Überlegungen zur Tragödie

Im Nachgang zu Flaßpöhlers Sensibilitätsgequake einige wenige Anmerkungen zur Tragödie und Tragödientheorie.* Denn gerade die Tragödie führt vor Augen, wie schon die Athener ihre – um es Flaßpöhlerisch zu sagen – Sensitivität nutzten, um zu schaffen, was Aristoteles als die Sprachhandlung, μῦθος, als Nachahmung, μίμησις, der Praxis, πρᾶξις, dessen, was vor sich geht, bezeichnet („ἔστιν δὲ τῆς μὲν πράξεως ὁ μῦθος ἡ μίμησις“, Περὶ ποιητικῆς, 1450α, ~4).** Es gilt Mythen zu schaffen („μύθους ποιεῖν“, 1449β, ~5) die nicht Nachahmung der Menschen, sondern ihres Tuns und Lebens sind („μίμησίς ἐστιν οὐκ ἀνθρώπων ἀλλὰ πράξεων καὶ βίου“, 1450α, ~16). Es geht also um das Herstellen und Gestalten von möglichst realitätsnahen Handlungsabläufen. (Aristoteles wird aufgrund seines μίμησις-Verständnisses daher gern als erster Adäquationstheoretiker bezeichnet.)

Zur Tragödientheorie

Περὶ ποιητικῆς des Aristoteles sind Reflexionen über die Poetik, keine vollständig durchkomponierte, stringent ausformulierte Gesamtdarstellung. Und erst recht sind die folgenden Ausführungen lediglich Skizzen zu Einzelaspekten von Aristoteles‘ Tragödientheorie.

Jedes ausgesprochene Machtwort beruht auf Entscheidungen. Es bewirkt Reaktionen, Handlungen, pro oder contra. Da die Reaktion bewegt/bewirkt ist, bedeutet sie auf Seite der Betroffenen πάθος, leidvolles Erleben, insbesondere dann, wenn die Forderung des Mächtige(re)n mit den Werten derer, an die die Forderung gerichtet ist, konfligiert. Doch wie immer die Reaktionen ausfallen, sie wirken auf die Mächtigen zurück. Stehen die Auswirkungen im Gegensatz zur Ausgangsintention, bezeichnet Aristoteles dies als Peripetie: Peripetie, περιπέτεια, ist der Umschlag, μεταβολή, dessen, worauf das Handeln abgezielt wurde, des ursprünglich Intendierten in sein Gegenteil („ἔστι δὲ περιπέτεια μὲν ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττομένων μεταβολὴ“, Περὶ ποιητικῆς,1452a, ~21). Aus Sicht des zuschauenden Zuhörers aber kann und soll – so Aristoteles – das Mitleiden am (schweren) Leid, πάθος (siehe insbes. Περὶ ποιητικῆς, 1452β, ~11) , οἰκτρά (siehe Περὶ ποιητικῆς, 1453β, ~14), derer auf der Bühne zur κάθαρσις, Reinigung der Psyche, ψυχή, vom Leid des Lebens führen. (Περὶ ποιητικῆς, 1449β, ~28)***

Sophokles‘ Wort, dass es das Beste sei, gar nicht erst geboren zu werden und das Zweitbeste, falls doch geboren worden, möglichst früh zu sterben (Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ, 1224ff.), gründet in der Grunderfahrung schicksalsbestimmten Lebens –: dass jede Entscheidung notwendigerweise Folgen nach sich zieht (ob man/frau dafür kann oder nicht). In dieser Grunderfahrung wurzelt die Grundstimmung von πάθος. Ödipus, der selbstgeblendete, unbehauste Exilant, spricht es kurz vor seinem Tod als Summe**** seines Lebens aus: All mein Tun ist mehr (passiv) erlitten als (aktiv) getan. („ἐπεὶ τά γ᾽ ἔργα μου πεπονθότ᾽ ἐστὶ μᾶλλον ἢ δεδρακότα“, Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ, 266f.)

Die Tragödie: das erste große Sensibiliisierungsprogramm – der Antike!

Philosöphchen Floßpöhler zum Lesen empfohlen!!

