G. Kepel: Ziel islamistischen Terrors

Frog1(Gilles Kepel u. Antoine Jardin, Der Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa, Aus dem Französischen von Werner Damson, München, 2016)

(Gilles Kepel, Laster, schwarz und weiß, Im Gespräch mit Elisabeth von Thadden, Zeit, 5.11.2017, 39f)

(Gilles Kepel, La fracture, Paris, 2016)

(Boualem Sansal, Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert, Deutsch von Regina Keil-Sagawe, Gifkendorf, 72016)

Lange hat es gedauert, bis unsere Gutmenschen aus ihrem Schlummer dümmlich-naiver Entzückung erwachten. Nun heißt es selbst in der ZEIT:

„Die jüngsten Anschläge öffnen uns die Augen: Wir merken endlich, wie spät wir im Kampf gegen den Terror dran sind.“ (Untertitel/Beitext zum Interview, 39)

Gilles Kepel gilt als einer, für Boualem Sansal sogar als „zweifellos der größte Experte für Fragen des politischen Islam“ (30) in Europa. Obwohl Kepel, ganz Gutmensch, die Willkommenskultur als bewundernswert charakterisiert und die Zahl der potenziellen Gefährder unter den Flüchtlingen kleinredet, gesteht er doch zu:

„Die bewundernswerte Willkommenskultur darf einen nicht übersehen lassen, dass eine winzige Minderheit der Flüchtlinge leicht [!!] für den Dschihad mobilisierbar ist. Darauf sind die Sicherheitsbehörden nicht vorbereitet.“ (Interview, 40)

Wie recht er hat, zeigte zuletzt der Fall Amri

In seinem Buch Terror in Frankreich beschreibt Kepel (in Zusammenarbeit mit Antoine Jardin) nicht nur wie sich der Islamismus in Frankreich ausbreitete und zu einer permanenten Terrorbedrohung in Frankreich wurde. Detaillierter als im ZEIT-Interview zeigt er in seinem Buch Terror in Frankreich auch auf, wie der gegenwärtige islamistische Terrorismus entstand und welche Phasen er (bislang) durchlief.

Erste Phase: Unterstützung islamistischer Guerilleros (in Afghanistan: 25.12.1979-15.2.1989: Während der Okkupation durch die Rote Armee)

in der ersten Phase kämpften die Islamisten „ihren Dschihad vor allem gegen muslimische Bevölkerungen“. (Interview, 39) Dabei wurden sie zum Teil massiv vom Westen unterstützt, aufgebaut und hofiert:

„Die Vereinigten Staaten und die Ölmonarchien der Arabischen Halbinsel […] bewaffneten, trainierten und finanzierten islamistische Guerilleros (die Mudschaheddin) in Afghanistan und in der ganzen Welt (die Dschihadisten). Und die Vereinigten Staaten […] tolerierten sogar Rekrutierungsbüros auf ihrem eigenen Staatsgebiet.“ (9; im Original keine Hervorhebungen)

Und: Islamistischer Aufstand in Ägypten und Algerien

in Ägypten und Algerien jedoch war die islamistische Revolution weniger erfolgreich:

„Nach einem fünfjährigen Bürgerkrieg, der bis zu hunderttausend Tote in Algerien und zehntausend Tote in Ägypten forderte, waren die Dschihadisten im Herbst 1997 am Ende. […]

Bereits zu dieser Zeit war auch Europa Schauplatz des bewaffneten Dschihadismus, aber nur als zweitrangiges Ziel: 1994 griff der algerische Bürgerkrieg mit der Entführung eines Linienflugzeugs Algier-Paris der Air France auf Frankreich über, 1995 mit einer Reihe von Attentaten, vor allem in der Pariser Metro.“ (10)

Zweite Phase: Terror-Krieg gegen die USA (1998-2005)

Da in Nordafrika (anders als in Afghanistan) „die Massen der islamistischen Avantgarde nicht gefolgt sind“, sah es Ayman al-Zawahiri – in seinem im Dezember 2001 veröffentlichten Manifest Ritter [fursan] unter dem Banner des Propheten – als notwendig an, den Dschihad nicht (so sehr) gegen einen nahen Feind, sondern gegen einen weit entfernten Feind, die USA, zu richten. (11) Und da die Mittel nicht ausreichten, diesen Kampf militärisch zu führen, sei eine neue Strategie erforderlich: Schrecken: Terror zu verbreiten.

Als Rechtfertigung hierfür nannte al-Zawahiri:

Sure 8, Vers 60 des Korans: »Und rüstet wider sie, was ihr nur vermögt an Streitkräften und berittenen Grenzwachen, damit in Schrecken zu setzen Allahs Feind und euren Feind«.“ (12; im Original keine Hervorhebungen)

Als Angriffsziele wurden Stätten gewählt, die die westliche Kultur symbolisieren.

„So ist der »9/11« die zeitgenössische Neuauflage der Belagerung und Einnahme Konstantinopels, die das Byzantinische Reich im Jahr 1453 zur Kapitulation zwangen.“ (im Original kein Fettdruck)

Zudem erklärte al-Zawahiri die Medien zum propagandistischen Machtfeld. In der Tat wurde 9/11, so Kepel, weltweit als „ein hollywoodeskes Spektakel“ inszeniert und entfaltete nicht zuletzt dadurch „eine ungeheure Wirkung“. (12) Doch:

„das mediale Spektakel nutzte sich ab und die Massen konnten nicht dauerhaft erreicht werden.“ (12)

Dritte Phase: Globaler Dschihadismus (ab 2005)

„Der syrische Ingenieur Abu Musab al-Suri, der für die Öffentlichkeitsarbeit bin Ladens zuständig gewesen war, zog die Bilanz aus dem Misserfolg dieser beiden Phasen des Dschihadismus und veröffentlichte im Januar 2005 einen Appell zum weltweiten islamischen Widerstand im Internet. Dieser umfangreiche Text erklärt erstmals ausdrücklich Europa zum zentralen Schlachtfeld des globalen Dschihadismus.“ (13; im Original kein Fettdruck)

Ziel: Spaltung der Gesellschaft

Anders als seinerzeit die RAF zielt der IS, so unterstellt Kepel, nicht darauf ab, die Bevölkerung von der Notwendigkeit der, von der Terror-Organisation als Avantgarde vorgetragenen Revolte zu überzeugen.

Die islamistischen Selbstmordattentäter wollen, so Kepel, mit ihren Anschlägen nicht primär (wie einst die RAF) den Staat herausfordern, sondern vielmehr (zunächst) die mehrheitlich nicht-muslimische, weitgehend zombiereligiöse (Todd) Bevölkerung gegen die Minderheit der muslimischen, genauer sunnitischen Bevölkerung aufbringen:

„Das Ziel des islamistischen Terrors ist es, die europäischen Gesellschaften zu spalten. Vor dieser fracture warne ich in meinem jüngsten Buch.“ (Interview, 39)

Zweck der IS-Terror-minds sei es, durch eine Vielzahl von Anschlägen gegen alles, was von Islamisten als christlich-dekadent, ḥarām, angesehen wird/werden kann (als stimuli), innergesellschaftlich eine Spirale des Hasses (als responses) in Gang zu setzen: Nicht-Muslime gegen Muslime; Muslime gegen Nicht-Muslime… (Vorbild Israel??)

