Nachtrag zur Verhaftung von Can Dündar und Erdem Gül
(Halil Gülbeyaz, Das Ende der Pressefreiheit – Türkei verhaftet Top-Journalisten, ttt, 6.12.2015)
(Knut Rauchfuss, Private Killer im Regierungsauftrag, Zusammenarbeit von Staat und Organisiertem Verbrechen in der Türkei, 15.4.2003)
(Luise Sammann, Türkische Regierungskritiker fühlen sich von EU verraten, Deutschlandfunk, 18.12.2015)
(Thomas Seibert, Hier renoviert die Mafia, Der Tagesspiegel, 28.8.2004)
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Die ttt-Moderatorin verkündet: „Die EU bezahlt die Türkei, damit die Flüchtlinge dort bleiben und drückt gegenüber der Politik Erdoğans die Augen zu.“
In der Tat: Das Hofieren Erdoğans ist die größte, EU-weite Verarsche, die derzeit vor unser aller Augen, in aller Öffentlichkeit abläuft, inszeniert wird. Politik: Ein allseits schmutziges Geschäft. Und alle Kontrollgremien ducken sich weg. Keiner, der die Macht dazu hätte, gebietet Einhalt. Das ist das Ende der EU als „Wertegemeinschaft“.
Die Verhaftung auf Wusch des Staatspräsidenten
Anlass des ttt-Berichts ist die Verhaftung des Cumhuriyet-Chefredakteurs Can Dündar und seines Mitarbeiters Erdem Gül, des Leiters des Cumhuriyet-Büros in Ankara, am 26.11.2015. Seine Nelkenhochzeit verbrachte Dündar im Gefängnis.
Halil Gülbeyaz schrieb den Text zum ttt-Beitrag (als Video verfügbar bis zum 6. 6.2016). In keinem andern deutschsprachigen Bericht wurden die Hintergründe der Untersuchungshaft so detailliert entfaltet. Hier einige Auszüge:
„Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan persönlich ließ Strafanzeige gegen das Blatt [Cumhuriyet] und seinen Chefredakteur Dündar stellen, nachdem „Cumhuriyet“ Ende Mai Fotos und ein Video veröffentlicht hatte, die eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien nahelegen.
Daraufhin drohte Erdogan im TRT [1]-Fernsehen [am 31.5.2015], die Journalisten würden einen hohen Preis für die Veröffentlichung bezahlen und nicht ungestraft davonkommen.“
Wie im Putin-, so auch im Erdoğan-Reich. Doch für Putin gibt‘s Sanktionen, für Erdoğan Milliarden-Geschenke… Das ist ausgleichende EU-Gerechtigkeit: Was man dem ach so bösen Putin nimmt, muss man dem ach so lieben Erdoğan geben. Das hat er sich verdient…
Jetzt, nach der Wahl, in der die AKP die absolute Mehrheit errang (wobei in einem Wahlbezirk schon mal mehr Stimmen für die AKP gezählt wurden als überhaupt Stimmen abgegeben wurden; aber sonst ging wirklich alles mit rechten Dingen zu…) scheint Erdoğan der Tag der Rache günstig…
Grund der Verhaftung:
„Schon im Januar 2014 wurden drei Lkw nahe der syrisch-türkischen Grenze angehalten, beladen angeblich mit Babynahrung für Kriegsopfer. Wie zynisch. Denn bei der Durchsuchung entdeckten Sicherheitskräfte Kriegsmaterial für Islamisten: Hunderte von Raketen und Granaten. Hatte jemand den Kontrolleuren einen Tipp gegeben? Die Begleiter der Fracht, die festgenommen wurden, waren nicht irgendwelche Leute, sondern türkische Geheimdienstler.“
Der Bezug zu den Grauen Wölfen
Das weckt doch Erinnerungen an den Verkehrsunfall nahe Susurluk (in der Provinz Balıkesir, im Westen der Türkei) am 3.11.1996, gegen 19.30 Uhr. Im (selben) Unfallwagen (Mercedes 600) – unterwegs nach Istanbul – verstarben damals Hüseyin Kocadağ, der stellvertretende Polizeipräsident von Istanbul, Abdullah Çatlı, ein führendes Mitglied der Grauen Wölfe und steckbrieflich gesuchter Drogenhändler und Mörder sowie dessen Geliebte, die ehemalige Schönheitskönigin Gonca Us; Sedat Edip Bucak, Parlamentsabgeordneter der DYP, Großgrundbesitzer und Führer von mehreren Dorfschützereinheiten (gegen die PKK), überlebte schwerverletzt… Tja, wenn es gegen die böse, böse PKK geht, war man sich schon immer einig…
Doch zurück zur Jetzt-Zeit.