Zur Tragödie

  1. Tragödien sind ausnahmslos athenisch, nicht (gesamt-)griechisch. Tragödien haben gemeinsam, dass sie im Dionysos-Theater von Athen zur Aufführung kamen oder (wie Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ) zur Aufführung verfasst wurden. Das Attribut griechisch ist also falsch und das Attribut athenisch ist überflüssig.
  2. Aufführungsort (Dionysostheater) und Aufführungszeit (Dionysien) weisen die religiöse Bedeutung der Tragödie aus. Tragödien haben dionysischen Fest-Charakter. Gott Dionysos wird direkt (z.B. in den Βάκχαι des Euripides) oder indirekt ins Geschehen einbezogen. (So wird er in Ἀντιγόνη zur Reinigung der Stadt von gewaltiger Krankheit herbeigerufen, 1140ff.)
  3. In Tragödien werden – von einigem effekthascherischem Beiwerk zur Unterhaltung der Massen abgesehen – ernste Sprachhandlungen vollzogen. Jedes Wort ist mit Bedacht zu wählen. Und es sollte nur so viel gesprochen werden wie nötig. Jede Art von Geschwätzigkeit ist zu vermeiden. Schauspieler verbergen sich hinter (statischen) Masken. Es agieren nur die Stimmen, sei es von Einzelnen oder von Mehreren, von Vielen, von Gemeinschaften (Chören). Die Reden der Chöre sind gegenstrophig gebaut: auf jede Strophe folgt eine Gegenstrophe. (Das heißt aber nicht im Sinne von Schulaufsätzen, für und wider das Rauchen. Es geht um Nuancen…)
  4. Im Zentrum der Sprachhandlung steht (fast) immer eine einfache, einzige, alles Weitere entscheidende Entscheidung eines Mächtigen. (In der Tragödie Antigone (Ἀντιγόνη) ist es Kreon – kρέων bedeutet Herrscher –, der mit seinem Befehl die Tragödie ins Rollen bringt. In Οἰδίπους τύραννος ist Ödipus als Tyrann tituliert, nicht als βασιλεύς, König. Wenn wir gleichwohl von König Ödipus sprechen, ist das in unserem Sprachgebrauch zwar nicht falsch, aber die von Sophokles unterstellten Machtverhältnisse mehr als verharmlosend. Denn als Tyrann, also unrechtmäßig: zwar in Erbfolge, aber als Vatermörder an die Macht gekommen, hat Ödipus (bis zum Sturz) die Macht, die Konsequenzen seines Handelns selbst zu gestalten. Er wählt die Selbstblendung und das Exil. Die Selbstblendung vollzieht er. Dann wird er von Kreon, dem nun Herrschenden zudem ins Exil gejagt. (Wäre Ödipus selbstbestimmt ins Exil gegangen, hätte Kreon sich nicht schuldig gemacht…) Es geht immer um das Umgehen mit Macht. Weissagen heißt weise sagen; weise sagt, wer die Fähigkeit aufbringt, die Konsequenz(-en) einer geforderten Entscheidung vorab nüchtern zu bedenken und diese – im Rahmen des von den Göttern Erlaubten! – auszusprechen. (Die Macht des Orakels von Delphi beruhte letztlich darauf, dass seine Weissagungen eintrafen. Manch Fragender soll die Antwort dem Orakel gar vorgegeben haben: self-fulfilling prophecy…)
  5. Jede getroffene Entscheidung zeitigt Konsequenzen und verursacht, schafft Leiden. Gott Dionysos ist das Sinnbild für das Leiden alles Lebendigen – in seinem ersten Leben (als Zagreus) überlebte er das Säuglingsalter nicht; er wurde gevielteilt –, aber auch für die Erlösung vom Leid. Er ist es, der vermag, die Psyche zu reinigen. Er (wie auch Gott Osiris) ist der Wiedergeborene, Auferstandene (Dionysos) und wird als Baby (Iakchos) verehrt. (Weih-Nacht-en lässt grüßen.) — Aischylos prophezeite in seiner Tragödie Der gefesselte Prometheus (Προμηθεὺς Δεσμώτης) Gottvater Zeus gar seinen Untergang, sollte er einen Sohn (Dionysos) zeugen. — Ein weiser Mann, der Aischylos…

*In Wikipedia heißt es:

„Die Tragödie ist eine Form des Dramas und neben der Komödie die bedeutsamste Vertreterin dieser Gattung. Sie lässt sich bis in das antike Griechenland zurückführen.“

(https://de.wikipedia.org/wiki/Trag%C3%B6die, zugegriffen am 2.1.2022)

Eine Aussage, die auf Abwege führt…

**Alle Übersetzungen sind vom Autor: Versuche…

***ψυχή ist für Aristoteles das Vermögen eines Lebewesens, Leben zu ermöglichen und zu erhalten (Περὶ ψυχῆς, 415a, 15ff.) — Heidegger übersetzt „παθήματα τῆς ψυχῆς“ (Hermeutik, 16a, 6f) treffend mit „Erleidnisse der Seele“ (Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, 244)

