Frau Flaßpöhlers Sensibilitätsgequake

Zur Leseprobe

Das im Fernsehen gefeierte jüngste Machwerk des über „Pornographie und das moderne Subjekt“ und damit aus der Warte wissenschaftlich geschulter Seriosität höchst zweifelhaft promovierten Philosöphchen Flaßpöhler ist höchstnotpeinlich für sie und all die, die ihr Geschwätz hochjubeln und über ihre Großtat an diversen philosophischen TV-Tischen entzückt frohlocken (Eilenberger, Precht und Co.).

Denn liest man/frau die z.B. auf Amazon zur Verfügung gestellte Leseprobe (komplett) durch (S. 31-36 des Buchs), so wird jedem/jeder nicht völlig Verblödeten sofort klar, wie hier gearbeitet wird: nämlich mit den Mitteln der

  1. Pauschalisierung
  2. Übertreibung
  3. Vereinseitigung
  4. Personalisierung

Wer solche Mittel (ge-)braucht, handelt populistisch. — Doch selbstredend trifft das auf das TV-geadelte Philosöphchen Flaßpöhler ebensowenig zu wie auf die andern TV-Pseudo-Größen, denn: populistisch das sind doch nur die Rechten, die AfD-ler, Querdenker, usw.

Das Ziel Flaßpöhlers ist klar: Die Ritterzeit soll anhand möglichst weniger, fiktiver Personen (Ritter Johan und seine Frau) als möglichst schrecklichst, brutalst und unsensibelst gezeigt werden, um dann unsere Jetzt-Zeit, die Gegenwart zum Ende des Jahres 2021, hurrah, als desto strahlender, sprich als das Goldene Zeitalter der Sensibilität dagegen abheben, ausrufen und feiern zu können. Άξιον εστί! Je größer die Differenz, desto überzeugender die Botschaft.

Solch Vorgehen mag methodisch zwar höchst effektiv sein, wissenschaftlich seriös ist es freilich nicht. Ganz das Gegenteil.

Zur Methodologie

Das gern von Moderatoren als promovierte Philosophin titulierte und vorgestellte Philosöphchen Flaßpöhler — muss ja toll sein, hat ja promoviert — arbeitet im Sinne Heideggers histori(zist)isch:

„Historie ist als Fest-stellen ein ständiges Vergleichen, das Herbeiholen des Anderen, darin man sich als das Weitergekommene spiegelt; ein Vergleichen, das von sich weg denkt, weil es nicht mit sich selbst fertig wird.“

(Beiträge zur Philosophie, 493)

Philosophisch durchdrungen ist so ein (wie auch immer ausgeartetes) Weg-denken, Flaßpöhlers Ansatz also schon mal nicht. Er ist, wenn überhaupt, als historisch wissenschaftlich intendiert — auslegbar.

Doch auch dies scheitert in toto. Denn das Bild, das Frau Flaßpöhler entwirft, ist wirklichkeitsinadäquat. Frau Flaßpöhler scheint u.a. von Ritterepen wie Wolfram von Eschenbachs Parzival, die an Ritter hohe moralische Anforderungen stellen – bekanntlich versagt Parzival zunächst, weil er eben nicht sensibel (re-)agiert und die entscheidende Frage eben nicht stellt (5. Buch) – keine Ahnung zu haben. Oder aber sie tut willentlich so, als existierten solche Verhaltensvorgaben/-ideale überhaupt nicht. Und als seien aus dieser Epoche auch keinerlei sensible Verhaltensweisen dokumentiert.

