Äsop über die Schamlosigkeit der Eromenoi (ἐρώμενοι)

Äsop, Fabeln. Griechisch / Deutsch. Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Voskuhl. Nachwort von Niklas Holzberg. Ditzingen, 2005

In dem bereits früher besprochenen Buch von Vanessa Springora Die Einwilligung heißt es u.a.:

„1974 veröffentlichte G. [Gabriel Matzneff] eine Abhandlung mit dem Titel Les Moins de seize ans – Die unter Sechzehnjährigen -, eine Art Manifest für die sexuelle Befreiung Minderjähriger“. (132)

„G. stellt darin insbesondere die Behauptung auf, dass die sexuelle Initiation Heranwachsender durch einen Erwachsenen dem Wohl der Jugendlichen diene und daher von der Gesellschaft gefördert werden solle.“ (133)

Wie bereits gesagt, insbesondere (auch sehr namhafte) Linke fanden bis zu Springoras Abrechnung mit Matzneff dessen Petitionen auf Legalisierung des Kinderfickens durchaus unterstützenswert. Erwachsene wissen halt viel besser, was den süßen Kleinen zu eigenem Lustgewinn gut tut, nicht wahr Herr Cohn-Bendit?

Schließlich hätten doch schon die alten Griechen Päderastie gelobt. Als guter Europäer gelte es daher, diese Tradition fortzuführen. Im Anschluss an obiges Zitat fährt Springora denn auch fort:

„Durch diese Praxis, die im Übrigen in der Antike weit verbreitet gewesen sei, werde gewährleistet, dass die Heranwachsenden frei über die Wahl ihres Partners und ihre sexuellen Wünsche entscheiden könnten.“ (133)

Gerade Springoras Buch zeigt denn en dé­tail den widerlichen Euphemismus dieses Vorurteils.

Dass Päderastie als gesellschaftlich weithin akzeptiertes Verhalten selbst bei den alten Griechen durchaus kritisch begleitet wurde, ja gar als schamlos angesehen wurde, zeigt Äsop in seiner Fabel Zeus und die Scham (Fabel 109):

„Als Zeus die Menschen gemacht hatte, pflanzte er ihnen sofort die anderen Eigenschaften ein, allein die Scham vergaß er. Deshalb war er in Verlegenheit, wie er sie hineinbekommen sollte. Er befahl ihr also, durch den Hintern hineinzukriechen. Sie aber weigerte sich zuerst und sagte, das sei unwürdig. Als er ihr aber heftig zusetzte, sagte sie: »Ich gehe doch nur unter der Bedingung hinein, dass ich, wenn etwas anderes nach mir da hereinkommt, sofort wieder hinausgehe!« Daher kommt es, dass alle Strichjungen keine Scham haben.“ (Äsop in der Übersetzung Voskuhls, 111)

Dass just Gottvater Zeus auf die Scham vergaß, verwundert freilich angesichts seines notorischen Fremdgehens wenig…

 

Kulturzeit feiert Christian Martys Lobpreisung der Idiotie

Cécile Schortmann im Gespräch mit Christian Marty über Narren in der Gegenwart, Kulturzeit, 5.6.2020

Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt am Main 1987

Platon, Θεαίτητος

I

Die Verkündung:

„Kulturzeit-Gespräch mit Ideenhistoriker Christian Marty über die Rolle des Idioten und seine Übertragbarkeit und Bedeutung in der heutige Zeit.“

Wir gratulieren zu dem herrlichen Deutsch in obigem Satz.

II

Zur Begründung:

Auf die Frage: „Was macht für dich Kulturzeit aus“ antwortet Moderatorin Cécile Schortmann:

„… dass sie immer wieder Anspruch zeigt, dass sie Ansporn ist, die Auseinandersetzung geradezu fordert, dabei aber überhaupt nicht trocken ist, sondern immer wieder Lust macht auf Kultur und ihre verschiedenen Bereiche.“

Mittelmaß feiert Mittelmaß.

Das macht Lust! Also feiert die Kulturzeit denn (auch) Christian Marty, hurrah!, den frisch gekürten Hohepriester der Idiotie. Gilt es doch, nachdem die alten Götter mit Hölderlin pünktlich zu dessen 250. Geburtstag wieder mal (wie bereits in Denis Scheck empfiehlt: „Hölderlins Geister“ berichtet) ins Grab gefegt wurden, neue Götter zu etablieren. So also nun die Idiotie, der freilich – wie all den durch die Kultur-Bespaßungsindustrie hochgekochten: ach so super-modernen, ach so super-aktuellen Göttern und Göttinnen – nur höchst beschränkte Aufmerksamkeits-Zeit (sprich nach Maß(-einheit) einer einzigen Sendung) immanent ist. Mit Heidegger zu sprechen: Der Verfallenheit an das Man eignet das Besorgte in Abhängigkeit vom (vom Dasein aus gesehen) je-meinigen Neuigkeitsgrad: Das je Besorgte begegnet in der Alltäglichkeit im Modus der Verfallenheit. (Siehe Sein und Zeit, § 27) — Ein Zeitlichkeitsaspekt, der bei Heidegger gleichwohl zu wenig thematisiert wurde…

III

Das Gespräch:

Nachfolgend sei der Beginn des Interviews mit Marty wortgetreu widergegeben.