****Insbesondere Heidegger hat immer wieder auf die Grundbedeutung von λέγειν: (ver-)sammeln hingewiesen. Aristoteles‚ Bestimmung des Menschen als ζῷον λόγον ἔχον ist entsprechend mit zu deuten. Die spätere lateinische Fassung animal rationale verunklart die ursprüngliche Intention dann endgültig. (Siehe insbes. Beiträge zur Philosophie, 498)

Max Moor zum „stillen Karneval“

Max Moor, Schluss mit Moor: Stiller Karneval, ttt, 15.11.2020

Das Beste an ttt sind die humorvoll-bissigen Kommentare von Moderator Max Moor in der Rubrik Schluss mit Moor. Diesmal ging ’s dem dem Corona-Lockdown zum Opfer gefallenen Karneval an den Kragen:

„Die Karnevalsaison hat begonnen, meine Damen und Herren, und sie hat begonnen mit einer, ich sag ‘s mal positiv, Neuerung. Corona bedingt soll es dieses Jahr ein stiller Karneval werden. Und bei dem Wort stiller Karneval hab‘ ich hellau gerufen, ganz leise, versteht sich.

Stiller Karneval, das ist so ziemlich das Härteste, das Abgefahrenste seit Erfindung des Karnevals. Was soll das bitte sein? Ein Mann mit sich allein mit Clownsnase und Papierhütchen vor dem Rasierspiegel? Ein Funkenmariechen im Lotussitz meditierend? Ein Karneval der Einkehr, der Besinnung im Karnevalkloster?

Stiller Karneval. Ich will ja keinem zu nahe treten, aber ist es nicht so: viele werden sich das öfter mal gewünscht haben, für viele war das, ich bin immer noch beim Positiven, eine Utopie. Ja, der Karneval der Zukunft, haben sie geträumt, wird ein stiller Karneval sein. Und trotzdem werden sich jetzt die wenigstens darüber freuen, am aller wenigsten die Solo-Karnevalisten, die verkleidet vor der Laptop-Kamera sitzen und Wolle mer se reinlasse? flüstern.

Karneval gilt als fünfte Jahreszeit. Ich sag ‘s wieder positiv, die anderen vier waren ja auch nicht so toll.“

Doch ganz so widersinnig wie stiller Karneval sich am Rhein auch zunächst anfühlen mag…, ist der von oben verordnete Stimmungsentzug, das Einfrieren rheinischer Frohnatur nicht.

Zum Trost aller Jecken sei gesagt: Der „Schrecken der Vernichtung“ (104) und das Verstummen (105) sind befristet, nur vorübergehend!! — Sie sind zudem, vergesst das nicht, auch eine Seite der Nacht. (104) Auch die Totenwelt und die silentes, die Stummen, gehören ja „zum Reiche des Dionysos“. (106) —

Eine Saison, was ist das schon, wenn das Jahr darauf, in der Session 2021/22, wieder, um so lauter dann, der „Rausch des Lebens“ (97) gefeiert und in manischer Verzückung gelärmt werden darf!!

Kölle Alaaf!!

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Zitate aus Walter F. Otto, Dionysos, Frankfurt a.M., 72011

Kulturzeit feiert Christian Martys Lobpreisung der Idiotie

Cécile Schortmann im Gespräch mit Christian Marty über Narren in der Gegenwart, Kulturzeit, 5.6.2020

Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt am Main 1987

Platon, Θεαίτητος

I

Die Verkündung:

„Kulturzeit-Gespräch mit Ideenhistoriker Christian Marty über die Rolle des Idioten und seine Übertragbarkeit und Bedeutung in der heutige Zeit.“

Wir gratulieren zu dem herrlichen Deutsch in obigem Satz.

II

Zur Begründung:

Auf die Frage: „Was macht für dich Kulturzeit aus“ antwortet Moderatorin Cécile Schortmann:

„… dass sie immer wieder Anspruch zeigt, dass sie Ansporn ist, die Auseinandersetzung geradezu fordert, dabei aber überhaupt nicht trocken ist, sondern immer wieder Lust macht auf Kultur und ihre verschiedenen Bereiche.“

Mittelmaß feiert Mittelmaß.

