlerweile fast zwei Jahrzehnte (!!) zurückliegende Fall der Entführung und Ermordung des elfjährigen Jakob von Metzlers im Jahr 2002. Denn es begab sich Unerhörtes:

„Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner verfiel [damals…] zur Rettung des Kindes, für dessen Überleben er noch eine winzige Chance sah, auf einen in den Polizeiannalen bisher einmaligen Vorgang: Er ordnete die Androhung von Schmerzen durch einen Untergebenen an, er ordnete Vorbereitungen zum Schmerzzufügen an, er verlangte, dies solle unter ärztlicher Aufsicht geschehen, und er ordnete Nachforschungen über die Möglichkeit eines Wahrheitsserums an.“

Ferdinand von Schirach, der damals bereits (ganz Gutmensch) Stellung bezog und klar machte, dass die Anwendung von Folter unter keinen Umständen zu rechtfertigen sei, bekam, wie er in einem Gespräch mit Wolfram Eilenberger jetzt (!!) ausführte, u.a. Post von Leuten, die seine Rechtsauffassung nicht teil(t)en:

„Dass Leute aus einem ersten Impuls heraus denken: Wie kann man nur so kalt sein? Ja, wie kann man nur ein Kind den Prinzipien des Rechtsstaats opfern? Das ist eine verständliche Reaktion. Und ich dachte mir, vielleicht muss man das noch mal anders erzählen, diese Geschichte. Und auch klar machen, was die Folge dieser bösen Tat eigentlich ist, nämlich ganz am Schluss ist es die Folge, dass alle verlieren: der Rechtsstaat verliert, aber auch der Beschuldigte kann nicht verurteilt werden.“

Is‘ ja toll! — Warum von Schirach aber erst jetzt auf diese Vorgänge von anno dazumal reagiert, dazu schweigt er stille.

Und auch was mit dem Opfer, dem entführten Kind, geschieht, blendet sein Film, der ja laut Autor eine andere Erzählung des Ausgangsfalls intendiert, aus. Was aus der entführten Zwölfjährigen im Film wird, interessiert nicht.

Ganz anders im jüngsten Tatort-Krimi:

„Der bemitleidenswerte Norbert Jütte (Roland Riebeling) wurde gekidnappt und in ein Kellerverlies gesperrt, wo er jämmerlich zu sterben drohte, was der „Tatort“ in oft harten Szenen begleitete.“ (im Original kein Fettdruck)

Und was passiert, wenn der/die Entführte frei kommt? Was passiert mit den Familienangehörigen? — Johann Scheerer, der Sohn des entführten und nach mehreren Wochen erst freigelassenen Jan Philipp Reemtsma, der gerade seinen zweiten Roman über seinen Aufarbeitungsprozess veröffentlichte, der vom NDR zum Buch des Monats Januar 2021 gekürt wurde, meint:

„Ich glaube, dass der Prozess, sich überhaupt als Opfer zu sehen, in den allermeisten Fällen erst sehr, sehr lange nach dem tatsächlichen Verbrechen überhaupt anfängt. Wie lange es dauert, bis der abgeschlossen ist, ist, glaube ich, sehr individuell verschieden.“

Für den Gutmensch-Juristen von Schirach aber zählen nicht die Ängste und Qualen der Opfer. Die sind ihm scheiß egal. Ihm geht es nur um die eindeutig juristischen Aspekte: und zwar aus seiner Sicht auf das Recht. Das im Film Dargestellte ist bloß Mittel zum Zweck: Vorlauf zur und in die Rede des (in sich selbst verliebten) Anwalts: des Gutmenschen par excellence. Und so erzählt von Schirach in seinem Film denselben (fiktiven) Fall aus lediglich zwei Perspektiven, zwei Handlungssequenzen: aus der des absolut bösen Polizisten, weil der den vermeintlichen Entführer foltert(e), und aus der des absolut guten, arrogant-selbstgerechten Rechtsanwalts des vermeintlichen Entführers. So sind die Rollen von Gut und Böse von Anfang an clare et distincte eindeutig präzisiert und zugeordnet. Die dem Fall zu Grunde liegende Beziehung Entführer:Opfer verkommt in beiden Erzählungen zur bloßen Staffage. Selbst die Beziehung Polizist:Entführer ist rein funktional ausgeleuchtet und instrumentalisiert.

(Anders als z.B. in Doğan Akhanlıs lesenswertem Roman Fasıl, in dem er, der selbst gefoltert wurde, Folter aus Sicht des Gefolterten und des Folterers in zwei separaten Erzählsträngen gegen- und miteinander bespiegelt. Im Mittelteil des Buchs, in dem sich die beiden Stränge treffen, auf den sie vorlaufen und sich begegnen, sind die Namen derer auf transparentem Papier eingeblendet, die seinerzeit von der türkischen Militärjunta unter General Kenan Evren 1980/81 zu Tode gefoltert wurden. — Bislang ist dieses Stück nacherlebbar gemachter Geschichte leider nicht ins Deutsche übersetzt.)

Die holzschnittartig vorgetragene Film-Inszenierung von Schirachs hingegen dient nur dazu, auch dem letzten Depperl von Zuschauer für alle Zeiten die Gutmensch-Sicht einzubläuen, dass Folter im Polizeieinsatz prinzipiell unstatthaft sei und gar nie, nie nicht angewandt werden dürfe. Und so kulminieren die beiden Film-Erzählungen – die des Polizisten und die des Rechtsanwalts – denn auch in der Gerichtsverhandlung. In ihr wird der Entführer durch das durch den Rechtsanwalt dominierte Gerichtsverfahren aus seiner Rolle als Täter entbunden und sukzessive zum Opfer von Polizeigewalt umgewertet und ummaskiert; und statt des Entführers wird der Polizist auf die Anklagebank gesetzt. Auf dass allen erwartungsvoll vor der Glotze Sitzenden das Licht der TV-Moral aufgehe: Der Polizist ist der Böse! Der Verbrecher ist ein armes Opfer von Polizeiwillkür – habt Mitleid, ihr Zuschauer! – und ist — so die Moral von der Geschicht‘ — entsprechend auf freien Fuß zu setzen.