Zur Soziologie der Emotionen

Sensibilität ist aber nicht (nur) historisch-vergleichend (diachron) analysierbar, sondern auch soziologisch (diachron wie synchron). Soziologe Sighard Neckel betont (im Interview mit Nadja Boufeljah):

„Emotionen sind in der Soziologie immer relevanter geworden und stellen ein wichtiges Thema in der soziologischen Analyse dar, weil jegliches Handeln von Emotionen begleitet ist. Unsere Wahrnehmung der Welt, die Art und Weise, wie Ereignisse, Personen und Objekte bewertet werden, all das ist stets mit Emotionen verbunden. Erleben, Deuten und Handeln ist also von Emotionen nicht zu trennen und insofern ist die Soziologie der Emotionen so etwas wie ein Fundamentalthema der Soziologie.“

(Über Emotionssoziologie, Neid und die Emotionalisierung der Gegenwartsgesellschaft, in: Soziologiemagazin, 2/2014, 4; im Original kein Fettdruck)

Neue Sensibilität

Sensibilität (als Phänomen) ist vor allem fundamental-ontologisch, existenzial(-analytisch) fassbar — obwohl von Heidegger in Sein und Zeit nicht thematisiert…

Gleichwohl wird Sensibilität gesellschaftlich-politisch je different akzentuiert.

In seinem Versuch über die Befreiung konstatierte Herbert Marcuse zur Zeit der (Nach-)Studentenrevolte, 1969:

„Die neue Sensibilität ist zum politischen Faktor geworden. Dieses Ergebnis, das durchaus einen Wendepunkt in der Evolution der gegenwärtigen Gesellschaften bezeichnen könnte, erfordert, daß die kritische Theorie den neuen Sachverhalt in ihre Begriffe aufnimmt und erwägt, was er für den möglichen Aufbau einer freien Gesellschaft bedeutet.“

(Versuch über die Befreiung, Frankfurt a. M., 1969, https://www.uni-marburg.de/de/fb03/politikwissenschaft/fachgebiete/politische-theorie-und-ideengeschichte/portal-ideengeschichte-1/studium/12-krisen-marcuse.pdf, 43)

Und auch Neckel konstatierte 2014 (schon) „die Emotionalisierung der modernen Gesellschaft der Gegenwart“:

„Emotionales Engagement wird als etwas besonders Wichtiges und Wertvolles bewertet. Mehr noch: Es wird von Personen erwartet, dass sie in der Lage sind, Emotionen bei sich selbst zu mobilisieren, Empathie zu zeigen, begeisterungsfähig zu sein, sich emotional zu identifizieren. Ich glaube, dass dies ein spezielles emotionales Merkmal unserer Gegenwart ist.“

(a.a.O., 10)

Fazit

Sensibilität ist also weder diachron noch synchron ein gesellschaftsphilosophisch/politisch neues Phänomen/Thema. Frau Faßpöhlers Dahergequake hat also nicht mal Neuigkeitswert.

Frei nach einem meiner Mathelehrer von einst: Unter den Blinden ist freilich selbst der Einäugige König.

Von Schirachs grandios neues Meister-Machwerk „Feinde – Gegen die Zeit“

Ferdinand von Schirach im Gespräch mit Wolfram Eilenberger über Die Feinde des Rechts, SRF, Sternstunde Philosophie, 10.1.2021

Ferdinand von Schirach, Feinde – Gegen die Zeit, ARD, 3.1.2021

Thomas Kirn, Trauer, Wut und Verachtung sind geblieben, FAZ online, 25.9.2012

Maximilian Haase, Kölner Jubiläums-„Tatort“: Gab es in der DDR spionierende Prostituierte?, zum Tatort „Der Tod der Anderen“, Weser Kurier online, 10.1.2021

Der Tod der Anderen, Tatort (aus Köln), ARD, 10.1.2021

Katja Weise, NDR Buch des Monats Januar: „Unheimlich nah“, NDR, 12.1.2021

Johann Scheerer, Unheimlich nah, München, 2021

Sophokles, Antigone, Übersetzt von Friedrich Hölderlin, Bearbeitet von Martin Walser und Edgar Selge. Berlin, 62017

Was wurde um den Spielfilm Feinde – Gegen die Zeit in der ARD für ein Aufwand betrieben! Er wurde vorab massiv beworben und nach der Ausstrahlung vielfach besprochen und kommentiert. Ist der Film doch Produkt eines „der erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart“. (Begleittext zur Sternstunde) Und alles nur, um das TV-Publikum (nochmals) darüber aufzuklären, dass der deutschen Polizei Folter anzuwenden untersagt ist und unter allen Umständen unterlassen werden müsse.