Das macht Lust! Also feiert die Kulturzeit denn (auch) Christian Marty, hurrah!, den frisch gekürten Hohepriester der Idiotie. Gilt es doch, nachdem die alten Götter mit Hölderlin pünktlich zu dessen 250. Geburtstag wieder mal (wie bereits in Denis Scheck empfiehlt: „Hölderlins Geister“ berichtet) ins Grab gefegt wurden, neue Götter zu etablieren. So also nun die Idiotie, der freilich – wie all den durch die Kultur-Bespaßungsindustrie hochgekochten: ach so super-modernen, ach so super-aktuellen Göttern und Göttinnen – nur höchst beschränkte Aufmerksamkeits-Zeit (sprich nach Maß(-einheit) einer einzigen Sendung) immanent ist. Mit Heidegger zu sprechen: Der Verfallenheit an das Man eignet das Besorgte in Abhängigkeit vom (vom Dasein aus gesehen) je-meinigen Neuigkeitsgrad: Das je Besorgte begegnet in der Alltäglichkeit im Modus der Verfallenheit. (Siehe Sein und Zeit, § 27) — Ein Zeitlichkeitsaspekt, der bei Heidegger gleichwohl zu wenig thematisiert wurde…

III

Das Gespräch:

Nachfolgend sei der Beginn des Interviews mit Marty wortgetreu widergegeben.

C. Sch.: „Sie sehen darin [im Idiotsein] eine aktuell notwendige Qualität. Wieso?“

Ch. M.: „Nun, wenn der Idiot derjenige ist, der nicht mitläuft, dann finde ich das natürlich eine super Sache. Ich finde schon, es ist eine sehr auszeichnende Sache, eine herausragende Qualität, wenn man nicht mitläuft, nicht mitmacht, auch die Fähigkeit besitzt, mal irgendwo quer zu stehen.“

Toll nicht? Dieses quasi-göttliche Reflexionsniveau!!

C. Sch.: „Wo besteht denn ihrer Meinung nach zu viel Mitläufertum?, zu viel Konformismus?“

Ch. M.: „Gut, ich meine, das ist eine sehr große Frage, nicht. Da kann man über viele Kontexte reden, zum Beispiel über politische Kontexte, ökonomische Kontexte, auch über kulturelle, akademische, wenn man so will, intellektuelle Kontexte. Ich denke, es gibt immer wieder Situationen, wo jemand zum Beispiel im politischen Umfeld nicht der Parteilinie treu ist; und dann heißt es dann gleich: o. k., also, das ist daneben, man soll nicht durchgehen lassen. Oder dann im ökonomischen Umfeld, wo jemand nicht mitmacht bei der Unternehmenslinie und zum Beispiel sich einer Effizienzmaxime nicht unterwerfen will. Also im akademischen, intellektuellen Milieu ist es meines Erachtens oftmals so, dass man eine bestimmte Linie verfolgen muss und wenn man das nicht tut, so kann man das zwar tun, doch ist es dann oft mit negativen Konsequenzen verbunden.“

IV

Die vermeintliche Erkenntnis:

Marty definiert den Idioten also als Nicht-Mitläufer.

Abgesehen davon, dass diese Definition mit dem aus der politischen Philosophie der Griechen stammenden Begriff nichts, aber auch gar nichts zu tun hat (siehe als einen Beleg das nachfolgende Blumenberg-Zitat), liefert der intellektuelle Milchbubi Marty nur Phrasengedresche. Mit Platon gesprochen:

„καὶ ταῦτα πάντ‘ οὐδ‘ ὅτι οὐκ οἶδεν, οἶδεν“ — Und [doch] weiß er nicht mal, dass er nicht weiß, über all das, worüber [er quakt]. (Theaitetos, 173e)

V

Zur Grundlegung der Theorie:

Konfrontieren wir nun Martys Gequake mit Blumenberg.

In Das Lachen der Thrakerin verfolgt er die Anekdote des in den Brunnen gefallen Proto-Philosophen Thales durch die Geschichte der abendländischen Kultur. Er beginnt mit Platon, da dieser uns die Anekdote (gem. Quellenlage) zum ersten Mal berichtet: Thales soll

„als er um die Sterne zu beschauen, den Blick nach oben gerichtet in den Brunnen fiel, eine artige und witzige thrakische Magd [eher: Sklavin…] verspottet haben“… (Theaitet, 174a; in der Übersetzung von Schleiermacher)

Dabei kommt er u. a. auf die Figur des Idioten/der Idiotin zu sprechen

„Plato liebte die Figur [der Thrakerin], die erst durch Tertullian als die des Idiota typisiert und durch Nikolaus von Cues zum Funktionär der docta ignorantia gemacht werden wird; der Sklavenknabe im »Menon« belegt es, die Figur des Pamphyliers im Schlussmythos der »Politeia« ein anderes Mal. Bei der Thrakerin geht es nicht nur um eine Art verständiger Unverständlichkeit.