Von Schirach hätte sein Belehrungsstück freilich noch anders, z.B. als griechische Tragödie aufführen können. Dann aber wäre freilich der Vorführeffekt von Gut (Anwalt) vs. Böse (Polizist) nicht mehr haltbar gewesen. Denn, wie Martin Walser und Edgar Selge über Sophokles‘ Tragödie Antigone schreiben:

„Die Tragödie ist aber umso mehr Tragödie, je weniger einer der Handelnden einfach verurteilt werden kann. Das Stück ist umso mehr unser Stück, je mehr alle gegeneinander Handelnden uns für sich einnehmen können, uns gefallen können. Und uns auch gefallen wollen. Stimme und Gegenstimme sind hier nicht so weit auseinander wie Gott und Teufel im christlichen Kasperletheater.“

Doch von Schirach bezweckt etwas anderes: Er will gar nicht, wie er behauptet, zum Nachdenken anregen. Er will sein Publikum über Gut und Böse belehren. Er ist der Wissende, der TV-Kasperl, der Gutmensch vom Dienst schlechthin. Er ist es, der seinem Publikum sagt, was es zu wissen und zu befolgen hat. Merke: der Polizist ist der Böse! Jeder Polizist ein potenzieller Folterer! (So wie es einst pauschal-verallgemeinernd hieß: Soldaten sind Mörder!) Gutmenschen ist Differenzierung verhasst. Würde die doch ihren Absolutheitsanspruch unterminieren.

Von Schirachs Film ist folglich zu lesen als nur ein Mosaiksteinchen mehr, um das Gutmensch-Bild des bösen Polizisten, hier als Folterer, wie zuvor schon als Neonazi, Schläger, Rassist, etc. im Bewusstsein der TV-Konsument*innen nachhaltig zu verankern.

Wozu bloß nur…?

„lesenswert“-Profi-Buchbesprecher outen sich als Philosophie inkompetent

lesenswert Quartett, 8.11.2020, 3sat, 8.11.2020

Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929, Stuttgart, 2018

Martin Heidegger, Nietzsche I, Stuttgart, 1961

Anlässlich des Buchs Feuer der Freiheit – Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten von Wolfram Eilenberger schwätzten die drei vom Fernsehen bestellten und bezahlten Literaturbesprecher: „Gastgeber Denis Scheck“ nebst Adjutanten/-in Insa Wilke und Ijoma Mangold in der Sendung lesenswert am 8.11.2020 auch über Eilenbergers früheres Werk Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929 wie folgt:

Denis Scheck

war als Gastgeber gefordert zu beginnen. Erst titulierte er Eilenberger als Philosophen. Dann wertete er ihn zum Erzähler ab:

„Wolfram Eilenberger, der wurde bekannt mit einem veritablen Bestseller: Zeit der Zauberer. Da hat er von Heidegger, von Ludwig Wittgenstein, von Walter Benjamin und Ernst Cassirer erzählt und [nicht und, sondern in] den zwanziger Jahren. Und jetzt hat er mit Feuer der Freiheit einen Band über vier Denkerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben“.

Ein erzählender Philosoph also. Das klingt wie Schriftstellerphilosoph — wie Mann (Frau eher nicht) einst Nietzsche titulierte, um ihn abzuwerten — wie passend, dass er auch noch geisteskrank war, Syphilis bedingt: das Schwein –, um sich nicht mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Eine Haltung, die u.a. Heidegger scharf kritisierte und vehement zurückwies. Für ihn markiert Nietzsches Philosophie gar das „Ende der abendländischen Metaphysik“ (8): aller bisherigen abendländischen Philosophietradition!! — Gegen diese Tradition schrieb Heidegger in und mit Sein und Zeit (1927) an.

Überhaupt sind die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts eine Zeit des Übergangs. Eilenbergers Verdienst ist es, dies in Zeit der Zauberer anhand von vier Hauptakteuren herausgearbeitet zu haben.

Ijoma Mangold

Da Mangold sich am liebsten selbst reden hört, musste er natürlich zu Schecks Gerede sofort etwas hinzu quaken. Er bezeichnete Zeit der Zauberer als „Deutsches Sachbuch“. Auch für ihn ist Eilenberger ein Erzähler:

„Schon in seinem ersten Buch ist er nach dem Prinzip verfahren, wir erzählen etwas [ja, was denn? Bitte genauer!] über die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Ja klar, Heidegger, Wittgenstein, Walter Benjamin, völlig klar. Und dann ein Überraschungsgast, mit dem niemand gerechnet hat: Ernst Cassirer.“

Mangold, dieser ungebildete Volltrottel begreift überhaupt nicht, dass Ernst Cassirer einer maßgeblichen (!!) Philosophie-Ausleger der alten Garde war, gegen die Heidegger zu Beginn seiner Karriere — auch als Person — opponierte. Eilenberger führt dies denn auch clare et distincte aus/vor. (Mangold muss dies überschlafen haben.) Bereits zu Beginn seiner Darstellung geht Eilenberger hierzu detailliert auf das Großereignis II. Internationalen Davoser Hochschulkurse (März 1929) ein. Zurecht schreibt Eilenberger:

„Die Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger gilt heute als einschneidendes Ereignis in der Geschichte des Denkens.“ (24)

Cassirer war eben nicht irgendwer, sondern einer der namhaftesten Philosophie-Professoren seiner Zeit! — Übrigens, Herr Mangold: Cassirer zu lesen ist ein intellektuelles Vergnügen…

Und dann meinte auch noch

Insa Wilke

etwas Kluges zum bisherigen Gerede beitragen zu müssen:

„Er [Eilenberger] benutzt ein Verfahren, das nicht so originell ist; das ist das konstellierende Verfahren. Das ist in der Essayistik inzwischen eigentlich durchaus gängig: also drei [??] Denkerinnen oder auch im letzten Buch drei [??] Denker, die man auf den ersten Blick nicht zusammenbringt, zusammenzustellen, nicht unter der Behauptung einer, eines kausalen Zusammenhangs, sondern er stellt einen Zusammenhang her.