Realitätsnahe (!!) und konsequent angewandte (!!) Sicherheitskonzepte könnten helfen. Duckmäusertum, Verleugnen, Verdrängen, Schönreden und Aussitzen jedenfalls, so zeigt die Geschichte, ermunterte die Säer von Hass noch und ließ ihre Saat stets üppigst aufgehen…

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Endzeitdrohung: M. Elsbergs „Black Out“ vs. F. Schätzings „Der Schwarm“

Frog1(Marc Elsberg, Black Out, München, 232013; blanvalet 38029)

(Frank Schätzing, Der Schwarm, Frankfurt a.M., 272016; Fischer 16453)

(Dirk Althaus, Zeitenwende: Die postfossile Epoche. Weiterleben auf dem Blauen Planeten, Murnau a. Staffelsee, 2007)

Beide Romane sind Bestseller; es sind dicke Schmöker (Schwarm: 989 bzw. Black out: 800 Seiten); in beiden bedroht ein — mächtiger, vielleicht sogar übermächtiger — Gegner die westliche Welt; beide Gegner wollen die Regression:

Regressionsphantasien sind nichts Neues; sie finden sich zahlreich in der Literatur, z.B. bei Gottfried Benn

Bei Frank Schätzing lauert der Schwarm, eine nicht-menschliche Spezies, in den Tiefen der Meere: Sie will ihr Habitat wieder für sich allein haben und alles Menschengemachte, alle Menschen in ihm vernichten. Marc Elsbergs Feinde hingegen sind Menschen: Es sind radikale Antikapitalisten, denen fast alle Mittel recht sind, um die westliche Welt zurück zum Naturzustand zu bringen…

Beide Romane sind zudem wissenschaftlich fundiert; ihre Zivilisationskritik ist science fiction. Dirk Althaus, einer derer, die die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels von der fossilen zur postfossilen Gesellschaft thematisier(t)en, weist in Die postfossile Epoche (mehrmals) explizit in auf Schätzings Der Schwarm hin:

„Das [Schätzings Der Schwarm] ist lesenswert zum Verständnis der Menschenrolle in der Welt, denn was von Schätzing auf tausend Romanseiten komprimiert wurde, geschieht auf Milliarden Seiten in der Realität. Es stellt sich wieder die Frage, ob wir mit der Zähmung des Feuers einen falschen Weg gewählt haben.“ (Althaus, 76)

In beiden Romanen geht es um Steuerung: Bei Schätzing geht es um die Steuerung von Lebewesen —

„Diese Gallerte beispielsweise: Sie […] steuert andere Lebewesen, indem sie ihre neuronalen Netze befällt.“ (Schätzing, 576) —;

Bei Elsberg hingegen geht es um die Steuerung von technischem Equipment. Elsberg konkretisiert die Anfälligkeit zunehmend smarter Technologien in der Energiewirtschaft für gezielte Angriffe durch IT-Saboteure. Doch kombiniert wird diese Technikkritik auch bei ihm durch eine Zivilisationskritik. Die fällt in seinem Roman ambivalent aus: Zum einen geht es (zumindest einigen Radikalinskis unter) den Saboteuren um „eine Rückkehr in vorindustrielle Lebensformen“, (Elsberg, 595) die von ihren Befürwortern entsprechend positiv bewertet wird. Zum andern zeigt Elsberg dystopisch den Rückfall in ein homo homini lupus-Verhalten als das Verhaltensparadigma, dem gemäß die Bevölkerung (als die Menge aller Individuen mit ihren jemeinigen Partikularinteressen) wohl reagieren wird, wenn ihre Grundversorgung über mehr als zwei Wochen hinweg nicht mehr sichergestellt werden kann.

Ganz anders handeln — so wird von den Wissenschaftlern (unter den Protagonisten), die die fremde Spezies untersuchen, vermutet — die Akteure, die die Freiheit von allem, was nicht ihre Lebensform ausmacht, wiedererlangen wollen:

„Schwarmwesen […] opfern Millionen […] zur Erreichung ihrer Ziele. Der Einzelne gilt ihnen nichts.“ (Schätzing, 672)

Diese Wesen, Schwarmwesen, sind, so suggeriert Schätzing, den Menschen und ihrer Technik weit überlegen. Der Mensch kann sie nicht besiegen, nur überlisten — und selbst das nur

„um einen Aufschub zu erwirken, vielleicht sogar [irgendwann mal so] etwas wie gegenseitiges Verstehen“ —: (Schätzing, 972)

Indem der Mensch so tut als sei er wie sie, die Schwarmwesen:

„Welch eine Zumutung für die Krone der Schöpfung!“ (Schätzing, 972)

Doch immerhin enden beide Romane mit Waffenstillstand und sogar „Hoffnung“ (Schätzing, 986) bzw. Sieg (über die Saboteure) (bei Elsberg).

Doch in beiden Fällen wurde die Gefahrenabwehr teuerst erkauft: Schätzings „Apokalypse“ gipfelt im „Absturz des Schelfs“ (Schätzing, 425) und der (weltweiten) Zerstörung fast aller Küstenstädte des umliegenden Festlands (eb., 433); bei Elsberg bricht die komplette Stromversorgung zusammen, und es kommt u.a. zu Reaktorunfällen in den sabotierten Regionen. (In beiden Romanen sind die attackierten Regionen vornehmlich Europa und die USA.)

Zudem ist das (halbwegs) ins Positive gewendete Ende auch bei Elsberg lediglich vorläufig: Auch in seinem Roman bleibt offen, ob tatsächlich alle Saboteure und alle Schadsoftware-Programme entdeckt und eliminiert/neutralisiert wurden…

Fazit: Technik ist ambivalent: Je mehr wir sie nutzen, um uns zu entlasten, desto anfälliger werden wir (und desto unsolidarischer reagieren wir), sollte sie versagen/zerstört werden… Schon jetzt schieben wir von uns: menschengemachte Probleme vor uns her, die uns irgendwann auszulöschen drohen, z.B. der radioaktive Müll, die Klimaveränderung…

Bleibt nur der beiden Autoren Trost: Ausgesprochen in Hölderlins berühmten Zeilen:

„Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“ (Patmos)

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B. Sansal: Strategie des Europäischen Islamismus zu Vertiefung und Ausweitung

Frog1(Boualem Sansal, Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert, Deutsch von Regina Keil-Sagawe, Gifkendorf, 72016)

In seinem als Essay bezeichneten schmalen Buch (inkl. Anhang 164 Seiten) intendiert der Algerier Boualem Sansal, „das Aufkommen [nahda] des Islamismus in der Arabischen Welt“ zu beschreiben. (9) Dabei geht er bereits zu Beginn auf die Bedeutung der Moscheen als Orte der Indoktrination (Vertiefung) und der territorialen Expansion (Erweiterung) des dar al-islam ein. (Das sei hier eigens betont, um all den noch nicht völlig vom Gutmenschen-Geschwätz Eingelullten klar zu machen, was Sache ist und derzeit auf dem Spiel steht.)