Ausgangspunkt des Films ist der mittlerweile fast zwei Jahrzehnte (!!) zurückliegende Fall der Entführung und Ermordung des elfjährigen Jakob von Metzlers im Jahr 2002. Denn es begab sich Unerhörtes:

„Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner verfiel [damals…] zur Rettung des Kindes, für dessen Überleben er noch eine winzige Chance sah, auf einen in den Polizeiannalen bisher einmaligen Vorgang: Er ordnete die Androhung von Schmerzen durch einen Untergebenen an, er ordnete Vorbereitungen zum Schmerzzufügen an, er verlangte, dies solle unter ärztlicher Aufsicht geschehen, und er ordnete Nachforschungen über die Möglichkeit eines Wahrheitsserums an.“

Ferdinand von Schirach, der damals bereits (ganz Gutmensch) Stellung bezog und klar machte, dass die Anwendung von Folter unter keinen Umständen zu rechtfertigen sei, bekam, wie er in einem Gespräch mit Wolfram Eilenberger jetzt (!!) ausführte, u.a. Post von Leuten, die seine Rechtsauffassung nicht teil(t)en:

„Dass Leute aus einem ersten Impuls heraus denken: Wie kann man nur so kalt sein? Ja, wie kann man nur ein Kind den Prinzipien des Rechtsstaats opfern? Das ist eine verständliche Reaktion. Und ich dachte mir, vielleicht muss man das noch mal anders erzählen, diese Geschichte. Und auch klar machen, was die Folge dieser bösen Tat eigentlich ist, nämlich ganz am Schluss ist es die Folge, dass alle verlieren: der Rechtsstaat verliert, aber auch der Beschuldigte kann nicht verurteilt werden.“

Is‘ ja toll! — Warum von Schirach aber erst jetzt auf diese Vorgänge von anno dazumal reagiert, dazu schweigt er stille.

Und auch was mit dem Opfer, dem entführten Kind, geschieht, blendet sein Film, der ja laut Autor eine andere Erzählung des Ausgangsfalls intendiert, aus. Was aus der entführten Zwölfjährigen im Film wird, interessiert nicht.

Ganz anders im jüngsten Tatort-Krimi:

„Der bemitleidenswerte Norbert Jütte (Roland Riebeling) wurde gekidnappt und in ein Kellerverlies gesperrt, wo er jämmerlich zu sterben drohte, was der „Tatort“ in oft harten Szenen begleitete.“ (im Original kein Fettdruck)

Und was passiert, wenn der/die Entführte frei kommt? Was passiert mit den Familienangehörigen? — Johann Scheerer, der Sohn des entführten und nach mehreren Wochen erst freigelassenen Jan Philipp Reemtsma, der gerade seinen zweiten Roman über seinen Aufarbeitungsprozess veröffentlichte, der vom NDR zum Buch des Monats Januar 2021 gekürt wurde, meint:

„Ich glaube, dass der Prozess, sich überhaupt als Opfer zu sehen, in den allermeisten Fällen erst sehr, sehr lange nach dem tatsächlichen Verbrechen überhaupt anfängt. Wie lange es dauert, bis der abgeschlossen ist, ist, glaube ich, sehr individuell verschieden.“