Was diese Dummschwätzerin, die nicht bis vier zählen kann und auch in Logik wenig bedarft zu sein scheint, nicht begreift: Gemeinsamkeit und Unterschiede im Werk von Heidegger und Wittgenstein wurden (wissenschaftlich) mehrmals untersucht, auch Bezüge zwischen Cassirer und Heidegger wurden (nicht nur in Fachkreisen) diskutiert. — Eilenberger, z.B., geht dezidiert und detailliert auf das Gespräch Cassirer contra Heidegger in Davos ein. — Kurz gesagt: Sich im akademischen Betrieb bewegende Berufsphilosophen/-innen sind zwangsläufig miteinander im Kontakt: sie sind Konkurrenten/-innen um begrenzte Ressourcen.

Philosophen/-innen sind (zudem) eine Gemeinschaft aus/im Inter-esse. Heidegger:

„Der große Denker ist dadurch groß, daß er aus dem Werk der anderen »Großen« ihr Größtes herauszuhören und dieses ursprünglich zu verwandeln vermag.“ (33)

Übrigens, Herr Mangold: Der Außenseiter unter den vier genannten Meisterdenkern (Eilenberger) ist nicht Cassirer, sondern Benjamin! Denn:

„Aus akademisch-philosophischer Sicht ist Walter Benjamin im Jahre 1929 eine ausgesprochene Non-Entität.“ (33)

Ein wenig Faktenstudium würde nicht schaden…

———–

Anm. Die Davoser Disputation ist abgedruckt im Anhang zu Heideggers Werk Kant und das Problem der Metaphysik (1929) — das Heidegger als sein Kantbuch bezeichnete –, das er unmittelbar in Anschluss an die Davoser Hochschulkurse abfasste. — Das allein schon zeigt die Bedeutsamkeit der Disputation…

 

 

 

Frankreich trauert um von Flüchtling enthaupteten Lehrer

Sabine Wachs,  „Der Lehrer wurde enthauptet“, tagesschau.de, 17.10.2020

Sabine Wachs,  Macron spricht von islamistischem Terrorakt, tagesschau.de, 17.10.2020

L’assassinat de Samuel Paty confirme „le très haut niveau de la menace terroriste islamiste“, France 24 online, 17.10.2020

Nicolas Camus, Attentat à Conflans : Ce que l’on sait de l’enquête sur la décapitation du professeur d’histoire-géographie,  20minutes.fr, 18.10.2020

Mehr Polizei, mehr Überwachung, bessere Bildung, tagesschau.de, 19.10.2020

Andreas Schmid,  Terror in Paris: Lehrer auf offener Straße enthauptet – Erschreckende Details über mutmaßlichen Täter veröffentlicht, Merkur.de, 18.10.2020

Erhan Tekten und Uğur Can, Katillere gıyabi cenaze namazı, Hürriyet online, 17.1.2015

Kouachi kardeşler için İstanbul’da cenaze namazı, youtube, 16.1.2015

Seda Türkoğlu, Dünya vatandaşlarından liderlere: “Siz Charlie değilsiniz”, Sözcü online, 28.5.2016

Detlef Pollack, Olaf Müller, Gergely Rosta und Anna Dieler, Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland. Repräsentative Erhebung von TNS Emnid im Auftrag des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster, Münster, 2016

Der 47-jährige Samuel Paty, Geschichtslehrer an einer Mittelschule in Conflans-Sainte-Honorine, nahe Paris, musste sterben, weil er — wie Anti-Terror-Staatsanwalt Jean-François Ricard es ausdrückte — gewagt hatte

„im Rahmen eines Kurses in Gesellschaftskunde in der achten Klasse das Thema Meinungsfreiheit [durchzunehmen…], das im nationalen Bildungsplan vorgesehen ist. [!!] In diesem Kurs gab es eine Diskussion über die Mohammed-Karikaturen von ‚Charlie Hebdo‚.“ (Übersetzung Wachs; im Original kein Fettdruck)

„Daraufhin hatte der Vater einer [13jährigen] Schülerin massiv im Netz gegen ihn mobilisiert und auch Daten wie die Adresse der Schule veröffentlicht.

Laut Innenminister [GéraldDarmanin habe der Vater zudem eine sogenannte Fatwa gegen den Lehrer erlassen.“ (Mehr Polizei…; im Original kein Fettdruck)

Und so kam es, wie es kommen musste. Ein ach so süßer 18-jähriger Flüchtling tschetschenischer Herkunft (namens Abdoullakh Abouyezidvitch), dem erst Anfang März 2020 eine 10-jährige Aufenthaltserlaubnis (!) ausgestellt worden war, fühlte sich von seinem Gastland beleidigt und aufgerufen zur Blutrache. Also zückte er ein Messer, stach den scheiß Ungläubigen ab und köpfte ihn. Allāhu akbar!

Reaktion von deutscher Seite: (Immerhin) Außenminister Heiko Maas kondolierte rasch und artig auf Twitter:

„Ich verurteile den abscheulichen Anschlag in #ConflansSainteHonorine. Wir stehen fest an der Seite unserer französischen Freundinnen und Freunde. Von Terror, Extremismus und Gewalt dürfen wir uns nie einschüchtern lassen.“

Wie verlogen!