Moscheen als Orte der Indoktrination

Über die Islamisierung in Algerien schreibt Sansal:

„Einige Jahre später entdeckten wir unversehens, dass dieser Islamismus, der uns [Algeriern zunächst] so armselig und kläglich erschienen war, sich über das Netz der Märkte und Moscheen, von wo aus er seine Predigten und Lehrwerke unters Volk brachte, im ganzen Land ausgebreitet und die Herzen der Menschen erobert hatte. […] Nun bewunderten wir die Kraft, die im Blick dieser „Narren Allahs“ [les fous d’Allah (85)] lag und die imstande schien, Berge zu versetzen.“ (13; im Original kein Fettdruck)

Zwei Waffen seien es, die die Stärke des Islamismus heute ausmachen: „Predigt und Terror“. (14) — Eine der  historisch bedeutendsten Salafisten-Gruppen (die sich 1998 formierte) nannte sich Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat; aus ihr ging (in 2007) Al-qaïda au Maghreb islamique hervor. (20)

Moscheen als territorialer (geopolitischer) Anspruch

Moscheen sind aber nicht nur Orte der Indoktrination, sie markieren zu dem territoriale Ansprüche:

„Durch die Sakralisierung (etwa den Bau einer Moschee) erfolgt per se die Anbindung ans „Haus des Islam“ (dar al-islam), die Gesamtheit aller Gebiete unter islamischer Herrschaft“. (55; im Original kein Fettdruck)

Aus lokaler Perspektive ist die Moschee ein Machtzentrum, das [nicht nur] religiöse, [sondern auch] ökonomische, kulturelle und erzieherische Funktionen erfüllt [!!], sich als vermittelnde Instanz zu den staatlichen Behörden versteht [!!] und das Monopol in der Beschaffung von Geldern aus dem In- und Ausland für sich in Anspruch nimmt.“ (86; im Original kein Fettdruck)

Den Gegensatz hierzu bildet dar al-kufr, das Haus des Unglaubens:

„Hier die Welt des Islam, die es zu schützen, dort die Welt des Bösen, die es zu bekriegen gilt. [Dar al-kufr ist zugleich dar al-harb, das Haus des Kriegs.] Für den friedlichen, toleranten Muslim haben diese Begriffe [mehr oder weniger] symbolischen Charakter; man bekämpft das Böse, indem man es ablehnt. [!!] Für den radikalen Islamisten hingegen besteht das Ziel der Kriegsführung darin, den anderen, jenen, der gegen die Gesetze des Islam verstößt, zu töten.“ (56; im Original kein Fettdruck)

Terror als Wille zur Macht

„Die Aufgabe, Hüter des Islam zu sein, denen es zusteht, über Leben und Tod jedes anderen zu richten, übt eine morbide Faszination auf die radikalen Islamisten (Taliban, […], Boko Haram) aus. Sie gestattet ihnen, ihren niedersten Instinkten freien Lauf zu lassen und sich danach mit gutem Gewissen zur Ruhe zu betten. Sie plündern, verwüsten, vergewaltigen, verurteilen und töten mit stolzgeschwellter Brust im Namen Allahs.“ (124; im Original kein Fettdruck)

Die Legitimierung des Dschihad wird häufig auf Koran, Sure 9 (Die Reue), Vers 73 gestützt:

„O du Prophet! Kämpfe gegen die Ungläubigen und Scheinheiligen und verfahre mit ihnen hart. Die Hölle sei ihre Herberge, und schlimm ist die Fahrt (dorthin).“ (zitiert nach Sansal, 29)

Kampfplatz Europa

Sansal zeichnet dem entsprechend für Europa, das der Islam (u.a. per Islamismus) für sich erobern will, ein düsteres Zukunftsbild:

In Europa […] wird es immer wahrscheinlicher, dass es zu einem Bruch zwischen den Muslimen und den nationalen Mehrheitsgesellschaften, in denen sie leben, kommt„. (66; im Original kein Fettdruck)

An die Adresse der in ihre Multikulti-Traumwelt versponnen Gutmenschen schreibt Sansal:

der Trend zum „politisch Korrekten“ [„infolge von Einschüchterung oder Zensur, Selbstzensur oder allzu verbrämter Ausdrucksweise“ (80) …] ist das Ende einer jeden echten Debatte. […] In den Augen der Radikalen ist diese selbstauferlegte Zurückhaltung nurmehr der Beweis dafür, dass die Gesellschaft kapitulationsreif ist“!! (78f; im Original kein Fettdruck)

((Leider!! — Eine weitere Kommentierung erübrigt sich…

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G. Hekmatjar: Erst Freiheitskämpfer, dann Dschihadist und jetzt Friedensgarant

Frog1(Erich Follath, Dieser nette Herr führt eine Armee von 20 000 Terroristen, Zeit, 17.11.2016, 6f)

Schlagzeile der Tagessschau vom 4.2.2017:

„UN-Sicherheitsrat nimmt afghanischen Milizenchef Hekmatjar von Terrorliste“ (Tagesschau, 4.2.2017)

 

Erich Follath, der Gulbuddin Hekmatjar zwei Mal interviewte, zeigt in seinem Artikel zum

„Comeback eines Massenmörders“

eindrucksvoll das Scheitern des Westens in Afghanistan und zugleich die Verlogenheit und das Fehlen jeglicher politischer Weitsicht/Vernunft im seit bereits nunmehr eineinhalb Jahrzehnten !! (mit für die betroffenen Staaten katastrophalen Folgen) dauernden „Krieg gegen den Terror“.

Der Artikel beginnt mit den jüngsten, unglaublichen und völlig – zumindest für naiv-dümmliche Westler – unerwarteten innenpolitischen Entwicklungen in Afghanistan: Dem Schulterschluss von Aschraf Ghani mit Hekmatjar:

„Aschraf Ghani, der demokratisch gewählte Präsident in seinem Palast zu Kabul, und Gulbuddin Hekmatjar, der Terroristenführer [von geschätzt 20.000 Mann] in seinem vermutlich nahe der Grenze zu Pakistan befindlichen Geheimsversteck, unterzeichnen feierlich einen Friedensvertrag.“

Unglaublich und völlig unerwartet kam diese Nachricht, wenn überhaupt, weil Hekmatjar, der

„»Schlächter von Kabul« […] vermutlich mehr afghanische Menschenleben auf dem Gewissen hat als jeder andere. Aber noch erstaunlicher als diese Rehabilitierung war die Reaktion darauf. Nur Human Rights Watch protestierte gegen das Abkommen und bezeichnete es als eine »Verhöhnung der Opfer«; Politiker in Afghanistan beglückwünschen den Präsidenten, auch die Staatsführer in Paris, London und Berlin zollten Beifall.

[und buckeln damit vor einem der radikalsten und brutalsten Islamisten: Der IS wird bekämpft, doch Hekmatjar wird gepriesen. Schizophrenie pur!!]

Und selbst die Obama-Regierung nannte die Übereinkunft einen »Meilenstein«, obwohl die Hisb-i-Islami auch zahlreiche Amerikaner getötet hat.“

Einst, als die Sowjetunion Afghanistan zehn Jahre lang besetzt hielt (von 1979 bis 1989), war dem Westen – insbesondere den USA – jeder willkommen, der bereit war, gegen die Besatzer zu kämpfen:

„wer gegen Moskau kämpfte, musste in den Augen westlicher Politiker ein Held sein. Ihr Held. Bei einem Deutschland-Trip warb Hekmatjar für seine Sache, Spitzenpolitiker aller Parteien empfingen [und hofierten] ihn. In US-Kongress wurden er und seine Mitstreiter gar mit den amerikanischen Gründervätern gleichgesetzt.“

Doch Hekmatjar verfolgte seine eigenen Ziele, nicht die des (explizit und exklusiv anti-sowjetisch agierenden) Westens. Ggf. ist er sogar der erste (und zugleich noch lebende !! all) der nach ihm kommenden islamistischen (Terroristen-)Führer:

„Und immer häufiger kooperierte er jetzt auch mit einem Mann aus Saudi-Arabien, der ihm an Radikalität in nichts nachstand und der zu ihm als älteren Lehrmeister aufblickte. Mit Osama bin Laden.“

Hekmatjars radikal-islamistische Vorstellungen stießen in ihrer Umsetzung, nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte (1989), jedoch selbst im Nachbarstaat Pakistan auf Ablehnung:

„Selbst die pakistanische Regierung, die Hekmatjar solange so bedingungslos unterstützt hatte, stieß sich zunehmend an seinem Extremismus.