Für den Gutmensch-Juristen von Schirach aber zählen nicht die Ängste und Qualen der Opfer. Die sind ihm scheiß egal. Ihm geht es nur um die eindeutig juristischen Aspekte: und zwar aus seiner Sicht auf das Recht. Das im Film Dargestellte ist bloß Mittel zum Zweck: Vorlauf zur und in die Rede des (in sich selbst verliebten) Anwalts: des Gutmenschen par excellence. Und so erzählt von Schirach in seinem Film denselben (fiktiven) Fall aus lediglich zwei Perspektiven, zwei Handlungssequenzen: aus der des absolut bösen Polizisten, weil der den vermeintlichen Entführer foltert(e), und aus der des absolut guten, arrogant-selbstgerechten Rechtsanwalts des vermeintlichen Entführers. So sind die Rollen von Gut und Böse von Anfang an clare et distincte eindeutig präzisiert und zugeordnet. Die dem Fall zu Grunde liegende Beziehung Entführer:Opfer verkommt in beiden Erzählungen zur bloßen Staffage. Selbst die Beziehung Polizist:Entführer ist rein funktional ausgeleuchtet und instrumentalisiert.

(Anders als z.B. in Doğan Akhanlıs lesenswertem Roman Fasıl, in dem er, der selbst gefoltert wurde, Folter aus Sicht des Gefolterten und des Folterers in zwei separaten Erzählsträngen gegen- und miteinander bespiegelt. Im Mittelteil des Buchs, in dem sich die beiden Stränge treffen, auf den sie vorlaufen und sich begegnen, sind die Namen derer auf transparentem Papier eingeblendet, die seinerzeit von der türkischen Militärjunta unter General Kenan Evren 1980/81 zu Tode gefoltert wurden. — Bislang ist dieses Stück nacherlebbar gemachter Geschichte leider nicht ins Deutsche übersetzt.)

Die holzschnittartig vorgetragene Film-Inszenierung von Schirachs hingegen dient nur dazu, auch dem letzten Depperl von Zuschauer für alle Zeiten die Gutmensch-Sicht einzubläuen, dass Folter im Polizeieinsatz prinzipiell unstatthaft sei und gar nie, nie nicht angewandt werden dürfe. Und so kulminieren die beiden Film-Erzählungen – die des Polizisten und die des Rechtsanwalts – denn auch in der Gerichtsverhandlung. In ihr wird der Entführer durch das durch den Rechtsanwalt dominierte Gerichtsverfahren aus seiner Rolle als Täter entbunden und sukzessive zum Opfer von Polizeigewalt umgewertet und ummaskiert; und statt des Entführers wird der Polizist auf die Anklagebank gesetzt. Auf dass allen erwartungsvoll vor der Glotze Sitzenden das Licht der TV-Moral aufgehe: Der Polizist ist der Böse! Der Verbrecher ist ein armes Opfer von Polizeiwillkür – habt Mitleid, ihr Zuschauer! – und ist — so die Moral von der Geschicht‘ — entsprechend auf freien Fuß zu setzen.

Von Schirach hätte sein Belehrungsstück freilich noch anders, z.B. als griechische Tragödie aufführen können. Dann aber wäre freilich der Vorführeffekt von Gut (Anwalt) vs. Böse (Polizist) nicht mehr haltbar gewesen. Denn, wie Martin Walser und Edgar Selge über Sophokles‘ Tragödie Antigone schreiben:

„Die Tragödie ist aber umso mehr Tragödie, je weniger einer der Handelnden einfach verurteilt werden kann. Das Stück ist umso mehr unser Stück, je mehr alle gegeneinander Handelnden uns für sich einnehmen können, uns gefallen können. Und uns auch gefallen wollen. Stimme und Gegenstimme sind hier nicht so weit auseinander wie Gott und Teufel im christlichen Kasperletheater.“

Doch von Schirach bezweckt etwas anderes: Er will gar nicht, wie er behauptet, zum Nachdenken anregen. Er will sein Publikum über Gut und Böse belehren. Er ist der Wissende, der TV-Kasperl, der Gutmensch vom Dienst schlechthin. Er ist es, der seinem Publikum sagt, was es zu wissen und zu befolgen hat. Merke: der Polizist ist der Böse! Jeder Polizist ein potenzieller Folterer! (So wie es einst pauschal-verallgemeinernd hieß: Soldaten sind Mörder!) Gutmenschen ist Differenzierung verhasst. Würde die doch ihren Absolutheitsanspruch unterminieren.