C. Sch.: „Sie sehen darin [im Idiotsein] eine aktuell notwendige Qualität. Wieso?“

Ch. M.: „Nun, wenn der Idiot derjenige ist, der nicht mitläuft, dann finde ich das natürlich eine super Sache. Ich finde schon, es ist eine sehr auszeichnende Sache, eine herausragende Qualität, wenn man nicht mitläuft, nicht mitmacht, auch die Fähigkeit besitzt, mal irgendwo quer zu stehen.“

Toll nicht? Dieses quasi-göttliche Reflexionsniveau!!

C. Sch.: „Wo besteht denn ihrer Meinung nach zu viel Mitläufertum?, zu viel Konformismus?“

Ch. M.: „Gut, ich meine, das ist eine sehr große Frage, nicht. Da kann man über viele Kontexte reden, zum Beispiel über politische Kontexte, ökonomische Kontexte, auch über kulturelle, akademische, wenn man so will, intellektuelle Kontexte. Ich denke, es gibt immer wieder Situationen, wo jemand zum Beispiel im politischen Umfeld nicht der Parteilinie treu ist; und dann heißt es dann gleich: o. k., also, das ist daneben, man soll nicht durchgehen lassen. Oder dann im ökonomischen Umfeld, wo jemand nicht mitmacht bei der Unternehmenslinie und zum Beispiel sich einer Effizienzmaxime nicht unterwerfen will. Also im akademischen, intellektuellen Milieu ist es meines Erachtens oftmals so, dass man eine bestimmte Linie verfolgen muss und wenn man das nicht tut, so kann man das zwar tun, doch ist es dann oft mit negativen Konsequenzen verbunden.“

IV

Die vermeintliche Erkenntnis:

Marty definiert den Idioten also als Nicht-Mitläufer.

Abgesehen davon, dass diese Definition mit dem aus der politischen Philosophie der Griechen stammenden Begriff nichts, aber auch gar nichts zu tun hat (siehe als einen Beleg das nachfolgende Blumenberg-Zitat), liefert der intellektuelle Milchbubi Marty nur Phrasengedresche. Mit Platon gesprochen:

„καὶ ταῦτα πάντ‘ οὐδ‘ ὅτι οὐκ οἶδεν, οἶδεν“ — Und [doch] weiß er nicht mal, dass er nicht weiß, über all das, worüber [er quakt]. (Theaitetos, 173e)

V

Zur Grundlegung der Theorie:

Konfrontieren wir nun Martys Gequake mit Blumenberg.

In Das Lachen der Thrakerin verfolgt er die Anekdote des in den Brunnen gefallen Proto-Philosophen Thales durch die Geschichte der abendländischen Kultur. Er beginnt mit Platon, da dieser uns die Anekdote (gem. Quellenlage) zum ersten Mal berichtet: Thales soll

„als er um die Sterne zu beschauen, den Blick nach oben gerichtet in den Brunnen fiel, eine artige und witzige thrakische Magd [eher: Sklavin…] verspottet haben“… (Theaitet, 174a; in der Übersetzung von Schleiermacher)

Dabei kommt er u. a. auf die Figur des Idioten/der Idiotin zu sprechen

„Plato liebte die Figur [der Thrakerin], die erst durch Tertullian als die des Idiota typisiert und durch Nikolaus von Cues zum Funktionär der docta ignorantia gemacht werden wird; der Sklavenknabe im »Menon« belegt es, die Figur des Pamphyliers im Schlussmythos der »Politeia« ein anderes Mal. Bei der Thrakerin geht es nicht nur um eine Art verständiger Unverständlichkeit.

Platonisch-sokratische Ironie pur!

Aus Thrakien kamen zwei benannte Figuren der hellenischen Welt: der Gott Dionysos mit dem Beinamen Chthonius, der Unterirdische, und der Sklave Äsop, der die Fabel mitbrachte, nach anderen ein Phryger.“ (Blumenberg, S. 34; im Original kein Fettdruck)

Aus dieser kurzen Passage erhellt zureichend die Differenz zwischen einem vom Kulturzeit-Mittelmaß zum Gott hochstilisierten Quacksalber und einem belesenen, sorgfältig und anspielungsreich argumentierenden Philosophie-Professor. Blumenberg zu lesen ist ein immerwährendes intellektuell-amüsantes Vergnügen. Marty zu hören ist Zeitverschwendung.

VI

Zur Schlichtheit der Seele:

Später, im Kapitel Umbesetzungen, geht Blumenberg ausführlicher auf Tertullian ein. Hier heißt es über die thrakische Magd:

„Sie nimmt etwas vorweg, was bei Tertullian an die Stelle der griechischen Autorität [der Philosophen] tritt: die ›schlichte Seele‹, seine anima idiotica„. (eb., 45)

Schlichte Seelen erkennen schlichte Seelen als ihresgleichen,

preisen sich in gegenseitiger Hochschätzung und

versichern sich denn gemeinsam ihres Götzen: Idiotie.

Hoch lebe das Kulturzeit-Team!