G. Kepels Kritik an E. Todd

Frog1(Gilles Kepel u. Antoine Jardin, Der Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa, Aus dem Französischen von Werner Damson, München, 2016)

(Emmanuel Todd, Wer ist Charlie?, Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens, Aus dem Französischen von Enrico Heinemann, München, 2016)

im dritten, letzten Teil seines Buchs Terror in Frankreich, der den Titel trägt

#CharlieCoulibaly“,

geht der derzeit wohl profilierteste Islamismus-Experte, Gilles Kepel, ausführlich auf Emmanuel Todds Wer ist Charlie? ein.

Kepel stimmt Todd lediglich darin zu, einen – wenn auch zu wenig fundierten – Debattenbeitrag geleistet zu haben:

„Emmanuel Todd wird seiner Rolle gerecht, wenn er den schwachen Konsens vom 11. Januar kritisch auseinandernimmt, und auch sein Beitrag zu der Debatte über die Bruchlinien in der französischen Gesellschaft ist durchaus zulässig als Analyse eines kritischen Intellektuellen.“ (268)

Kepels Kritik an Todds Buch ist dem entsprechend fundamental, vielschichtig und umfasst folgende Aspekte:

  • Todds Außerachtlassen der Terrorakte als Ursache der Großdemonstration Je suis Charlie vom 11.1.2015

Kepel kritisiert Todd dafür, in seine Gesellschaftsanalyse nur die Auswirkungen, nicht aber die Ursachen –: die Terrorakte der Islamisten – einbezogen zu haben:

„Problematisch aber war, dass die Grundlagen seiner [von Todds] Überlegungen völlig im Dunkeln blieben.“ (268)

 

„Der Autor [Todd] geriet auf Abwege, als er bei einer Thematik von solcher Tragweite die Ursache eines Ereignisses ausblendete und einzig und allein seine Auswirkungen untersuchte.“ (268)

Genauer:

„Todd blendet die Analyse der von den Brüdern Kouachi und von Amedy Coulibaly verübten Mordserie vollständig aus und ist in seinem Denken wie besessen von der Demonstration am Sonntag, dem 11. Januar“ 2015. (287f; im Original kein Fettdruck)

  • Todds Gesellschaftskritik des Bürgertums: Laizismus als kaschierte Islamophobie

Für Todd

„war der Impuls für die Demonstration vom 11. Januar das genaue Gegenteil einer großherzigen Neugründung der Republik aus einer kollektiven Auflehnung gegen den dschihadistischen Terrorismus […]. Für ihn kam darin ein aggressiver Laizismus zum Vorschein, der sich die »Islamophobie« auf die Fahnen geschrieben hatte. Die französischen Eliten hätten durch eine ideologische Beeinflussung die Mittelschicht manipuliert und sie überredet, auf die Straße zu gehen im Sinne einer Stigmatisierung der Muslime als Sündenbock. Diese seien nun nachdrücklich aufgefordert, ihren Propheten zu verfluchen und sich damit als echte Franzosen auszuweisen, ganz so wie in Zeiten der Inquisition, als nach der Reconquista zwangskonvertierte iberische Juden, die Marranen, gezwungen wurden, Schweinefleisch zu essen, um sicher zu gehen, dass sie dem Judentum abgeschworen hatten.“ (267; im Original kein Fettdruck)

  • Todds ressentiment-behaftete Fassung des Begriffs Zombie-Katholiken

Der Begriff

„»Zombie-Katholiken«, wie Todd die entchristlichten Menschen der Gegenwart nennt,“ (269; im Original kein Fettdruck)

  • Todds (empirisch unzureichend fundierte) Konstruktion des Zombie-Katholikentums

Die Großdemonstration vom 11.1.2015

„war in seinen [Todds] Augen eine Veranstaltung von »Zombie-Katholiken« der Mittelschicht zur Proklamation ihrer Islamphobie, die jetzt als Ideologieersatz für den angeblichen atavistischen Antisemitismus der französischen Eliten dient.“ (288)

 

„Erkundigungen, die zu Fuß im Nahen Osten, im Maghreb und in unseren Vorstädten durchgeführt werden, sind anstrengender als sozio-historische Gedankenspiele rein, die auf Landkarten französische Orte mit angeblichen »Zombie-Katholiken« verzeichnen, die den Islam ekelerregend fänden.“ (268f; im Original kein Fettdruck)

  • Todds dialektische Neuzuordnung, sprich kommunistische Uminterpretation des Islam

Todds antichristliches Ressentiment scheint politisch motiviert zu sein:

„Emmanuel Todd geht von seiner »jüdisch-bolschewistischen« Selbstdefinition aus“(287).

 

„Todd war in seiner Jugend kommunistischer Aktivist. Er wie auch ein Teil der französischen Linken und Linksextremisten standen dem Verschwinden des Kommunismus, des einstigen Geburtshelfers einer strahlenden Zukunft der Menschheit, ebenso fassungslos gegenüber wie der Hinwendung der Arbeiterschaft zum Front National. Sie es essentialisierten daher »die Muslime« und übertrugen Ihnen die Tugenden des »Proletariats« von früher, wobei Todd seine bolschewistische Vergangenheit zu Hilfe kam. Seine Bezeichnung des Islam als »Religion der Schwachen«, auf welche die Demonstranten vom 11. Januar die Pflicht zu spucken hätten, verweist darauf, dass das Moralisch-Religiöse weiterhin an der Stelle von Politik stand, wie es schon zu Beginn in Iranischen Revolution von 1978 bis 1979 der Fall gewesen war: Den Ausdruck »Schwache« […] benutzte […] der Ideologe Ali Shariati, um die marxistische Formulierung von den »Unterdrückten« in islamische Kategorien zu übersetzen.“ (270; im Original kein Fettdruck)

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