Platonisch-sokratische Ironie pur!

Aus Thrakien kamen zwei benannte Figuren der hellenischen Welt: der Gott Dionysos mit dem Beinamen Chthonius, der Unterirdische, und der Sklave Äsop, der die Fabel mitbrachte, nach anderen ein Phryger.“ (Blumenberg, S. 34; im Original kein Fettdruck)

Aus dieser kurzen Passage erhellt zureichend die Differenz zwischen einem vom Kulturzeit-Mittelmaß zum Gott hochstilisierten Quacksalber und einem belesenen, sorgfältig und anspielungsreich argumentierenden Philosophie-Professor. Blumenberg zu lesen ist ein immerwährendes intellektuell-amüsantes Vergnügen. Marty zu hören ist Zeitverschwendung.

VI

Zur Schlichtheit der Seele:

Später, im Kapitel Umbesetzungen, geht Blumenberg ausführlicher auf Tertullian ein. Hier heißt es über die thrakische Magd:

„Sie nimmt etwas vorweg, was bei Tertullian an die Stelle der griechischen Autorität [der Philosophen] tritt: die ›schlichte Seele‹, seine anima idiotica„. (eb., 45)

Schlichte Seelen erkennen schlichte Seelen als ihresgleichen,

preisen sich in gegenseitiger Hochschätzung und

versichern sich denn gemeinsam ihres Götzen: Idiotie.

Hoch lebe das Kulturzeit-Team!

 

 

 

 

Zum Begriff ‚Geister‘ bei Hölderlin – Kritik von Otts „Hölderlins Geister“

Karl-Heinz Ott, Hölderlins Geister, München 2019

Michael Köhlmeier, Das große Sagenbuch des klassischen Altertums, München, 202019

I

Karl-Heinz Otts Buch, eine der Neuerscheinungen zu Hölderlins 250. Geburtstag, setzt sich zum Ziel, Hölderlins Geister zu benennen und wohl auch zu deuten. Einige Seiten vor dem Schluss seines Buchs schreibt Ott:

„Ums Deuten kommt man nicht herum, es geschieht von allein. Jedes Lesen setzt Assoziationen frei; wir haben sie nicht im Griff, sie schweifen in tausenderlei Richtungen.“ (230)

Diesem Konzeptionsprinzip des Aus- und Abschweifens entsprechend ist Otts Buch aufgebaut. Er kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, aufs Blättchen… Alles in steter Bewegung, ohne Halt, zerschwafelt und zerfaselt; und am Ende bleibt dem Leser nur ein Chaosbrei aus Zitaten, von Rück-, Vor- und Querverweisen, Anspielungen und Deutungsanrissen. Ein Gewoge, hin und her, ohne erkennbaren Faden.

II

Der Titel „Hölderlins Geister“ bereits ist schlecht gewählt. Denn er erinnert fatal an Goethes Gedicht „Zauberlehrling“, in dem es heißt:

„Die ich rief, die Geister,

Werd‘ ich nun nicht los.“

Geht es Ott doch nicht um das Anrufen von Geistern zu einem bestimmten Zauberzweck. Die Auseinandersetzung mit den Geistern erfolgt unter anderen, gleichwohl vagen, in der Schwebe gehalten Rücksichten.

III

Hier (einige) Geister-Stellen aus Otts Buch (ohne Gewähr auf Vollständigkeit) – zunächst geordnet nach dem Fortlauf des Buchs:

  • „die große Gleichheit der Geister […] in Freiheit. Monotheismus und Polytheismus sollen sich nicht nur vertragen, sie sollen eins sein.“ (18)
  • In Hölderlins „vereinigungsseligen Kosmos […] beflügelt sein Weingott die Geister, doch stets mit heiligem Ernst. Von Delirien keine Spur, von Barbarei schon zweimal nicht.“ (37)
  • Wieland stellt fest, dass die Einbildungskräfte sprießen wie selten zuvor, aller Aufklärung zum Trotz. Man sehnt sich nach Geistern und nach Phänomenen, die alle Vernunft übersteigen.“ (51)
  • „Liberale Geister kennen keine männliche Standhaftigkeit, sie schwanken und wanken. Baeumler verabscheut den Liberalismus als weibische Kultur.“ (76)
  • „Von nichts ist bei Hölderlin mehr die Rede als von der Einigkeit und Gleichheit der Geister, nach nichts sehnt er sich mehr.“ (162)
  • Hölderlin im Hyperion: „Von Kinderharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein.“ (179)
  • Hölderlin im Gedicht Hymne an die Jugend: „In der Jugend Strahlen sonnen / Ewig alle Geister sich.“ (223)
  • Der letzte Absatz des Buchs lautet: „Ein bisschen steht um die alte Burse herum noch immer die Zeit still, nicht nur bei Nacht. Hört man Schritte hallen durch die Stille, hört man auch noch anderes. […] Es sind Geister, die nichts von Geistern an sich haben. Gespenster ohne Gespenstisches. Anwesenheit könnte man dazu sagen. Anwesenheit aus naher Ferne, von was auch immer.“ (236)