In Islamabad begann man auf eine neue Kraft zu setzen: auf die in pakistanischen Medressen, islamischen Schulen, ausgebildeten »Koranschüler«, was übersetzt so viel heißt wie »Taliban«.“

Nachdem die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen hatten, war daher kein Platz mehr für Hekmatjar:

Hekmatjar „hatte den Machtkampf verloren, er musste fliehen. Und fand Unterschlupf im Iran.“

Mit Osama bin Laden hingegen hatten die Taliban kein Problem. Er konnte von Afghanistan aus, von den Taliban unbehelligt, operieren. Er und Hekmatjar blieben gleichwohl in Verbindung: Auch in seiner Exilzeit bezeichnete Hekmatjar bin Laden, laut Follath, als „»aufrechten Kämpfer und guten Kumpel«.“

Die weltpolitische Lage und Hekmatjars Schicksal änderten sich fundamental erst wieder nach dem verheerenden Anschlag von 9/11:

„Kaum drei Monate nach dem 11. September waren die Taliban von der Macht [in Afghanistan] vertrieben, die USA hatten in Kabul die dem Westen wohl gesinnte Regierung um Präsident Hamid Karsai installiert. Der Iran, an dem Sturz der Islamisten und an guten Beziehungen mit den Nachbarn interessiert, wies Hekmatjar an, Teheran zu verlassen.

Die Amerikaner versuchten jetzt, ihn [Hekmatjar] mit allen Mitteln auszuschalten.“

Doch das misslang.

„Später brüstete er [Hekmatjar] sich in einem Video aus dem Untergrund damit, den [sic] [al-]Kaida-Chef in einer dramatischen Aktion zur Flucht aus den Berghöhlen von Tora Bora verholfen zu haben.“

Doch erneut unterlag der nach Afghanistan zurückgekehrte Hekmatjar den

„besser formierten Taliban [. Sie] wurden zur dominierenden Kraft im Untergrund; sie kündigten ihr Zweckbündnis mit Hekmatyar auf.

Hekmatjar entschloss sich [daher] zu einer neuen Doppelstrategie: Er spaltete seine Gottespartei, in einen militärischen und in einen politischen Flügel. Seit Beginn dieses Jahrzehnts [bereits] können Hisb-i-Islami-Mitglieder fürs Parlament kandidieren und auch Regierungsämter annehmen“.

Es bleibt abzuwarten, ob aus dem „Schlächter von Kabul [… nun tatsächlich der] Schlichter von Kabul“ wird…

(alle Zitate von S. 7; im Original keine Hervorhebungen)

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Hakan Günday zum Flüchtlingsdeal: EU-Türkei

Frog1(Luise Sammann, Als würde er seinen Ekel vor der Welt erbrechen, Deutschlandradio Kultur (online), 30.8.2016)

Hakan Günday:

 „Alle Schriftsteller, die ich bewundere, haben mich verstört. Sie haben dafür gesorgt, dass ich meine Augen offen halte, Fragen stelle und zweifele…Ich glaube, dass die Aufmerksamkeit wie ein Muskel funktioniert. Wenn ich heute aufhöre hinzuschauen, den Muskel zu trainieren, dann fühle ich ein Jahr später nichts mehr beim Blick in die Zeitung. Ich kann mir dann den aktuellen Flüchtlingsdeal zwischen der Türkei und der EU ansehen, ohne etwas dabei zu spüren. Ohne dabei zu denken, wie zynisch es ist, wenn Türken durch diesen Deal bald visafrei in den Schengen-Raum reisen könnten, um den zu erreichen in den letzten Jahren mehr als 5.000 Menschen gestorben sind! Erst wegen dieser Leichen dürfen wir vielleicht bald am Brandenburger Tor Touri spielen.“ (im Original ohne Hervorhebungen)

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Die EU als Friedensprojekt verliert an Wertschätzung

Frog1(Kulturzeit-Gespräch mit Philipp Blom, Kulturzeit, 24.6.2016)

(Die Selbstvergiftung des Denkens, Kulturzeit, 24.6.2016)

(Kulturzeit-Gespräch mit Ulrike Guérot, Kulturzeit, 27.6.2016)

Auch in dieser Kulturzeit-Sendung, einen Tag nach dem Brexit (23. Juni) geht es mal wieder um die Befindlichkeiten in der EU. Zunächst betont Philipp Blom, Historiker, im Interview mit Cécile Shortmann, dass die EU von ihren Bürgern nicht länger als unerlässliches Instrument der Friedenssicherung erlebt wird. Diese real fundierte Erzählung habe existenziell ausgedient. Krieg ist den EU-Bürgern nicht mehr als Sorge gegenwärtig:

„Ich glaube, Gesellschaften lernen eigentlich nicht von der Geschichte, sondern sie reagieren wie auch Individuen auf Traumata. Wenn einem Menschen etwas Schreckliches passiert ist, dann dauert es meistens drei Generationen in der Familie, bis dieses Trauma sozusagen ausgelebt ist aus der Familie. Und der Schreck, das Traumas des Zweiten Weltkrieges, glaube ich, inzwischen nicht mehr, es formt nicht mehr unsere Instinkte. D.h., das was wir in der Nachkriegszeit gesehen haben, dass Europa die Priorität hatte, friedlich zu sein, keinen Krieg zu führen, die Zukunft in der Union mit anderen zu suchen, durch wirtschaftliche Umverteilung sozialen Frieden zu schaffen: Diese europäischen Reflexe sind jetzt tatsächlich abgenutzt, und ich glaube das ist ein sehr kritischer Moment.“

„Ich glaube, in diesem Moment ist es wichtig, dass wir alle fantasievoll genug sind, uns auszumalen, was passieren könnte. Im Mai 1914 wäre es der gebildeten Elite Europas völlig abstrus vorgekommen, dass da etwas Schreckliches auf sie zukommt. Und das heißt nicht, dass ich alarmistisch sein will und sage, alles bricht zusammen, aber wenn wir uns nicht bewusst sind, dass alles passieren könnte, dass Europa zerfallen könnte, dass es soziale Unruhen bis hin zu Bürgerkriegen und anderen fürchterlichen Dingen wieder in Europa geben könnte, dann werden wir auch nicht genug motiviert sein, das zu versuchen zu verhindern. Und das sind realistische Möglichkeiten.“

Dann – in derselben Sendung! -, aber Bloms Befund entgegen, will uns Reinhard Olschanski (in einem Bericht von Cornelius Janzen zum Thema „Ressentiment über die Vergiftung des europäischen Geistes“„) einreden, dass wir Europäer nicht friedensbewegt, sondern vielmehr, tiefenpsychologisch betrachtet kriegsverhetzt geprägt, von der mittelalterlichen Kreuzzugerzählung bestimmt, dominiert und in ihr stehengeblieben seien. (Bewusst oder unbewusst argumentiert er damit wie die IS-Propagandisten…:)

„Man könnte ja die Frage stellen, wie eine Idee von Europa überhaupt erst zu Stande gekommen ist. Ich glaube nicht, dass das die schützenswerte Idee der allgemeinen Menschenrechte ist, der Freiheitsrechte. Das war die Gegenübersetzung zum Islam, das waren die Kreuzzüge. Das war damals eine Massenkommunikation, die Millionen von Leuten erreicht hat, Kreuzzugspredigten überall, eine Bewegung über 200 Jahre, und da wurde dieser Gegensatz Abendland:Morgenland, Christentum:Islam aufgebaut und tief in den Köpfen verankert.