In vorauseilendem Dhimmi-Gehorsam wird in Deutschland an staatlichen Einrichtungen, z.B. Schulen, anders als in Frankreich alles unterlassen, was auch nur ansatzweise auf Moslems irgendwie befremdlich-verletzlich wirken könnte. Dank politischer Korrektheit, der zufolge Minderheiten (hier Muslime) als Zuckerpüppchen unter den Schutz der Gutmenschendiktatur gestellt werden, wird zensiert, verschwiegen, verschleiert, beschönigt, unter den Teppich gekehrt…

Ein Lehrer, der bei uns gleichwohl wagen sollte, DEN Propheten: Mohammed den Friedliebenden, der das massenhafte Köpfen von Ungläubigen in Gang setzte, zu kritisieren, müsste mit einem Disziplinarverfahren durch seine Vorgesetzten rechnen – wegen Verleumdung, Volksverhetzung, Rassismus, Rechtsextremismus, etc. — Jesus hingegen, is‘ ja nicht DER Prophet, darf folglich ruhig als Witzfigur herhalten: Hier ist Blasphemie erlaubt. (Trotz heftig-hitziger Kritik aus der Bevölkerung wollte niemand seinerzeit Herbert Achternbusch wegen seines Films Das Gespenst ans Schlawittel…)

Das ist der Unterschied zu Frankreich! Unsere Nachbaren duckmäusern nicht; sie pochen auf die Akzeptanz ihrer Werte: von jedermann und jederfrau, die sich in Frankreich aufhalten. Der Präsident der Nationalversammlung, Richard Ferrand, twitterte daher:

„Die Ermordung eines Geschichtslehrers ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit und die Werte der Republik. Einen Lehrer anzugreifen bedeutet, alle französischen Bürger und die Freiheit anzugreifen.“ (Macron spricht…)

Und was machen die ach so friedfertigen Moslems in Frankreich? — Pro oder contra Paty? Abouyezidvitch? Republik? — Abgesehen von den Lippenbekenntnissen einiger Oberen aus der Verbandsschleimerzunft beglückwünschten sie den Attentäter zu seiner vorbildlichen Heldentat! Allāhu akbar!

Als seinerzeit, am 7. Januar 2015 Islamisten die Redaktion von Charlie Hebdo überfielen und 12 Menschen erschossen, kam es in Istanbul nicht nur zu Jubelfeiern, sondern auch — im Gegenzug zum Trauermarsch in Paris für die Ermordeten unter Beteiligung von 40 Staatslenker(inne)n — zu einer Trauer-Kundgebung PRO Anschlag, die von der Polizei mit Freuden eskortiert wurde und auf der die Demonstranten die beiden Attentäter (u.a. Said Kouachi) bejubelten und sich mit ihnen solidarisierten. —

„Wir sind Charlie“ skandierten die Trauernden in Paris. — „Wir sind Said Kouachi“ skandierten die Trauernden in Istanbul…

Nun frag ich euch, ihr Gutmenschen: wem gehört die Sympathie all der uns zu Hunderttausenden bereichernden Zuwanderer islami(sti)scher Vorprägung? Allah oder euerm Multikulti-Schleimscheißer-Dhimmi-Staat?

Zur Antwort:

der wissenschaftliche Befund einer Forschungsgruppe der Universität Münster aufgrund von 1.201 „Interviews [unter „türkeistämmige[n] Personen ab 16 Jahren“, die „deutschlandweit“…] zwischen November 2015 und Februar 2016“ durchgeführt wurden:

Der Anteil derjenigen, die Haltungen bekunden, die schwerlich als kompatibel mit den Grundprinzipien moderner „westlicher“ Gesellschaften wie der deutschen bezeichnet werden können, ist unter den Türkeistämmigen teilweise beträchtlich […]

    • Der Aussage „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe“ stimmen 47 % der Befragten zu.
    • Dass Muslime die Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten Mohammeds anstreben sollten, meinen 32 % der Befragten.
    • 50 % der Türkeistämmigen stimmen der Aussage „Es gibt nur eine wahre Religion“ stark bzw. eher zu, und
    • 36 % sind davon überzeugt, dass nur der Islam in der Lage ist, die Probleme unserer Zeit zu lösen.
    • Der Anteil derjenigen mit einem umfassenden und verfestigten islamisch-fundamentalistischen Weltbild (Zustimmung zu allen vier Aussagen) liegt bei 13 % der Befragten.“ (Studie, S. 13; im Original kein Fettdruck, nur Fließtext)

Wenn der Befund unter (legal) zugewanderten Türken schon so vernichtend ausfällt, wie dann erst unter moslemischen Kriegsflüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, Irak, etc., die im Hass auf (uns) Ungläubige sozialisiert wurden/werden…

 

 

 

Alex Michaelides‘ Plädoyer für Alkestis in ‚Die stumme Patientin‘

Alex Michaelides, Die stumme Patientin. Psychothriller. Aus dem Englischen von Kristina Lake-Zapp. München, 2019

Euripides, Ausgewählte Tragödien in zwei Bänden. Griechisch und Deutsch. Aus dem Griechischen von Dietrich Ebener. Herausgegeben von Bernhard Zimmermann. Mannheim, 2010

Euripides, Alcestis, ed. David Kovacs, perseus (online)

Yassin Musharbash, Jenseits. Thriller. Köln, 2019

Wilhelm Nestle, Euripides. Der Dichter der griechischen Aufklärung. Stuttgart, 1901

Alex Michaelides eröffnet seinen Psychothriller mit einer Frage: „Aber warum spricht sie nicht?“, die er vorgibt, aus „Euripides, Alkestis“ (im Original kein Fettdruck) entnommen zu haben. Im Lauf der Handlung kommt der Autor immer wieder auf die Sprachlosigkeit zu sprechen, wobei er Parallelen zwischen seiner Protagonistin, der stummen Patientin, und der Alkestis (Ἄλκηστις) des Euripides zieht.

Die angesprochene Stelle bei Euripides lautet: τί γάρ ποθ᾽ ἥδ᾽ ἄναυδος ἕστηκεν γυνή; (1143) Dietrich Ebener übersetzt diese Stelle sehr nah am Original: „Warum steht eigentlich mein Weib so schweigsam [ἄ-ναυδος: sprachlos/stumm] da?“ Der deutsche Titel des Psychothrillers Die stumme Patientin trifft insofern das im Stück des Euripides beobachtete und genannte Verhalten sehr genau.