Von Schirachs Film ist folglich zu lesen als nur ein Mosaiksteinchen mehr, um das Gutmensch-Bild des bösen Polizisten, hier als Folterer, wie zuvor schon als Neonazi, Schläger, Rassist, etc. im Bewusstsein der TV-Konsument*innen nachhaltig zu verankern.

Wozu bloß nur…?

Zeit der Sophisten. Scobel, Eilenberger und Gabriel im Verkaufsförderungskarussell

„Kulturzeit extra: Der philosophische Jahresrückblick 2020“, Kulturzeit vom 18.12.2020

Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Markus Gabriel – Für einen neuen Existentialismus!, SFR, 6.12.2020

Eine Zeit der Krise — wie die Corona-Zeit — ist immer auch eine Zeit der Chance für ansonsten mittelmäßig erfolgreiche Welterklärer, sich als alle anderen Mitbewerber*innen überragende Meister der Krisenbewältigung zu profilieren und d.h. zu inszenieren und: inszeniert zu werden.

Einer der bereits etablierten Inszenierer ist Gerd Scobel. Auf Kulturzeit darf/muss er immer dann ran, wenn die geplante Sendung ein (pseudo-)philosophisches und/oder -wissenschaftliches Niveau erreichen soll/könnte, das über den üblichen Gequake-Level hinaus reicht. So wurde er denn ausersehen, den Kulturzeit-Jahresrückblick zu moderieren. In der Kulturzeit-Sondersendung vom 18.12.2020 erklärte er das Jahr 2020 im Rückblick zu einem Jahr der Philosophie:

„2020. Dürre und verheerende Waldbrände weltweit, der Klimawandel. Dann, zu Beginn des Jahres die Pandemie. Sars-Cov-2 fordert viele Tote. Leergefegt sind die Straßen in den Hauptstädten der Welt. Schwere Zeiten, aber einen schönen guten Abend, meine Damen und Herren bei Kulturzeit. Hegel, dessen 250. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wurde, definiert die Philosophie als ein Erfassen der Zeit in Gedanken. Reicht Ihnen das? Auch Bilder und Symbole müssen ja eingefangen und interpretiert werden. Und, dann zunehmend nicht nur Gedanken, sondern vor allem auch Daten. Um unsere Gegenwart philosophisch zu erfassen, ist heute anderes und mehr nötig als damals.

[an auszuwertendem Material vielleicht; sicherlich aber nicht an gedanklicher Arbeit — oder sind wir in der Zwischenzeit, ohne es zu merken, zu Übermenschen mutiert, die mehr vermögen als nur die Anstrengung des Begriffs?]

Für uns ein Grund, bei Kulturzeit heute statt eines klassischen Jahresrückblicks zu versuchen, unsere Gegenwart unter heutigen Bedingungen philosophisch zu bestimmen. Warum philosophisch? Weil in diesem Jahr Philosophie vielleicht das erste Mal seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle spielte, als es darum ging, die Gegenwart nicht nur zu verstehen, sondern auch Gesellschaft und Politik gut zu steuern.