IV

Diese acht Aussagen ließen sich ex post wie folgt ordnen:

In der Auseinandersetzung mit und gegen Kant entstehe, so Ott, ein neues Bedürfnis nach Metaphysik, nach dem, was die Vernunft übersteigt. (3) Diesem Zeitgeist entsprechend habe Hölderlin seine Einbildungskräfte darauf konzentriert, einen jenseitigen Kosmos der Geister zu entwerfen. Dieser neu, besser: erneut zu schaffende Kosmos der Geister sei bei Hölderlin, so Ott, durch Anwendung der Gestaltungsprinzipien von Einigkeit und Gleichheit zu erreichen. (5) Dies setze – wider das Christentum – die Einheit von Monotheismus und Polytheismus voraus. (1) Diese Einheit wiederum könne aber nur durch den Weingott, sprich Dionysos, gestiftet werden. (2) Sobald durch ihn die Einheit verwirklicht worden sei, wäre die Harmonie der Geister geschaffen, die den Anfang einer neuen Weltgeschichte einleitete. (6) Doch nur jugendliche Dichter vermöchten es, einen solchen Kosmos der Geister zu entwerfen. (7) — Doch was die Geister letztlich sind, bleibt bei Ott offen, (8) außer dass sie – politisch vereinnahmt – (nicht bräunlich, sondern) liberal seien (4):

„Die späten Hymnen […, so Ott] weisen tatsächlich ins Offene“ (227)

So endet das Buch, wie es begann: in geisterhaftem Spuk. Erkenntnisgewinn? Fehlanzeige; auch nach 236 Seiten ermüdendem Lesen nicht auszumachen.

V

Dabei gäbe es durchaus Ansatzpunkte der Bestimmung des Begriffs Geister, auf die Ott jedoch mit keinem Wort näher eingeht:

  • Die Vereinnahmung von Christus als letzten der griechischen Götter bei Hölderlin: Dazu gibt es reichlich Literatur. Insbesondere die Parallelen zwischen Christus und Dionysos sind reichlich diskutiert. Doch von Ott kein Wort dazu.
  • Der Große Pan ist tot“, heißt es (auch) bei Ott. (18) Stimmt. Gott Pan war der erste der griechischen Götter, die starben. (Er stank so sehr nach Ziege, dass die anderen Götter sich weigerten, ihn mitzunehmen, wenn sie auszogen, um von den Kräutern zu essen, die unsterblich machen. Und da er kein Unsterblichkeit erhaltendes Kraut mehr bekam: Pech gehabt.) Der letzte war Dionysos: „die Erlöserfigur in der griechischen Mythologie“. (Köhlmeier, 601)
  • Doch Dionysos wurde, laut Hölderlin, wiedergeboren in Christus, wie auch Ott behauptet. (164) Doch inwiefern? Auch dazu findet sich bei Ott kein Wörtchen. Kein Wörtchen zu den Evangelisten und dem Nachhall der altgriechischen Tradition in ihren Schriften… Kein Wort zum Bezug von Mythos und Logos.
  • Kein Hinweis auf das Zitat, mit dem Hegel seine Phänomenologie des Geistes schließt: „aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm [dem absoluten Geist] seine Unendlichkeit“. Hegel zitiert hier die Schlusszeilen eines Gedichts (ohne Titel) aus Schillers Philosophischen Briefen, das im Abschnitt Gott steht, mit dem die Briefe schließen:

„Freundlos war der große Weltenmeister,

fühlte Mangel, darum schuf er Geister,

sel’ge Spiegel seiner Seligkeit.

Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,

aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches

schäumt ihm die Unendlichkeit.“

  • Auch in den Räubern finden sich mehrere Stellen, die auf Hölderlin (vor)verweisen, z.B. der Ausdruck Harmonie der Geister. (Erster Akt, erste Szene) Doch Ott geht auf Ähnlichkeiten und Differenzen der Begriffswelt / Metaphorologie (Blumenberg) zwischen Hölderlin und seinen Jugendfreunden Hegel und Schelling ebenso wenig ein wie auf die zwischen Hölderlin und Schiller (von dem Hölderlin sich Unterstützung für das Publizieren seiner eigenen Gedichte erhoffte und dessen Werke er daher sehr genau studiert haben dürfte).
  • Besonders disqualifizierend ist folgende Aussage: „Im Übrigen wissen die Griechen noch nicht, dass es sich bei Dionysos und Apoll um ein klassisches Gegensatzpaar handelt. Das ist Nietzsches Erfindung.“ (36) Welch Blödsinn! Es war Gottvater Zeus selbst, der seine beiden Söhne, Dionysos und Apoll, zu den Herren über Delphi bestimmte. (Von Frühling bis Herbst herrschte Apoll und im Winter Dionysos.) Apoll war es, der sich im und über das Orakel offenbarte. Dionysos offenbarte nicht; er wirkte im Verborgenen, im Dunkeln. Nietzsches Erfindung bestand einzig darin, die beiden Wirkmächte des Verbergens und Entbergens der Natur und ihrer Geschöpfe auf die Welt der Kunst zu übertragen. Noch einmal Köhlmeier:

„Apoll und Dionysos verstanden sich wider Erwarten sehr gut. Warum? Weil sie sich ergänzten zu einem. Und das war die allergrößte Gefahr, die dem Zeus drohte, das hat er wohl nicht vorausgesehen. Nämlich zusammen – Apoll und Dionysos, dass Apollinische und das Dionysische –, zusammen waren sie unschlagbar.

Gemeinsam drängten sie den ganzen großen Götterhimmel schließlich zurück. Und in ihrer Verschmelzung gaben sie einer neuen, einer ungeheuer mächtigen Gottgestalt Charakter – nämlich Jesus Christus.“ (614f.)

VI

Wie heißt es bei Hölderlins Odendichter-Vorbild Pindar über die verschwatzten Gelehrten, über die sich sowohl vorher als auch danach Meister der Sprache (sehr hübsch die Xenien von Goethe und Schiller) ebenfalls köstlichst zu amüsieren wussten, so schön:

             μαθόντες δὲ λάβροι

παγγλωσσίᾳ κόρακες ὢς ἄκραντα γαρυέτων

Διὸς πρὸς ὄρνιχα θεῖον·

ihr Allwissen sei nur Krähengekrächze angesichts des göttlichen Vogels des Zeus. (2. Olymp. Ode, Vers 87ff.)

Denis Scheck empfiehlt: „Hölderlins Geister“

Karl-Heinz Ott: Hölderlins Geister, München 2019

Denis Scheck, Denis Scheck empfiehlt: „Hölderlins Geister“, Video, in Druckfrisch (ARD), 26.1.2020

Rüdiger Safranski, Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus. Biographie, München u. Wien, 2004

Martin Heidegger, „Andenken“, in Ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a. M., 72012, S. 79-151

Also spricht Denis Scheck:

„Friedrich Hölderlin ist Deutschlands größter Dichter.

Wirklich?

Was ihn dazu macht, das untersucht Karl-Heinz Ott

der große Forscher, der Hölderlin-Kenner, der neue Literaturpapst gar? — Hurrah! Jubelt, ihr Dumpfbacken. Ein neuer Reich-Ranicki ist uns geboren! Erleuchte uns, oh du göttlicher Ott!

in seinem brillanten

Frohlocket, ihr geistig Armen, denn euer ist das Himmelreich

Essayband „Hölderlins Geister“. Friedrich Hölderlins Programm: nichts weniger als die antiken Götter zurück auf eine verwaiste Erde zu singen, die das Christentum in ein Jammertal verwandelt hat.

Altbekannt

Hölderlins Überzeugung: „Die Poesie… wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.“

Altbekannt

Hölderlin führt den Fachidioten und den Mensch zusammen

Hölderlin will in seiner Dichtung die verloren gegangene Einheit wiederherstellen, das Band zwischen Menschen und Göttern neu knüpfen.

Altbekannt

Hölderlins Klage in seinem einzigen Roman „Hyperion“ über die Arbeitsteilung und das Fachidiotentum in den Köpfen ist die Klage aller Jungen bis heute: „Handwerker siehst du, aber keine Menschen. Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt umeinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?“

Altbekannt; alles, alles altbekannt.