Als Grund für dieses Verhalten lässt Euripides durch Herakles dem Ehemann der Alkestis, Admetos, der die Frage stellte, antworten:

„Du darfst noch nicht vernehmen ihren Gruß, bevor / den Göttern sie der Unterwelt als Sühneopfer / gespendet und bevor der dritte Tag anbricht.“ (1144-46; Übersetzung Ebener)

Alkestis, die sich für ihren Ehemann opferte und starb, wurde in Euripides‘ Stück von Herakles dem Tod (der im Stück als Akteur auftritt) entrissen und als von den Toten Auferstandene ihrem Ehemann zurückgebracht.

Im Unterschied zu Euripides‘ Alkestis wird die Protagonistin in Michaelides‘ Psychothriller in nicht zwei, sondern drei Phasen vorgestellt: als Ehefrau vor dem Verstummen, als Verstummte (und Mörderin ihres Ehemanns) und nach ihrem Verstummen (während der Therapie). Zudem fehlt bei Michaelides der Bezug zur Welt der Götter und Heroen. Er reduziert die Figur Alkestis auf den Aspekt der Selbstopferung:

„Alkestis ist die Heldin eines griechischen Mythos, eine Liebesgeschichte der traurigsten Art. Alkestis opfert aus freien Stücken ihr Leben für ihren Ehemann Admetos, stirbt an seiner Stelle, da niemand sonst dazu bereit ist. Ein verstörender Mythos der Selbstopferung, zumal es unklar war, in welchem Zusammenhang er mit Alicias [der stummen Patientin] Situation stand. Die wahre Bedeutung dieser Anspielung erschloss sich mir eine geraume Weile lang nicht. Bis eines Tages die Wahrheit ans Licht kam …“ (17; im Original kein Fettdruck)

— Frauen, die sich freiwillig opfern, kommen bei Euripides häufig vor:

Iphigenie ringt sich nach zwar heissem aber natürlichen Kampfe mit jugendlicher Lebenslust zu dem Entschluss durch, sich für Hellas zu opfern (Iph. Aul.1386 ff.); Makaria geht für das Wohl der Ihrigen in den Tod (Heraklid 500 ff.); Andromeda lässt sich von ihrem Vater Kepheus an einen Felsen schmieden, um das Land von einem Ungeheuer zu befreien, während [nicht nur] Alcestis [sondern auch], Euadne und Polyxena aus persönlichen Motiven mutvoll dem Tod ins Auge schauen.“ (Nestle, 279; im Original kein Fettdruck)

Euripides hingegen beginnt sein Stück mit dem Auftritt des Gottes Apoll, der berichtet, dass und warum er sich am Hof von Admetos aufhält. Gottvater Zeus habe ihm befohlen, sich als Tagelöhner zu verdingen zur Strafe dafür, dass er die Kyklopen erschlug. Apoll freilich mordete aus Rache, da Zeus zuvor „die Brust [von Apolls Sohn Asklepios] ihm traf mit seinem Blitz.“ (3; Übersetzung Ebener)

Die griechischen Götter der Zeus-Ära: Ein Geschlecht von Mödern!! Der oberste Gott, Gott Zeus, selbst Mörder, der seinen Bruder, Gott Apoll, ebenfalls Mörder, als Mörder bestraft: vorübergehend einem Sterblichen!! zu dienen. Welch unerhörter Fall!! Welch Schmach!! die Euripides der Aufklärer hier kundtut!!

— In den Buchreligionen undenkbar: Gott ist unfehlbar – wie auch sein mächtigstes Fußvolk: Propheten und Papst. Wehe dem, der daran frevelt!  — Im Islam ist sogar des Propheten Kinderficken und Massenmord – zumindest – toleriert. Hierauf baut der IS seine Ideologie auf. In Yassin Musharbashs Thriller Jenseits liest sich die Selbstrechtfertigung und -ermächtigung eines IS-Kämpfers zu morden (in Form eines fiktiven Gesprächs mit Abu Karim, als dem Strenggläubigen aber Friedfertigen, der ihn zum Islam brachte) so:

„Wenn ich zu Lebzeiten des Propheten gelebt hätte, habe ich zu dir gesagt, was hätte der Prophet, Friede sei auf ihm, wohl entgegnet, wenn ich ihm gesagt hätte: »Halte inne, Muhammad! Töte die Ungläubigen nicht! Verschone ihre Hälse, ihre Frauen, ihre Dattelpalmen – der Islam ist doch die Religion des Friedens!« Du wärest doch heute gar kein Muslim, Abu Karim, wenn es so gelaufen wäre – weil der Islam es niemals auch nur bis nach Mekka geschafft hätte. Das habe ich dir an den Kopf geworfen.

Der Prophet, Abu Karim, hat selbst ein Schwert geführt. Er hat getötet.

Du nicht. Aber Abu Muhammad schon! So habe ich mit dir geredet.“ (167; im  Original kein Fettdruck)

Ein weiterer Unterschied zu Euripides ist, dass die stumme Patientin nicht auf die Rolle Ehefrau restringiert dargestellt wird. Nicht nur, dass sie als Mörderin die Rolle des Todes übernimmt, sie wird auch – und das wird für die Entwicklung des Thrillers entscheidend – (bereits zu Beginn) als Künstlerin vorgestellt:

„Alicia schwieg zwar – aber sie machte dennoch eine Aussage. Ein Gemälde. Sie fing an, es zu malen, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen und unter Hausarrest gestellt worden war, bevor der Fall vor Gericht ging. Laut der vom Gericht bestellten psychiatrischen Betreuerin aß und schlief Alicia kaum – alles, was sie tat, war malen. […]

Bei dem Bild handelte es sich um ein Selbstportrait. Sie betitelte es in der unteren linken Ecke der Leinwand, in hellblauer griechischer Schrift.