[Welch Plädoyer für die Re-Etablierung politischer Philosophie in praxi! Daran ist bekanntlich schon Politik-Berater Platon voll gescheitert…]

Philosophie gehört nach wie vor als ein zentrales Element zum umfassenden Prozess der Aufklärung, über die wir in dieser Sendung noch zu sprechen haben nicht nur mit Blick auf Trump oder das Klima. Allerdings reicht es nicht, sich mit der Rolle der kritischen Prüfung althergebrachter Paradigmen zu begnügen. Wie Anna Riek zeigt, muss es auch darum gehen, dem, was marode ist, neue zukunftsbezogene Narrative entgegenzusetzen.“

Im Anschluss an den Beitrag Rieks dann gab Scobel dem neuen TV-Philosophen-Stern Wolfram Eilenberger Gelegenheit, seine Weisheiten kundzutun. So wie zuvor Prechts begann auch Eilenbergers Karriere damit, nicht nur einen, sondern gleich zwei Bestseller gelandet zu haben. Quantität = Qualität lautet die Devise der nivellierten Bildungsgesellschaft, sprich: wer viel verkauft, muss viel zu sagen haben. Der muss ins Fernsehen!

ScobeI leitete denn das Gespräch mit Eilenberger auch wie folgt ein:

„Im Studio begrüße ich jetzt den Philosophen, Schriftsteller und Publizisten Wolfram Eilenberger, ehemals Chefredakteur des Philosophiemagazins und Autor der beiden Bestseller Zeit der Zauberer und Feuer der Freiheit.“

Selbstredend waren die beiden Super-Bücher auch so positioniert, dass man/frau sie wie auf einem Verkaufsstand während des ganzen Interviews vor das Gesicht gesetzt bekam: eine indirekt und doch plump ausgesprochene Kaufempfehlung.

Die anschließende Unterhaltung unter Freunden – Eilenberger wurde geduzt – entwickelte sich dann auf erwartet dürftigem TV-Verkaufsförderung-Niveau: Weitere potentielle Käufer*innen sollen ja zum Kauf ermuntert und nicht abgeschreckt werden:

G.S. „Wolfram, bei allem Negativen war in meinen Augen dieses Jahr ein Jahr der Philosophie. Kant hätte möglicherweise gesagt, das war ein Ereignis. Teilst Du diese Ansicht? Und warum, glaubst du, wenn ‘s so ist, dass Philosophie wieder so gefragt ist?“

W.E. „Ich denke, es ist ein Jahr, das uns allen sehr zu denken gegeben hat, weil tiefe Störungen in unserem Weltverhältnis uns ermöglichen, grundlegende Fragen zu stellen, auch die ganze Komplexität unserer Lebenswelt wieder in den Blick zu geraten und, ja, ich denke, 2020 war in diesem Sinne ein Jahr, das uns zu denken gab, zu philosophieren gab und vielleicht nach 1989 das wichtigste Schwellenjahr meiner Generation.“

G.S. „Was macht denn Philosophie anders als beispielsweise die Wissenschaften?“

W.E. „Na, die Philosophie hat erst mal keine eigenen Experimente. Sie stellt auch keine Tatsachen im eigentlichen Sinne fest. Sie generiert sie auch nicht neu. Ich glaube, die Kunst der Philosophie besteht darin, Klarheit durch begriffliche Analyse zu schaffen, uns von Kernillusionen unseres Daseins zu befreien, damit wir eine klarere Sicht auf die Welt, auf die anderen Menschen und uns selbst bekommen.“

Ca. zwei Wochen vor diesem Auftritt in der Kulturzeit, am 6.12.2020, wurde Eilenberger im SRF sogar die Ehre zuteil, einen weiteren Superstar der TV-Philosophenzunft, den Universitätsprofessor Markus Gabriel zu interviewen.

In seiner Anmoderation stellte er Gabriel als den Guru

„einer radikal neuen Philosophie, die unsere Kultur von ihren tiefsten, ja todbringenden Irrtümern heilen will“, 

vor. Schleimerischer geht‘ s kaum noch.

Und was sind diese Irrtümer, von denen uns Gabriel – in Eilenbergers Schleimerei-Gequake

„einer der aufregendsten Denker unserer Zeit“

– durch „Intervention in den Zeitgeist“ (Gabriel) befreien will? — Es sind vornehmlich die folgenden drei Geißeln, die von Gabriel mit den Schlagwörtern Physikalismus, Neurozentrismus und moralischer Nihilismus tituliert werden.