[Wie Olschanski dann von diesem nationsübergreifenden, georeligiös-politisch motivierten Rechristianisierungsansatz des Lands Judäa her spontan in die Gefahr eines Rückfalls in das Gegenteil: in einen nationalstaatlichen Partikularismus wechselt, ist schon erstaunlich:]

Was einfach vergessen wird, ist, dass wir Europa nicht zerstören sollten im Versuch illusionär in unsere alten Nationalstaaten zurückzukehren, sondern dass wir im Gegenteil Europa so gestalten müssen, dass es in der Globalisierung, die ja die konkreten Herausforderungen definiert, vor denen wir heute stehen, dass wir diese Globalisierung so gestalten können, dass sie eben nicht zu diesen riesigen sozialen Verwerfungen führt, die uns heute drohen und in anderen Teilen der Welt zum Teil verheerende Folgen haben.“

Soll wohl heißen: Europa soll sich nicht abgrenzen, sondern entgrenzen: Es soll sich zum Multikulti-Mischmasch-Kuchen verwurschteln, zu einem indifferenten etwas… Welch Perspektive!! Ganz großartig!!

Und dann, drei Tage später, fordert Ulrike Guérot, Vordenkerin des kreativen Nachdenkens, die unser Europa der Nationen durch ein Europa der Regionen ersetzen will, in der Kulturzeit, (endlich) das Gleichheitsprinzip radikal umzusetzen:

„Wenn wir ein politisches Projekt machen wollen, dann sind wir als Bürger alle gleich vor dem Recht. Und ich glaube, das ist die Stellschraube, an der man drehen kann. Denn das bietet die Europäische Union nicht. Wir sind nach Bürgern national gespalten. Die Briten dürfen jetzt austreten. Die Niederländer durften letztens über EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine abstimmen. Wir sind als Bürger ungleich vor dem Recht, bei dem Wahlakt usw. Wenn wir das verwirklichen würden, dass Gleichheit vor dem Recht – Cicero sagt ius aequum, gleiches Recht [d.h. „Eine Person, eine Stimme“] – dann hieße das im Grunde, wir gründen eine Republik, eine res publica zur Organisation des europäischen Gemeinwohls. [Toll!!] Und das wäre tatsächlich etwas anderes als ein Binnenmarkt. Denn ein Binnenmarkt ist dem Gemeinwohl eigentlich nicht verpflichtet.“

Welch‘ argumentative Stringenz!! Superb!!

Doch: Inwiefern dann aber im Interessenverbund (dem Zusammenschluss mehrerer Individuen) das Regionen-Paradigma — „Die Heimat ist die Region.“ — so völlig anders sein soll als das (angeblich antiquierte Noch-)Nationalstaatsparadigma, bleibt offen/vage, eben noch nicht nachgedacht…

Kein Wunder, dass der einzelne EU-Bürger ob dieser über die Medien vermittelten Kakophonie pseudointellektuell-/werthaltigen Gequaks verzweifeln mag…

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Ein inszeniertes Pütschchen

Frog1(Baykal’dan ‚Darbe Girişimi’yle İlgili Şok Tweet, AktifHaber, 16.7.2016)

(„Our boys did it!“ – 30 Jahre Militärputsch in der Türkei, DKP online)

(Hans Springstein, Obama bestätigt US-geführten Putsch in Kiew, der Freitag online, 2.2.2015)

(Deniz Yücel, „Der eigentliche Putsch beginnt jetzt erst“, WELT online, 16.7.2016)

(Moritz Rinke, Eylem heißt Widerstand, FAZ, 18.7.2016, 11)

(Friedrich Schmidt, Moskaus neue Sorge um die Stabilität der Türkei, FAZ, 18.7.2016, 4)

(Kai Portmann, Hannes Heine u. Ingo Salmen, Erst Schweigeminute, dann Forderung nach Todesstrafe, Tagesspiegel online, Live-Blog, 31.7.2016)

Deniz Baykal, *1938, ein führender Oppositionspolitiker… (CHP), der bislang alle Putsche als Erwachsener (!) miterlebte, nennt das Ereignis, was gestern Nacht in der Türkei vonstatten ging, „ein tragikomisches Putschszenario“:

Twitter hesabından açıklama yapan Deniz Baykal, „40 yıllı aşkın siyasi hayatım boyunca, ne darbeler gördüm, ne işgenceler gördüm. Böyle „trajikomik“ bir „darbe senaryosu“ görmedim.“ dedi.

Baykal’ın açıklamaları şöyle:

„Bu şovdan sonra; Bir, Cemaat yok edilecek. İki, Ordu dizayn edilecek. Üç ,Başkanlık ilan edilecek.

Dört, Muhalefetin direniş gücü kırılacak.

Darbenin Değil Başkanlığın Ayak Seslerini Duyuyorsunuz…

Darbe senaryonuzu, başkanlık şovunuzu, selanızı, her şeyi anladık da, şu 6 vakit ezanını anlıyamadım. Muhteşem şov ve başkanlık adımları.

Ne yaparlarsa yapsınlar, hangi senaryoyu kurarlarsa kursunlar. Bir burdayız, senaryolarını, yüzlerine vuracağız.

40 yıllı aşkın siyasi hayatım boyunca, ne darbeler gördüm, ne işgenceler gördüm. Böyle „trajikomik“ bir „darbe senaryosu“ görmedim.“

So ist es. Dilettantischer kann Mann einen Putsch kaum planen und durchführen… Was sich die CIA wohl dabei dachte…?? (Angeblich habe Obama schon vor Monaten grünes Licht zu diesem Spektakel – von Erdoğan als „Geschenk Gottes“ bezeichnet, gegeben…)

Zur Erinnerung:

Our boys did it!“ – 30 Jahre Militärputsch in der Türkei

Am 12. September 1980 fand in der Türkei der faschistische Putsch proimperialistischer Militärs statt. Der Putsch von 1980 war der schlimmste der insgesamt drei türkischen Militärputsche im 20. Jahrhundert und bedeutete für die Arbeiterklasse und die Werktätigen des Landes Leid, Elend und brutale Repression. Der Terror der türkischen Faschisten an der Macht richtete sich insbesondere gegen die organisierte Arbeiterbewegung und die Kommunisten. „Our Boys did it!“ („Unsere Jungs haben es geschafft.“) waren die Worte, die der damalige Leiter des amerikanischen Geheimdienstes CIA in der Türkei, Paul Henze, am Tag nach dem Putsch gegenüber seinen Kollegen bei der CIA äußerte.“ (DKP)

Und vor nicht allzu langer Zeit in der Ukraine:

„Der russische Präsident Wladimir Putin sei von den Ereignissen in der Ukraine Ende 2013 und Anfang 2014 überrascht worden, „nachdem wir einen Deal zur Machtübergabe ausgehandelt hatten.“ Das sagte US-Präsident Barack Obama am 1.2.15. im Gespräch mit Fareed Zakaria von CNN: „… Mr. Putin made this decision around Crimea and Ukraine – not because of some grand strategy, but essentially because he was caught off-balance by the protests in the Maidan and Yanukovych then fleeing after we had brokered a deal to transition power in Ukraine …“ (deutsch bei RT deutsch)