„“Präsident Erdogan wollte die Macht nicht teilen“, sagt Aydin Engin von der Tageszeitung „Cumhuriyet“. „Er hat sich Feinde gemacht, indem er alte Weggefährten abservierte. Die haben das Filmmaterial vom Waffentransport allen Medien zugespielt und wollten so einen Gegenangriff auf Erdogan starten. Aber nur die Tageszeitung Cumhuriyet war so mutig, dieser Story nachzugehen, ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und sie zu veröffentlichen. Alle anderen Medien bekamen es mit der Angst zu tun.“
„Inzwischen sitzt [sic] nicht nur er [Dündar], sondern auch jene Sicherheitskräfte und Staatsanwälte in Haft, die die Kontrolle der Lkw angeordnet und durchgeführt hatten: wegen Spionage.“
„Es ist ein Skandal, dass der Präsident des Landes hier als Mitkläger auftritt“, sagt der Anwalt von Cumhuriyet, Tora Pekin. „Es gibt einen Gesetzesartikel, der das verbietet. Er besagt, dass niemand der Justiz Anweisungen, nicht einmal Ratschläge erteilen darf. Der Präsident hat aber gesagt: ‚Dündar wird zur Rechenschaft gezogen.‘ Somit hat er den Richtern und Staatsanwälten schon die Richtung vorgegeben. Das ist ein weiteres Zeichen dafür, dass das Land leider ganz schlimmen Zeiten entgegen geht.“
Der Tiefe Staat (derin devlet) feiert fröhliche Urständ
„Der Abgeordnete von der Oppositionspartei CHP Eren Erdem hat mehrere Dossiers über den sogenannten „Islamischen Staat“ und dessen Beziehung zur Türkei erarbeitet. Seine Entdeckungen sind alarmierend: „Eindeutiger geht es nicht. Ein Journalist muss ins Gefängnis, weil er seine Arbeit macht. Aber einen Islamisten, der auf Abhörprotokollen sogar ein Selbstmordattentat auf einer Friedensdemo der Opposition ankündigt, [gemeint ist der Anschlag in Ankara am 10.10.2015] den lässt man machen. Dann sagt unser Ministerpräsident, solange er sich nicht in die Luft gesprengt hätte, sei er ja unschuldig gewesen. Hier sehen wir, dass der Staat gegenüber dem IS sehr tolerant ist, ihn sogar beschützt.““
Einen Tag vor dem Anschlag in Ankara sprach Sedat Peker, ein den Grauen Wölfen nahestehender, verurteilter Mafiosi als Unterstützer Erdoğans auf einer AKP-Veranstaltung in Rize, der Stadt, aus der Erdoğan zufolge seine Familie stammen soll, die prophetischen Worte: „oluk oluk kan akacak“: Blut wird fließen in Strömen… (‘Oluk oluk kan akacak’)
Glauben Sie an Zufälle? Cumhuriyet und andere türkische oppositionelle Medien taten es nicht. (Deutsche Medien hingegen ignorierten das Vorkommnis unisono…)
Luise Sammann lässt in ihrem Beitrag Dilek Dündar, Can Dündars Ehefrau zu Wort kommen. Sie sagt:
„Wir haben die Verhaftung eigentlich erwartet.“ […] „Seit dem letzten AKP-Wahlsieg wussten wir, dass es jederzeit so weit sein kann. Schließlich hat der Präsident ihn öffentlich bedroht. Und in den Erdogan-nahen Medien stand damals, die CIA erledige Leute wie Can normalerweise durch einen plötzlichen Autounfall‘! Die Frage war also: Werden sie ihn umbringen oder nur verhaften. Wir lebten in ständiger Angst.“
Dass die Todesbedrohung durchaus real ist, zeigt die Ermordung von Uğur Mumcu, eines Cumhuriyet-Redakteurs, der mittels Autobombe (mit C4-Sprengstoff) in der Nähe seiner Wohnung am 24.1.1993 in die Luft gejagt wurde. Verantwortlich hierfür sei, nach Ansicht von Knut Rauchfuss, Alaattin Çakici, einer der bekanntesten Mafiakiller der Türkei, der früher – Sie ahnen es – für die Grauen Wölfe aktiv war. (Er wurde am 17.8.1998 im Ausland verhaftet.)
Einige unschöne Details hierzu hat Thomas Seibert:
„Ein berüchtigter Ganove lässt das Sommerhaus eines ranghohen Richters renovieren. Ein Spitzenbeamter des Geheimdienstes bittet denselben Richter, das Verfahren gegen den Ganoven in die Länge zu ziehen. Die Polizei hört alle Telefonate ab, lässt den Verbrecher aber trotzdem ins Ausland entkommen. [Susurluk lässt grüßen…] Was sich anhört wie ein schlechter Krimi, beschäftigt in der Türkei Staatsanwalt, Presse und Politik. Der Präsident des obersten Berufungsgerichts in Ankara, Eraslan Özkaya, steht im Zentrum eines Justizskandals, der die Grundfesten des türkischen Staates erschüttert.“
Und – wie könnte es anders sein – auch der Geheimdienst macht mit:
„Unterdessen bat ein ebenfalls wegen seiner Nähe zum Gangsterboss ins Gerede gekommener Spitzenmann des türkischen Geheimdienstes MIT den Richter, die Entscheidung im Fall des Mafioso aufzuschieben.“
Für den Mord an Mumcu verurteilt freilich wurden Islamisten der (realen oder nur fiktiven?) Organisationen Kudüs Ordusu (Armee von Jerusalem) und Tevhid-i Selam, die sich nicht rechtzeitig wegducken konnten. – Übrigens: Auch dem Schriftsteller Doğan Akhanlı wurde die Mitgliedschaft in einer Partei angedichtet, von der er zuvor nie gehört hatte… – Auf die Islamisten aufmerksam geworden sei man bei einer Hausdurchsuchung von Hüseyin Velioğlu, des Führers der kurdischen Hizbullah, im Januar 2000. Der Bereitschaft zu gestehen wurde jedoch durch Folter ein wenig nachgeholfen, so dass nicht klar ist, ob die Verurteilten wirklich schuldig sind…
Fazit:
Das spricht doch wohl alles für eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU, oder?
Was für vortrefflich integre Freunde Sie doch haben, Frau Merkel… Glückwunsch!