Dass diese Erkenntnis Gabriels entgegen der Eigen- und Fremdstilisierung nicht allzu revolutionär sein kann, zeigt schon der Fakt, dass eine andere TV-Größe jüngst über die Unberechenbarkeit des Lebens schwadronierte. TV-Vorzeigewissenschaftler Harald Lesch veröffentlichte mit Thomas Schwartz (nebst Zuarbeiter Simon Biallowons) das in quantitativer wie qualitativer Hinsicht recht dünn ausgefallene Büchlein Unberechenbar.

Auch die Autoren von Unberechenbar, Das Leben ist mehr als eine Gleichung, plädieren für eine Entmystifizierung des Glaubens an die Berechenbarkeit von allem mittels der „Prinzipien, die der Physik und der Mathematik zugrunde liegen“. (12) Freilich geht ihre Kritik nicht so weit, das Wissenschaftsparadigma per se infrage zu stellen: schließlich leben sie — und das recht gut — von der Wissenschaft im universitären Wissenschaftsbetrieb.

Indem sie das „Anything goes unserer Zeit“ (117) verurteilen, prangern sie zudem auch „die scheinbare Entgrenzung des Lebens und der Moral“ und damit den moralischen Nihilismus an. (eb.)

Wo also ist das radikal Neue, das Gabriel für seinen Entwurf in Anspruch nimmt? Es existiert schlichtweg nicht! Alles nur sophistisches Geplänkel: Verkaufsrhetorik…

Konkurrenz belebt das Geschäft,

Pseudo-Konkurrenz erst recht!

„lesenswert“-Profi-Buchbesprecher outen sich als Philosophie inkompetent

lesenswert Quartett, 8.11.2020, 3sat, 8.11.2020

Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929, Stuttgart, 2018

Martin Heidegger, Nietzsche I, Stuttgart, 1961

Anlässlich des Buchs Feuer der Freiheit – Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten von Wolfram Eilenberger schwätzten die drei vom Fernsehen bestellten und bezahlten Literaturbesprecher: „Gastgeber Denis Scheck“ nebst Adjutanten/-in Insa Wilke und Ijoma Mangold in der Sendung lesenswert am 8.11.2020 auch über Eilenbergers früheres Werk Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929 wie folgt:

Denis Scheck

war als Gastgeber gefordert zu beginnen. Erst titulierte er Eilenberger als Philosophen. Dann wertete er ihn zum Erzähler ab:

„Wolfram Eilenberger, der wurde bekannt mit einem veritablen Bestseller: Zeit der Zauberer. Da hat er von Heidegger, von Ludwig Wittgenstein, von Walter Benjamin und Ernst Cassirer erzählt und [nicht und, sondern in] den zwanziger Jahren. Und jetzt hat er mit Feuer der Freiheit einen Band über vier Denkerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben“.

Ein erzählender Philosoph also. Das klingt wie Schriftstellerphilosoph — wie Mann (Frau eher nicht) einst Nietzsche titulierte, um ihn abzuwerten — wie passend, dass er auch noch geisteskrank war, Syphilis bedingt: das Schwein –, um sich nicht mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Eine Haltung, die u.a. Heidegger scharf kritisierte und vehement zurückwies. Für ihn markiert Nietzsches Philosophie gar das „Ende der abendländischen Metaphysik“ (8): aller bisherigen abendländischen Philosophietradition!! — Gegen diese Tradition schrieb Heidegger in und mit Sein und Zeit (1927) an.

Überhaupt sind die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts eine Zeit des Übergangs. Eilenbergers Verdienst ist es, dies in Zeit der Zauberer anhand von vier Hauptakteuren herausgearbeitet zu haben.