Der Titel bestand aus einem einzigen Wort:

Alkestis.“ (16)

Eine weitere Schlüsselszene im Psychothriller ist die Stelle, wo Alicia ihren Vater unbeabsichtigt belauscht, nachdem seine Frau den von ihr willentlich verursachten Autoaufprall gegen die Wand nicht überlebte, seine auf dem Beifahrersitz angeschnallte Tochter jedoch schon:

„Eva … Warum musste sie sterben? Warum ausgerechnet sie? Warum konnte nicht stattdessen Alicia sterben? […]

So wie Admetos Alkestis zum physischen Sterben verurteilt hatte, hatte Vernon Rose seine Tochter zum psychischen Tod verdammt. Admetos musste Alkestis auf eine gewisse Art geliebt haben; in Vernon Rose dagegen war keine Liebe zu finden, nur Hass. Was er getan hatte, was seelischer Kindsmord, und Alicia wusste das.“ (308)

Dieses Erlebnis wird als Grund für den Mord am Ehemann nachträglich benannt:

„Aber eines Tages brechen all der Schmerz, all die Wut wieder hervor, wie Feuer aus einem Drachenbauch – und man greift zu einer Waffe. Man richtet seinen Zorn nicht gegen den Vater, der tot und unerreichbar ist, sondern gegen den Ehemann, der einen Platz im eigenen Leben eingenommen hat, der einen liebt und das Bett mit einem teilt.“ (309)

Doch das ist freilich nicht die ganze Wahrheit: Michaelides‘ Thriller ist wesentlich komplexer und entwickelt sich in eine für den Leser unerwartete Richtung — vorgetragen in einer Art Doppelbiographie, deren Stränge gekonnt aufeinander zu geführt und ineinander verschlungen werden…

Prädikat: lesenswert!

Zum Begriff ‚Geister‘ bei Hölderlin – Kritik von Otts „Hölderlins Geister“

Karl-Heinz Ott, Hölderlins Geister, München 2019

Michael Köhlmeier, Das große Sagenbuch des klassischen Altertums, München, 202019

I

Karl-Heinz Otts Buch, eine der Neuerscheinungen zu Hölderlins 250. Geburtstag, setzt sich zum Ziel, Hölderlins Geister zu benennen und wohl auch zu deuten. Einige Seiten vor dem Schluss seines Buchs schreibt Ott:

„Ums Deuten kommt man nicht herum, es geschieht von allein. Jedes Lesen setzt Assoziationen frei; wir haben sie nicht im Griff, sie schweifen in tausenderlei Richtungen.“ (230)

Diesem Konzeptionsprinzip des Aus- und Abschweifens entsprechend ist Otts Buch aufgebaut. Er kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, aufs Blättchen… Alles in steter Bewegung, ohne Halt, zerschwafelt und zerfaselt; und am Ende bleibt dem Leser nur ein Chaosbrei aus Zitaten, von Rück-, Vor- und Querverweisen, Anspielungen und Deutungsanrissen. Ein Gewoge, hin und her, ohne erkennbaren Faden.

II

Der Titel „Hölderlins Geister“ bereits ist schlecht gewählt. Denn er erinnert fatal an Goethes Gedicht „Zauberlehrling“, in dem es heißt:

„Die ich rief, die Geister,

Werd‘ ich nun nicht los.“

Geht es Ott doch nicht um das Anrufen von Geistern zu einem bestimmten Zauberzweck. Die Auseinandersetzung mit den Geistern erfolgt unter anderen, gleichwohl vagen, in der Schwebe gehalten Rücksichten.

III

Hier (einige) Geister-Stellen aus Otts Buch (ohne Gewähr auf Vollständigkeit) – zunächst geordnet nach dem Fortlauf des Buchs:

  • „die große Gleichheit der Geister […] in Freiheit. Monotheismus und Polytheismus sollen sich nicht nur vertragen, sie sollen eins sein.“ (18)
  • In Hölderlins „vereinigungsseligen Kosmos […] beflügelt sein Weingott die Geister, doch stets mit heiligem Ernst. Von Delirien keine Spur, von Barbarei schon zweimal nicht.“ (37)
  • Wieland stellt fest, dass die Einbildungskräfte sprießen wie selten zuvor, aller Aufklärung zum Trotz. Man sehnt sich nach Geistern und nach Phänomenen, die alle Vernunft übersteigen.“ (51)
  • „Liberale Geister kennen keine männliche Standhaftigkeit, sie schwanken und wanken. Baeumler verabscheut den Liberalismus als weibische Kultur.“ (76)
  • „Von nichts ist bei Hölderlin mehr die Rede als von der Einigkeit und Gleichheit der Geister, nach nichts sehnt er sich mehr.“ (162)
  • Hölderlin im Hyperion: „Von Kinderharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein.“ (179)
  • Hölderlin im Gedicht Hymne an die Jugend: „In der Jugend Strahlen sonnen / Ewig alle Geister sich.“ (223)
  • Der letzte Absatz des Buchs lautet: „Ein bisschen steht um die alte Burse herum noch immer die Zeit still, nicht nur bei Nacht. Hört man Schritte hallen durch die Stille, hört man auch noch anderes. […] Es sind Geister, die nichts von Geistern an sich haben. Gespenster ohne Gespenstisches. Anwesenheit könnte man dazu sagen. Anwesenheit aus naher Ferne, von was auch immer.“ (236)

IV

Diese acht Aussagen ließen sich ex post wie folgt ordnen:

In der Auseinandersetzung mit und gegen Kant entstehe, so Ott, ein neues Bedürfnis nach Metaphysik, nach dem, was die Vernunft übersteigt. (3) Diesem Zeitgeist entsprechend habe Hölderlin seine Einbildungskräfte darauf konzentriert, einen jenseitigen Kosmos der Geister zu entwerfen. Dieser neu, besser: erneut zu schaffende Kosmos der Geister sei bei Hölderlin, so Ott, durch Anwendung der Gestaltungsprinzipien von Einigkeit und Gleichheit zu erreichen. (5) Dies setze – wider das Christentum – die Einheit von Monotheismus und Polytheismus voraus. (1) Diese Einheit wiederum könne aber nur durch den Weingott, sprich Dionysos, gestiftet werden. (2) Sobald durch ihn die Einheit verwirklicht worden sei, wäre die Harmonie der Geister geschaffen, die den Anfang einer neuen Weltgeschichte einleitete. (6) Doch nur jugendliche Dichter vermöchten es, einen solchen Kosmos der Geister zu entwerfen. (7) — Doch was die Geister letztlich sind, bleibt bei Ott offen, (8) außer dass sie – politisch vereinnahmt – (nicht bräunlich, sondern) liberal seien (4):