Übrigens: Wie so vieles ist auch Hölderlins Kritik am Fachidiotentum von Schiller beeinflusst, worauf Rüdiger Safranski, anschließend obige Hölderlin-Passage zitierend, in seiner meisterhaft geschriebenen Schiller-Biographie hinweist:

„Den Antagonismus der Kräfte bezeichnet Schiller als das große Instrument der Kultur, im gesellschaftlichen Ganzen den Reichtum der menschlichen Wesenskräfte zu verwirklichen und ihn in der großen Masse der einzelnen zu verfehlen. In dieser Analyse wird Hölderlin den Schlüssel zum Verständnis seines Leidens an der Gegenwart finden.“ (Safranski, 412)

Wo aber ist das Neue, noch nicht Entdeckte?

Hölderlin musste für vieles herhalten

Mit großem Einsichtsreichtum,

haha: lediglich Zitat an Zitat reihend – ohne jeglichen Quellenverweis, das hat Gott Ott nicht nötig – doch dafür mit eigenem Zwischengequak

wortgewaltig

soll heißen: Phrasen dreschend

und mit schlagendem Witz

der nur wohlwollendsten Lesern erscheint

wandelt Karl-Heinz Ott auf Hölderlins Spuren

im Niemandsland

Ott interessiert sich in „Hölderlins Geister“

ausschließlich

für das Nachleben Hölderlins seit seiner Wiederentdeckung Anfang des 20. Jahrhunderts. Man hat aus Friedrich Hölderlin so ziemlich alles gemacht, was man mit einem Dichter machen kann. Die Nazis haben ihn als Barden des Tods fürs Vaterland instrumentalisiert. Die 68er feierten den Revolutionär Friedrich Hölderlin. Die DDR reklamierte den Systemumstürzler für sich, die Dissidenten den unangepaßten Freigeist, der sich allen Zwängen entzog.

Stimmt: All das spricht Ott in einem wirren Zitatenbrei an.

Was dabei völlig außen vor bleibt: Was versteht Hölderlin unter „Geistern“? Was seine Zeitgenossen: Schiller? Goethe? Inwiefern unterscheidet sich sein Ansatz von deren Auffassungen? Welche Bedeutung hat das Wort Geister in der Metaphorologie Hölderlins? Wie ist es eingewebt in sein Denken und Dichten?

So lange all das nicht geklärt ist, ist Otts Geschwafel sinnlos, bodenlos.

Ott hält Hölderlin lebendig

Ott hält Hölderlin lebendig,

Danke, aber dazu brauchen wir Otts pseudo-intellektuelles Gequake nicht.

in dem er zum Beispiel über den Gebrauch des Wortes „aber“ in Hölderlins Dichtung nachdenkt. „Immer wieder das Wörtchen Aber. Jedes Mal horcht man auf, wie Kinder. Jedes Aber lässt an die Bibel denken …“, so Ott.

Ganz große Leistung: abgekupfert von Heidegger – und was darüber hinaus geht: nur blaba.

Sicher gilt aber mit Friedrich Hölderlin bis heute: „Was bleibet aber,

auch bei diesem „aber“ gilt laut Ott und Scheck: ausschließlich an die Bibel denken!

stiften die Dichter.“

Inwiefern?

— Ganz anders die Interpretation Heideggers des Gedichts Andenken, dem obige 2 Zeilen entnommen sind:

Was bleibet aber

stiften die Dichter.

„>Andenken< ist eine einzige in sich gefügte Fuge des aber, die das Wort des Rätsels nennt, als welches das Reinentsprungene im Ursprung bleibt. Dichten ist Andenken. Andenken ist Stiftung. Das stiftende Wohnen des Dichters weist und weiht dem dichterischen Wohnen der Erdensöhne den Grund.“ (Heidegger, 151) —

Also vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue,

wirklich?

und

kaufen, äh

lesen Sie Karl-Heinz Otts „Hölderlins Geister“, erschienen im Hanser Verlag.“

Herzlichen Glückwunsch, liebe Zu-Ende-gelesen-Habende: Nun sind Sie fast genauso schlau oder blöd als vorher. Sie glauben es nicht? Machen wir den Test: Was von all dem Gequake Otts haben Sie denn behalten?

Und sofern Sie vor dem Lesen über ein wenig Vorbildung verfügt haben sollten: Was haben Sie denn Neues gelernt?

Nichts?

Freuen Sie sich: dann sind wir schon zu zweit…