Ijoma Mangold

Da Mangold sich am liebsten selbst reden hört, musste er natürlich zu Schecks Gerede sofort etwas hinzu quaken. Er bezeichnete Zeit der Zauberer als „Deutsches Sachbuch“. Auch für ihn ist Eilenberger ein Erzähler:

„Schon in seinem ersten Buch ist er nach dem Prinzip verfahren, wir erzählen etwas [ja, was denn? Bitte genauer!] über die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Ja klar, Heidegger, Wittgenstein, Walter Benjamin, völlig klar. Und dann ein Überraschungsgast, mit dem niemand gerechnet hat: Ernst Cassirer.“

Mangold, dieser ungebildete Volltrottel begreift überhaupt nicht, dass Ernst Cassirer einer maßgeblichen (!!) Philosophie-Ausleger der alten Garde war, gegen die Heidegger zu Beginn seiner Karriere — auch als Person — opponierte. Eilenberger führt dies denn auch clare et distincte aus/vor. (Mangold muss dies überschlafen haben.) Bereits zu Beginn seiner Darstellung geht Eilenberger hierzu detailliert auf das Großereignis II. Internationalen Davoser Hochschulkurse (März 1929) ein. Zurecht schreibt Eilenberger:

„Die Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger gilt heute als einschneidendes Ereignis in der Geschichte des Denkens.“ (24)

Cassirer war eben nicht irgendwer, sondern einer der namhaftesten Philosophie-Professoren seiner Zeit! — Übrigens, Herr Mangold: Cassirer zu lesen ist ein intellektuelles Vergnügen…

Und dann meinte auch noch

Insa Wilke

etwas Kluges zum bisherigen Gerede beitragen zu müssen:

„Er [Eilenberger] benutzt ein Verfahren, das nicht so originell ist; das ist das konstellierende Verfahren. Das ist in der Essayistik inzwischen eigentlich durchaus gängig: also drei [??] Denkerinnen oder auch im letzten Buch drei [??] Denker, die man auf den ersten Blick nicht zusammenbringt, zusammenzustellen, nicht unter der Behauptung einer, eines kausalen Zusammenhangs, sondern er stellt einen Zusammenhang her.

Was diese Dummschwätzerin, die nicht bis vier zählen kann und auch in Logik wenig bedarft zu sein scheint, nicht begreift: Gemeinsamkeit und Unterschiede im Werk von Heidegger und Wittgenstein wurden (wissenschaftlich) mehrmals untersucht, auch Bezüge zwischen Cassirer und Heidegger wurden (nicht nur in Fachkreisen) diskutiert. — Eilenberger, z.B., geht dezidiert und detailliert auf das Gespräch Cassirer contra Heidegger in Davos ein. — Kurz gesagt: Sich im akademischen Betrieb bewegende Berufsphilosophen/-innen sind zwangsläufig miteinander im Kontakt: sie sind Konkurrenten/-innen um begrenzte Ressourcen.

Philosophen/-innen sind (zudem) eine Gemeinschaft aus/im Inter-esse. Heidegger:

„Der große Denker ist dadurch groß, daß er aus dem Werk der anderen »Großen« ihr Größtes herauszuhören und dieses ursprünglich zu verwandeln vermag.“ (33)

Übrigens, Herr Mangold: Der Außenseiter unter den vier genannten Meisterdenkern (Eilenberger) ist nicht Cassirer, sondern Benjamin! Denn:

„Aus akademisch-philosophischer Sicht ist Walter Benjamin im Jahre 1929 eine ausgesprochene Non-Entität.“ (33)

Ein wenig Faktenstudium würde nicht schaden…

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Anm. Die Davoser Disputation ist abgedruckt im Anhang zu Heideggers Werk Kant und das Problem der Metaphysik (1929) — das Heidegger als sein Kantbuch bezeichnete –, das er unmittelbar in Anschluss an die Davoser Hochschulkurse abfasste. — Das allein schon zeigt die Bedeutsamkeit der Disputation…