„Die späten Hymnen […, so Ott] weisen tatsächlich ins Offene“ (227)

So endet das Buch, wie es begann: in geisterhaftem Spuk. Erkenntnisgewinn? Fehlanzeige; auch nach 236 Seiten ermüdendem Lesen nicht auszumachen.

V

Dabei gäbe es durchaus Ansatzpunkte der Bestimmung des Begriffs Geister, auf die Ott jedoch mit keinem Wort näher eingeht:

  • Die Vereinnahmung von Christus als letzten der griechischen Götter bei Hölderlin: Dazu gibt es reichlich Literatur. Insbesondere die Parallelen zwischen Christus und Dionysos sind reichlich diskutiert. Doch von Ott kein Wort dazu.
  • Der Große Pan ist tot“, heißt es (auch) bei Ott. (18) Stimmt. Gott Pan war der erste der griechischen Götter, die starben. (Er stank so sehr nach Ziege, dass die anderen Götter sich weigerten, ihn mitzunehmen, wenn sie auszogen, um von den Kräutern zu essen, die unsterblich machen. Und da er kein Unsterblichkeit erhaltendes Kraut mehr bekam: Pech gehabt.) Der letzte war Dionysos: „die Erlöserfigur in der griechischen Mythologie“. (Köhlmeier, 601)
  • Doch Dionysos wurde, laut Hölderlin, wiedergeboren in Christus, wie auch Ott behauptet. (164) Doch inwiefern? Auch dazu findet sich bei Ott kein Wörtchen. Kein Wörtchen zu den Evangelisten und dem Nachhall der altgriechischen Tradition in ihren Schriften… Kein Wort zum Bezug von Mythos und Logos.
  • Kein Hinweis auf das Zitat, mit dem Hegel seine Phänomenologie des Geistes schließt: „aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm [dem absoluten Geist] seine Unendlichkeit“. Hegel zitiert hier die Schlusszeilen eines Gedichts (ohne Titel) aus Schillers Philosophischen Briefen, das im Abschnitt Gott steht, mit dem die Briefe schließen:

„Freundlos war der große Weltenmeister,

fühlte Mangel, darum schuf er Geister,

sel’ge Spiegel seiner Seligkeit.

Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,

aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches

schäumt ihm die Unendlichkeit.“

  • Auch in den Räubern finden sich mehrere Stellen, die auf Hölderlin (vor)verweisen, z.B. der Ausdruck Harmonie der Geister. (Erster Akt, erste Szene) Doch Ott geht auf Ähnlichkeiten und Differenzen der Begriffswelt / Metaphorologie (Blumenberg) zwischen Hölderlin und seinen Jugendfreunden Hegel und Schelling ebenso wenig ein wie auf die zwischen Hölderlin und Schiller (von dem Hölderlin sich Unterstützung für das Publizieren seiner eigenen Gedichte erhoffte und dessen Werke er daher sehr genau studiert haben dürfte).
  • Besonders disqualifizierend ist folgende Aussage: „Im Übrigen wissen die Griechen noch nicht, dass es sich bei Dionysos und Apoll um ein klassisches Gegensatzpaar handelt. Das ist Nietzsches Erfindung.“ (36) Welch Blödsinn! Es war Gottvater Zeus selbst, der seine beiden Söhne, Dionysos und Apoll, zu den Herren über Delphi bestimmte. (Von Frühling bis Herbst herrschte Apoll und im Winter Dionysos.) Apoll war es, der sich im und über das Orakel offenbarte. Dionysos offenbarte nicht; er wirkte im Verborgenen, im Dunkeln. Nietzsches Erfindung bestand einzig darin, die beiden Wirkmächte des Verbergens und Entbergens der Natur und ihrer Geschöpfe auf die Welt der Kunst zu übertragen. Noch einmal Köhlmeier:

„Apoll und Dionysos verstanden sich wider Erwarten sehr gut. Warum? Weil sie sich ergänzten zu einem. Und das war die allergrößte Gefahr, die dem Zeus drohte, das hat er wohl nicht vorausgesehen. Nämlich zusammen – Apoll und Dionysos, dass Apollinische und das Dionysische –, zusammen waren sie unschlagbar.

Gemeinsam drängten sie den ganzen großen Götterhimmel schließlich zurück. Und in ihrer Verschmelzung gaben sie einer neuen, einer ungeheuer mächtigen Gottgestalt Charakter – nämlich Jesus Christus.“ (614f.)

VI

Wie heißt es bei Hölderlins Odendichter-Vorbild Pindar über die verschwatzten Gelehrten, über die sich sowohl vorher als auch danach Meister der Sprache (sehr hübsch die Xenien von Goethe und Schiller) ebenfalls köstlichst zu amüsieren wussten, so schön:

             μαθόντες δὲ λάβροι

παγγλωσσίᾳ κόρακες ὢς ἄκραντα γαρυέτων

Διὸς πρὸς ὄρνιχα θεῖον·

ihr Allwissen sei nur Krähengekrächze angesichts des göttlichen Vogels des Zeus. (2. Olymp. Ode, Vers 87ff.)

Denis Scheck empfiehlt: „Hölderlins Geister“

Karl-Heinz Ott: Hölderlins Geister, München 2019

Denis Scheck, Denis Scheck empfiehlt: „Hölderlins Geister“, Video, in Druckfrisch (ARD), 26.1.2020

Rüdiger Safranski, Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus. Biographie, München u. Wien, 2004

Martin Heidegger, „Andenken“, in Ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a. M., 72012, S. 79-151

Also spricht Denis Scheck:

„Friedrich Hölderlin ist Deutschlands größter Dichter.