Der US-Präsident bestätigt damit, worauf nicht nur ich hinwies in den Texten vom 26.2.14 über den „Staatsstreich als Strafe für Nein-Sager“ und vom 1.3.14 über die „5 Milliarden Dollar für den Staatsstreich“. Insbesondere US-Autoren hatten immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die USA eine aktive Rolle beim Regimewechsel in Kiew spielten. Stephen Cohen hatte in der US-Zeitschrift The Nation am 11. Februar darauf hingewiesen, dass die mediale Aufregung um Victoria Nulands telefonische EU-Beleidigung nur ablenkte. Wichtiger sei gewesen, dass die US-Diplomaten planten, eine neue anti-russische Regierung in der Ukraine zu installieren und den gewählten Präsidenten „zu verdrängen oder zu neutralisieren“. Das bedeute einen Staatsstreich, warnte Cohen, bevor es dazu kam. William Blum hatte bereits im April 2014 in Folge 127 seines Anti-Empire Reports vom „rechtsgerichteten Putsch in der Ukraine, offen unterstützt von den Vereinigten Staaten“ geschrieben und in der Folge immer wieder darauf hingewiesen. “ (Springstein)

Und dann diese einseitige Berichterstattung im deutschsprachigen Fernsehen…: Kein Wort/Bild davon, dass zu Opferlämmern befohlene Soldaten nach IS-Methode geköpft wurden,

„Die blonde Moderatorin [… İrfan] Aktan zeigt ein Video, in dem ein Mann einem jungen Soldaten auf der [Bosporus-]Brücke in Istanbul im IS-Stil den Kopf abschneidet.“ (Rinke)

dass die AKPHooligans selbst vor der Botschaft in Berlin „Allahu akbar“ riefen…

Schmarrn ist auch die Behauptung, das Volk habe sich widersetzt. Nein: Es sind die Nationalisten und Faschisten, die sich den wenigen Panzern entgegenstellten:

„Auch an den Handzeichen der „Grauen Wölfe“ in der Menge sieht man: Die türkische Rechte – die AKP und die MHP – ist in dieser Nacht vereint.“ (Yücel)

Und was sagt Radio Eriwan??:

„Aus dem russischen Verteidigungsministerium hieß es am Wochenende, wenn auch anonym, die türkische Regierung habe von den Vorbereitungen des Putsches „natürlich“ gewusst“… (Schmidt)

Klaro! (Siehe MIT u. westliche Geheimdienste waren informiert.)

Und was macht die EU: Sie, Merkel und Co., zeigt sich solidarisch mit der ach so demokratisch gewählten Regierung… Die darf sich sogar auf deutschem Boden feiern!! (Erst Schweigeminute, dann Forderung nach Todesstrafe)

Einst nahm sich Hitler Atatürk zum Vorbild. Jetzt ist es Erdoğan, der sich Hitler zum Vorbild nimmt: Ein Land, ein Volk, ein Führer. Hurrah!! Es lebe die Dikta…, äh Demokratie!! Allahu akbar!!

Frog4

 

 

„Luxleaks“-Enthüller zu Bewährungsstrafen verurteilt

Frog1(Steuer-Affäre: „Luxleaks“-Enthüller zu Bewährungsstrafen verurteilt, SPIEGEL online, 29.6.2016)

(Bastian Brinkmann, Lux-Leaks-Prozess: Bewährungsstrafen für Whistleblower, SZ online, 29.6.2016)

(Bastian Brinkmann, Amazon soll weniger als ein Prozent Steuern zahlen, SZ online, 7.10.2014)

(Steuer-Tricksereien nicht mehr dulden“, Luxemburger Wort online, Begleittext zu einem Interview mit Jean Asselborn, 10.11.2014)

(Frank Nordhausen, So erpresst Erdogan die EU, Frankfurter Rundschau, 9.2.2016)

(Angeliki Papamiltiadou, Χοντρό παιχνίδι στην πλάτη της Ελλάδας, EURO2day, 8.2.2016)

Als Journalisten im Herbst 2014 ans Licht brachten,

„dass die Luxemburger Behörden Finanzstrukturen genehmigt hatten, die von PricewaterhouseCoopers entwickelt worden waren und durch die manche Firmen mit teilweise unter einem Prozent besteuert worden waren“, (Luxemburger Wort; im Original keine Hervorhebung)

war das öffentlich bekundete, hinausposaunte Entsetzen groß. Doch schon damals war absehbar, dass auf EU-Ebene alles so bliebe wie immer. Denn:

„Entscheiden muss ausgerechnet die Kommission unter Juncker

Ob die günstigen Steuerdeals tatsächlich illegal sind, ist noch nicht entschieden. Das fällt in die Verantwortung der neuen EU-Kommission, die wiederum noch vom Europäischen Parlament bestätigt werden muss. Fest steht allerdings, wer die Kommission führen wird: Jean-Claude Juncker. Er war vorher Premierminister in Luxemburg, bis 2009 auch Finanzminister. In seine Amtszeit fällt nicht nur der Fall Fiat – sondern auch der Ein-Prozent-Deal mit Amazon. Es könnte also sein, dass der Kommissionspräsident Juncker über den Steueroasen-Premier Juncker richten muss.“ (Brinkmann, 7.10.2014; im Original keine Hervorhebung außer dem Titel)

Das Ergebnis der harten Selbstprüfung kennen wir: Alles einwandfrei, moralisch sauber und legal.

Schuldig sind – wie schon in klassischer Zeit – eben nicht die Täter, vulgo: die da oben, sondern die Aufdecker/Überbringer der schlechten Nachricht. Sie wurden vor Gericht gezerrt/angeklagt.

Nun haben die Gerichte (erstinstanzlich) gegen zwei (der) whistleblower, ehemalige Mitarbeiter der PwC AG, entschieden:

„Der Hauptangeklagte Antoine Deltour erhielt zwölf Monate Haft auf Bewährung und eine Geldbuße. Er wurde vom Bezirksgericht Luxemburg für schuldig befunden, rund 45.000 Seiten Dokumente über Steuervereinbarungen großer Konzerne in die Öffentlichkeit gebracht zu haben.

Ein anderer Ex-Mitarbeiter des Unternehmens [Raphaël Halet] bekam eine Bewährungsstrafe von neun Monaten und ebenfalls eine Geldbuße. Die Staatsanwaltschaft hatte 18 Monate Haft gefordert. Ein französischer Journalist [Edouard Perrin] wurde freigesprochen.“ (SPIEGEL; im Original keine Hervorhebung)

Und Juncker? Der spielt den Vorbild-Europäer. Der Fisch stinkt eben vom Kopf her. Dieses Sprichwort kennen auch die Türken (Balık baştan kokuyor). Kein Wunder, dass Juncker für Erdoğan trotz allem doch Verständnis aufbringt. Siehe: Zurückhalten des Fortschrittsberichts der EU-Kommission:

„Der Fortschrittsbericht der EU-Kommission [zur Türkei] sollte eigentlich am 14. Oktober 2015 veröffentlicht werden, wurde aber bis nach der Wahl verschoben, was die türkische Opposition als Parteinahme zugunsten Erdogans interpretierte. […] Juncker erklärte laut dem [geleakten] Gesprächsprotokoll [veröffentlicht auf EURO2day; link s.o.], man habe den Bericht auf Erdogans eigenen Wunsch hin zurückgehalten.“ (Nordhausen)

Frog4

 

„Citizenfour“ – Auszüge aus Snowdens Stellungnahmen

Frog1Citizenfour ist das Pseudonym, unter dem Edward Joseph „Ed“ Snowden im Januar 2013 sein erstes Mail an Laura Poitras (die Regisseurin des Films) schickt. (Deutsche Bearbeitung: a&o buero filmproduktion; koproduziert von BR und NDR)

Der gleichnamige Film ist der letzte Teil von Poitras‘ „Trilogie über Amerika nach dem 11. September.“ (Der 1. Teil handelte vom „Irak-Krieg“; im 2. „Film ging es um Guantánamo und den Krieg gegen den Terror.“)

Da der Film demnächst nicht mehr auf den Seiten der ARD im Internet abrufbar ist, hier Auszüge aus den in den Film einbezogenen, von Poitras gefilmten Interviews von Glenn Greenwald mit Snowden in Hongkong während der „Zusammenkunft, die insgesamt acht Tage“ dauerte, in der Zeit kurz vor, während und nach den ersten Veröffentlichungen.