Wirklich?

Was ihn dazu macht, das untersucht Karl-Heinz Ott

der große Forscher, der Hölderlin-Kenner, der neue Literaturpapst gar? — Hurrah! Jubelt, ihr Dumpfbacken. Ein neuer Reich-Ranicki ist uns geboren! Erleuchte uns, oh du göttlicher Ott!

in seinem brillanten

Frohlocket, ihr geistig Armen, denn euer ist das Himmelreich

Essayband „Hölderlins Geister“. Friedrich Hölderlins Programm: nichts weniger als die antiken Götter zurück auf eine verwaiste Erde zu singen, die das Christentum in ein Jammertal verwandelt hat.

Altbekannt

Hölderlins Überzeugung: „Die Poesie… wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.“

Altbekannt

Hölderlin führt den Fachidioten und den Mensch zusammen

Hölderlin will in seiner Dichtung die verloren gegangene Einheit wiederherstellen, das Band zwischen Menschen und Göttern neu knüpfen.

Altbekannt

Hölderlins Klage in seinem einzigen Roman „Hyperion“ über die Arbeitsteilung und das Fachidiotentum in den Köpfen ist die Klage aller Jungen bis heute: „Handwerker siehst du, aber keine Menschen. Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt umeinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?“

Altbekannt; alles, alles altbekannt.

Übrigens: Wie so vieles ist auch Hölderlins Kritik am Fachidiotentum von Schiller beeinflusst, worauf Rüdiger Safranski, anschließend obige Hölderlin-Passage zitierend, in seiner meisterhaft geschriebenen Schiller-Biographie hinweist:

„Den Antagonismus der Kräfte bezeichnet Schiller als das große Instrument der Kultur, im gesellschaftlichen Ganzen den Reichtum der menschlichen Wesenskräfte zu verwirklichen und ihn in der großen Masse der einzelnen zu verfehlen. In dieser Analyse wird Hölderlin den Schlüssel zum Verständnis seines Leidens an der Gegenwart finden.“ (Safranski, 412)

Wo aber ist das Neue, noch nicht Entdeckte?

Hölderlin musste für vieles herhalten

Mit großem Einsichtsreichtum,

haha: lediglich Zitat an Zitat reihend – ohne jeglichen Quellenverweis, das hat Gott Ott nicht nötig – doch dafür mit eigenem Zwischengequak

wortgewaltig

soll heißen: Phrasen dreschend

und mit schlagendem Witz

der nur wohlwollendsten Lesern erscheint

wandelt Karl-Heinz Ott auf Hölderlins Spuren

im Niemandsland

Ott interessiert sich in „Hölderlins Geister“

ausschließlich

für das Nachleben Hölderlins seit seiner Wiederentdeckung Anfang des 20. Jahrhunderts. Man hat aus Friedrich Hölderlin so ziemlich alles gemacht, was man mit einem Dichter machen kann. Die Nazis haben ihn als Barden des Tods fürs Vaterland instrumentalisiert. Die 68er feierten den Revolutionär Friedrich Hölderlin. Die DDR reklamierte den Systemumstürzler für sich, die Dissidenten den unangepaßten Freigeist, der sich allen Zwängen entzog.

Stimmt: All das spricht Ott in einem wirren Zitatenbrei an.

Was dabei völlig außen vor bleibt: Was versteht Hölderlin unter „Geistern“? Was seine Zeitgenossen: Schiller? Goethe? Inwiefern unterscheidet sich sein Ansatz von deren Auffassungen? Welche Bedeutung hat das Wort Geister in der Metaphorologie Hölderlins? Wie ist es eingewebt in sein Denken und Dichten?

So lange all das nicht geklärt ist, ist Otts Geschwafel sinnlos, bodenlos.

Ott hält Hölderlin lebendig

Ott hält Hölderlin lebendig,

Danke, aber dazu brauchen wir Otts pseudo-intellektuelles Gequake nicht.

in dem er zum Beispiel über den Gebrauch des Wortes „aber“ in Hölderlins Dichtung nachdenkt. „Immer wieder das Wörtchen Aber. Jedes Mal horcht man auf, wie Kinder. Jedes Aber lässt an die Bibel denken …“, so Ott.

Ganz große Leistung: abgekupfert von Heidegger – und was darüber hinaus geht: nur blaba.

Sicher gilt aber mit Friedrich Hölderlin bis heute: „Was bleibet aber,

auch bei diesem „aber“ gilt laut Ott und Scheck: ausschließlich an die Bibel denken!

stiften die Dichter.“

Inwiefern?

— Ganz anders die Interpretation Heideggers des Gedichts Andenken, dem obige 2 Zeilen entnommen sind:

Was bleibet aber

stiften die Dichter.

„>Andenken< ist eine einzige in sich gefügte Fuge des aber, die das Wort des Rätsels nennt, als welches das Reinentsprungene im Ursprung bleibt. Dichten ist Andenken. Andenken ist Stiftung. Das stiftende Wohnen des Dichters weist und weiht dem dichterischen Wohnen der Erdensöhne den Grund.“ (Heidegger, 151) —

Also vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue,

wirklich?

und

kaufen, äh

lesen Sie Karl-Heinz Otts „Hölderlins Geister“, erschienen im Hanser Verlag.“

Herzlichen Glückwunsch, liebe Zu-Ende-gelesen-Habende: Nun sind Sie fast genauso schlau oder blöd als vorher. Sie glauben es nicht? Machen wir den Test: Was von all dem Gequake Otts haben Sie denn behalten?

Und sofern Sie vor dem Lesen über ein wenig Vorbildung verfügt haben sollten: Was haben Sie denn Neues gelernt?

Nichts?

Freuen Sie sich: dann sind wir schon zu zweit…