3.6.2013

„Zunächst mal, und ich glaube, das habe ich online [in den Mails an Poitras] mehrfach erwähnt, ich finde, dass die modernen Medien zu sehr auf Personen fixiert sind.“

„Ich befürchte, je mehr wir uns auf mich konzentrieren, desto mehr nutzen sie das zur Ablenkung. Das ist nicht unbedingt in meinem Sinne. Und deshalb habe ich immer gesagt, dass ich nicht die Story bin.“

„Ich werde alles tun, was ich kann, um Ihnen bei der Veröffentlichung zu helfen. Ich habe keine Erfahrung mit den Medien. Das muss ich jetzt erst lernen.“

„Für mich geht es letztlich um die Macht des Staates im Vergleich zu den Möglichkeiten des Volkes, sich dieser Macht zu widersetzen. Ich sitze da jeden Tag und werde dafür bezahlt, Methoden zu entwickeln, um die Macht des Staates zu stärken. Und mir wird klar, wenn sich die Politik verändert, die als einzige den Staat im Zaum hält, dann gibt es keinen Widerstand mehr. Dazu müsste man schon ein absolutes technisches Genie sein. Ich weiß nicht, ob sich noch irgendjemand, egal wie begabt er ist, all diesen Behörden und schlauen Leuten widersetzen könnte. Nicht mal gegen die mittelmäßigen Leute und ihre Hilfsmittel kommt man an. Ich habe gesehen, dass die Versprechungen der Obama-Regierung verraten und verworfen wurden. Man entwickelte die Dinge sogar noch weiter, von denen man versprochen hatte, sie einzudämmen und zu zügeln. Es wurde schlimmer; vor allem die Drohnenangriffe. Das habe ich bei der NSA gelernt. Wir sahen am Schreibtisch Drohnenvideos. Das hat mich in meinem Entschluss bestärkt.“

„In Echtzeit, ja. Die Videos wurden in niedriger Qualität gestreamt. Meistens waren es Überwachungsdrohnen, keine Morddrohnen, die Bomben abwerfen. Aber die Drohne kreiste stundenlang über einem Haus. Man wusste nicht, bei wem. Wir kannten den Zusammenhang nicht. Aber es gab eine Seite mit einer langen Liste von Drohnenzielen, in vielen Ländern unter verschiedenen Codenamen. Man konnte jeden Stream anklicken, den man sehen wollte.“

„Ich weiß noch, wie das Internet war, bevor es überwacht wurde. Das war einmalig in der Menschheitsgeschichte. Kinder am einen Ende der Welt führten eine gleichberechtigte Diskussion, in der ihre Ideen absolut respektiert wurden, mit Experten am anderen Ende der Welt, zu jedem Thema, überall, jederzeit, immer, frei und unbeschränkt. Jetzt sehen wir den schleichenden Verfall dieses Modells. Die Leute zensieren jetzt ihre eigene Meinung. Sie machen Witze darüber, dass sie auf der Liste landen, wenn sie für ein politisches Ziel spenden oder wenn sie diskutieren. Wir erwarten schon, dass wir beobachtet werden. Viele Leute sagen mir, dass sie aufpassen, was sie in eine Suchmaschine eintippen. Sie wissen, dass das protokolliert wird. Das ist eine intellektuelle Einschränkung. Ich bin eher bereit, eine Haftstrafe zu riskieren oder andere negative Auswirkungen für mich selbst als dass ich bereit wäre, meine geistige Freiheit einschränken zu lassen oder die geistige Freiheit meiner Mitmenschen, die mir genauso wichtig sind wie ich selbst. Das heißt nicht, dass ich mich aufopfern will. Denn ich als Mensch fühle mich gut dabei, wenn ich zum Wohle anderer beitragen kann.“

4.6.2013

„Aber es gibt eine Infrastruktur in den USA und auf der ganzen Welt, die von der NSA in Kooperation mit anderen Regierungen errichtet wurde. Damit wird im Prinzip jegliche digitale Kommunikation aufgefangen, alle Funkverbindungen und auch analoge Verbindungen, für die es entsprechende Sensoren gibt. Durch diese Infrastruktur ist es möglich, den weitaus größten Teil der menschlichen Kommunikation und der Kommunikation von Computer zu Computer, die ja auch Beziehungen zwischen Menschen herstellt, automatisch aufzufangen, ohne das gezielt tun zu müssen. Dadurch kann jemand Ihre Kommunikation im Nachhinein durchsuchen auf Grundlage einer Selbstbefugnis. Ein Beispiel: Wenn ich wissen möchte, was in Ihren E-Mails steht, oder was Ihre Frau am Telefon sagt, dann brauche ich nur einen sogenannten Selektor, irgendein Element in der Kommunikationskette, mit dem Sie eindeutig oder fast eindeutig zu identifizieren sind. Das sind E-Mail-Adressen, IP-Adressen, Telefonnummern, Kreditkarten oder auch Passwörter, die außer Ihnen niemand benutzt. So etwas gebe ich ins System ein, und die Datenbank sagt nicht nur, ob es in der Vergangenheit irgendwo auftauchte, sondern es gibt noch eine weitere Stufe der Überprüfung. Die reicht in die Zukunft. Wenn das in Zukunft irgendwo auftaucht, dann will ich in Echtzeit darüber benachrichtigt werden, dass Sie mit jemandem kommunizieren.“

„Ich werde den Kontakt zu meiner Familie nicht in dem Maße weiterführen können, wie ich es mein Leben lang getan habe, sonst würde ich riskieren, sie mit hineinzuziehen.“

„Je enger mein Kontakt zu meinen Angehörigen ist, desto eher wird man sie bedrängen.“

„Aber einige Dokumente sind zu Recht als geheim eingestuft. Sie könnten Menschen und Methoden kompromittieren. Ich bin froh, dass ich technisch in der Lage bin, sie zu schützen. Selbst wenn man mich foltert, würde ich das Passwort nicht preisgeben. Dazu bin ich in der Lage. Es gibt Journalisten, die das wohl auch tun könnten. Viele andere könnten es nicht. Aber die Frage ist ja: Kann eine Organisation diese Informationen kontrollieren, ohne eine unkontrollierte Offenlegung zu riskieren. Aber ich bin einverstanden. Ich will nicht entscheiden müssen, was öffentlich wird und was nicht. Deshalb veröffentliche ich das alles nicht selbst, sondern durch die Presse. Damit halte ich meine Befangenheit und meine eindeutige Meinung aus der Sache raus. Und das öffentliche Interesse wird besser berücksichtigt.“

„Übrigens, da Sie ja geographisch mit Großbritannien vertraut sind, der britische Geheimdienst besitzt wahrscheinlich das invasivste Abhörsystem auf der ganzen Welt. Es heißt Tempora, die weltweit erste Totalspeicherung, Inhalte und Metadaten von allem.“

5.6.2013

„Das zweite Archiv konzentriert sich vor allem auf die SSO.“

“SSO steht für Special Source Operations. Das ist die weltweite passive Datensammlung in den Netzen, sowohl in den USA als auch international. Es gibt verschiedene Methoden. Die Arbeit mit Partnerfirmen ist eine der wichtigsten. Sie tun es mit Inlandsfirmen und mit Multis, die ihre Zentrale in den USA haben. Man kann sie zwingen oder für den Zugang bezahlen. Und sie tun es bilateral mit der Unterstützung bestimmter Regierungen. Das geschieht nach dem Motto: Wir helfen euch beim Aufbau des Systems, wenn ihr uns alle Daten gebt. Hier steckt vielmehr drin, als eine Person oder Team bearbeiten kann. Gut. Über X-keyscore und dessen Funktionsweise gibt es einen riesigen Ordner. Es ist das Frontend-System für die Analyse des Ozeans von Rohdaten, von denen ich sprach. Damit ist die nachträgliche Suche möglich, Live-Suche, Flagging usw. X-keyscore ist das Frontend dafür.“

„Ich hatte darüber gesprochen, dass die Möglichkeiten im Laufe der Zeit immer ausgeklügelter werden. Im Jahr 2011 konnten 1 Milliarde Telefone und Internetverbindungen gleichzeitig mit einer solchen Anlage überwacht werden. Und die Datenrate betrug 125 Gigabyte pro Sekunde, das ist 1 Terabit. Mit jeder einzelnen Anlage, ja.“

„Damals gab es 20 Standorte, zehn in Einrichtungen des Verteidigungsministeriums. Allerdings ist das alles veraltet. Wir haben ziemlich schnell expandiert, aber 20 Standorte das sind mindestens 20 Milliarden.“

7.6.2013

„Es geht auch um ein selbst entwickeltes Tool namens UDAQ. Das ist die Suchmaschine für alles, was sie sammeln. Es geht auch um Projekte und Problemlösungen für bestimmte Tools.“

„Sobald es in den Berichten um mich geht, was jeden Tag der Fall sein kann, werde ich meine Identität preisgeben. Ich werde sagen: Hier geht es nicht darum, dass sich jemand verstecken will. Die Probleme betreffen das ganze Volk. Sie gehen jeden von uns an. Ich habe keine Angst vor euch. Ihr könnt mich nicht einschüchtern wie alle anderen. Wenn es sonst niemand tut, dann tue ich es. Was auch immer ihr mit mir macht, nach mir tut es hoffentlich jemand anders. Das ist das Internetprinzip der Hydra. Eine Person kann man zerstampfen, aber dann kommen sieben weitere von uns.“

„Ich habe mich schon an den Gedanken gewöhnt und mach mir keine Sorgen. Wenn jemand die Tür eintritt, werde ich plötzlich nervös, aber bis dahin, ich weiß nicht. Ich esse ein bisschen weniger. Das ist wohl der einzige Unterschied.“

„Ich will mich nicht verstecken, das seh‘ ich nicht ein, auch wenn die Umstände dafür sprechen. Ich finde es ist ein starkes Signal einfach zu sagen: Ich habe keine Angst. Andere sollten auch keine Angst haben. Ich habe letzte Woche noch neben euch im Büro gesessen. Das geht uns alle an. Es ist unser Land. Das Machtverhältnis zwischen Bürgern und Regierung wird allmählich das von Herrschern und Beherrschten, nicht mehr das von Gewählten und Wählern.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich überhaupt nicht enttarnt werde. Es ist eine Frage der Zeit. Ich glaube nicht, dass es lange dauert. Ich habe meine Spuren nicht verwischt. Denn ich hatte immer vor, mich zu outen.“

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In memoriam Berkin Elvan

Frog1(Hasnain Kazim, Polizeigewalt bei Gezi-Protest: Türkischer Junge stirbt nach neun Monaten Koma, SPIEGEL online, 14.3.2014)

(Hasnain Kazim, Türkei: Erdogan nennt toten Jungen „Terrorist“, SPIEGEL online, 14.3.2014)

(Genf bleibt hart: Foto mit Erdogan-Kritik wird nicht entfernt, SRF online, 26.4.2016)

(Matthias Krupa, Löschen, wenn es brennt, ZEIT, 28.4.2016, 2)

Am 11.3.2014 stirbt Berkin Elvan, 15 Jahre, nach 269 Tagen im Koma.

„Er [Elvan] ist das achte Todesopfer der Gezi-Proteste vom Sommer 2013 – sieben Zivilisten und ein Polizist.“

Am Sonntag, 16.6.2013, machte sich der Junge „in aller Frühe auf den Weg, um Brot zu holen für das Frühstück. […]

Augenzeugen berichten, er sei vorsichtig gewesen, habe sich umgeschaut und die Menschenansammlungen gemieden. Als er um eine Straßenecke bog, stieß er auf Polizisten. Was die dachten, ob Worte fielen, all das lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Aber Beobachter berichten, dass einer von ihnen aus nur wenigen Metern Entfernung eine Tränengasgranate auf Berkin feuerte.

Der Junge fiel zu Boden, er blutete stark. [..] In den Tagen nach dem Vorfall las man in türkischen Zeitungen gelegentlich von dem Jungen. Dann hörten die Berichte auf. Ein Name wurde nie genannt. […]

„Der Staat deckt den Täter“

Nach Bekanntwerden von Berkins Tod kam es [… überall] in der Türkei […] zu Protesten [… Doch:]

Im Fall Berkin Elvan [..] gibt es nicht einmal Ermittlungen. Regierungschef Erdogan hatte selbst stolz verkündet, er habe der Polizei den Befehl gegeben, mit Härte gegen „die Terroristen“ vorzugehen, wie er die Demonstranten bezeichnete.“ (Kazim, 11.3.2014)

Am Freitag [14.3.2014] erwähnte er [Erdoğan] bei einem Wahlkampfauftritt in Gaziantep erstmals öffentlich den Namen des 15-jährigen Berkin Elvan [..].

Doch anstatt sein Mitgefühl auszudrücken, stieß er die Familie Elvan und Hunderttausende von Menschen, die um den Jungen trauern, vor den Kopf: Berkin Elvan sei „Mitglied einer terroristischen Organisation“ gewesen, sagte Erdogan.
Soweit die Vorgeschichte. Nun also erinnert
Demir Sönmez, der kurdisch-armenische Wurzeln hat, [in] einer Ausstellung mit 58 Fotografien auf der Place des Nations vor dem Sitz der Vereinten Nationen“ (SRF)
u.a. auch an Elvan.

«Ich heisse Berkin Elvan. Die Polizei hat mich auf Befehl des türkischen Ministerpräsidenten getötet.» Dieser Text ist auf einer Fotografie zu lesen, die derzeit in Genf im Rahmen einer Ausstellung über Demonstrationen gezeigt wird. Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist das Bild ein Dorn im Auge. Er forderte unmissverständlich, dass die Fotografie entfernt wird. Doch davon will die Genfer Regierung nichts wissen: Sie stellt sich hinter die Macher der Ausstellung, wie der zuständige Stadtrat nun gegenüber «10vor10» sagt.

«Genf wird sich von gar keinem Land beeinflussen lassen. Genf und die Schweiz stehen für die Meinungsäusserungsfreiheit ein.“ (SRF; im Original keine Hervorhebungen)

Ja, Frau Merkel, so souverän kann man/frau auch reagieren…

Besonders fatal an unser Muttis Kotau ist, dass sie Deutschland als erpressbar hinstellt. Matthias Krupa hat Recht: Die Türkei ist „gerade dabei ihre Macht zu testen“. —

Tja, da kann/frau wohl nur sagen: Test nicht bestanden, Frau Merkel!

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