Zur Entstehung des „home grown terrorism“: G. Lustigers Analyse in „Erschütterung“
(Gila Lustiger, Erschütterung, Über den Terror, München u. Berlin, 2016)
(Bernd Stegemann, Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie, Berlin, 2017)
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Gila Lustiger versucht in Erschütterung die Attentate vom 13. November 2015 in Paris aufzuarbeiten. Über ihre Motivation schreibt sie:
„Ich tat es aus Erschütterung. Weil ich verstehen wollte, was eigentlich geschehen war, was uns da überrollte und was es zu bezwingen galt.“ (7)
Den Ausgangspunkt des islamistischen Terrorismus sieht Lustiger in den massiven Jugendkrawallen in den Banlieues in 2005. Diese Krawalle haben freilich eine lange Vorgeschichte, die bis in die 90er-Jahre zurückreicht. Für Lustiger sind die Krawalle Ausdruck des Protests der Jugendlichen der Vorstädte von Ballungszentren, insbesondere Paris. Lustiger glaubt, dass die gewaltsamen Proteste zunächst (auch in 2005 noch) nicht islamistisch fundiert waren. Das macht sie u.a. daran fest, dass sich die aufgestaute Aggression nur gegen Sachen selbst (nicht als Stellvertreter von Ideologien) und dabei u.a. auch gegen Bibliotheken (als Orte ideologiefreier (weil disparater) Büchersammlungen) richtete:
„Während der Jugendkrawalle 2005 wurden 32 Bibliotheken in Brand gesetzt oder derart verwüstet, dass ihre Bestände weggeschmissen werden mussten. […] Immer wieder [seit 1996] sind die Bibliotheken der Banlieues das Ziel von Attacken.“ (64)
Als Grund für den Hass auf die Bücher und alles Geschriebene erachtet Lustiger das Empfinden der Jugendlichen, dass selbst Bildung ihnen keine Perspektive auf Integration und erst recht nicht auf sozialen Aufstieg ermögliche. Zudem werde die Schriftsprache – und d.h. vornehmlich (aber nicht nur) die französische Schriftsprache – instrumentalisiert, um sie zu knechten. Für die jugendlichen Wutbürger
„symbolisieren [… die Bibliotheken] nicht mehr als eine weitere Demütigung. Viele der Randalierer waren Schulabbrecher, und ihr Hass galt nicht nur dem Buch, sondern auch ganz allgemein dem geschriebenen Wort, das sie als Instrument ihrer Unterwerfung empfanden. Mit Sprache und einer Schriftkultur verbanden die Jugendlichen keine Möglichkeit, ihrem Milieu zu entkommen, sondern vor allen Dingen eins: Bürokratie. Sprache und Schriftkultur, das waren für sie die Formblätter und Formulare der Behörden, die sie auszufüllen hatten, wenn sie zum Arbeitsamt mussten oder zur Krankenkasse, um sich ein ärztliches Attest, eine Bescheinigung oder Arbeitslosengeld zu verschaffen. Sprache, das waren Gebote und Verbote. Nichts anderes als eine weitere Strategie, sie zu zäumen“ und ruhigzustellen. (66; im Original kein Fettdruck)
Waren es zunächst nur Sachen, u.a. Bücher, die als vernichtenswert galten, so richtete sich der Hass in 2015 gegen Personen, insbesondere die Macher einer bestimmten Zeitschrift: Charlie Hebdo. Im Nachhinein bedauert Lustiger, dass diese Gefahr des Umschlags von Sachbeschädigung zu Mord von Staat und Gesellschaft (und auch ihr selbst) nicht gesehen und gegen die (mögliche) Eskalation der Gewalt zu wenig unternommen wurde:
„Waren wir denn alle verblendet? Wieso gab keiner auch nur zu bedenken, dass man dort, wo man Bücher verbrannte, bald auch ihre Autoren ahnden würde? Die Antwort kann nur lauten: Weil keiner von uns die Randalierer aus den Vororten vor dem Tag ernst nahm, an dem ein kiffender Pizzalieferant
[Anmerkung: Im Fall Amri wurde die Überwachung auch deswegen (angeblich??) eingestellt, weil islamistische Selbstmordattentäter Drogenkonsum als haram ablehnten…]
und sein Tellerwäscher von Bruder in die Redaktionsräume einer Zeitschrift stürmten um zwölf Personen zu töten.“ (73; im Original kein Fettdruck)
Die Bücherverbrennungsaktionen als Revolte legen dabei insbesondere Parallelen zur nationalsozialistischen Propaganda nahe, als im Dritten Reich gezielt alles Jüdische in der Reichskultur ausgelöscht werden sollte:
„Bücherverbrennungen hat es in der Geschichte der Menschheit gegeben, seit es Bücher gibt. Und diejenigen, die Bücher auf dem Scheiterhaufen warfen, weil sie sie als ketzerisch erachteten oder als obszön, als häretisch oder als aufrührerisch, als dekadent oder verletzend, bedienten sich, so unterschiedlich ihre Lehren waren, immer der gleichen Erklärungsmodelle: Sie spalteten die Welt auf in Freund und Feind, in Wir und die Anderen, in Höherwertig und Minderwertig, in Gut und Böse.“ (74) „Als die [Kouachi-]Brüder nach dem Attentat zurück zu Ihrem schwarzen Citroën C3 rannten, rief einer der beiden: »Wir haben den Propheten gerächt! Wir haben Charlie Hebdo getötet!«“ (75; im Original kein Fettdruck)
Wie für die Nazis unter Hitler galt/gilt auch in den Banlieues der Jude als das schlechthin Böse. Zudem wird das kapitalistische System, das in den Banlieues als Ausbeutersystem wahrgenommen wird, als seinem Wesen nach jüdisch gebrandmarkt:
„Der Jude war [für die Nazis] nicht nur Volks-, sondern auch Klassenfeind. Das Geschwätz vom »jüdischen Kapital«, von einer Weltverschwörung, von jüdischen Spekulanten und Ausbeutern, die nicht nur die Märkte beherrschten, sondern auch die Armen dieses Planeten ausbluten ließen, ist übrigens auch heute in den Banlieues unter muslimischen Underdogs ein weit verbreitetes Vorurteil und einer der Gründe für einen brutalen, virulenten Antisemitismus, der nicht vor Vergewaltigung, Folter und Mord zurückschreckt.“ (90f; im Original kein Fettdruck)
Als Beleg nennt Lustiger den
„Foltermord an dem 23-jährigen Handyverkäufer Ilhan Halimi, der am 20. Januar 2006, knapp ein halbes Jahr nach den Jugendkrawallen, von einer Gang aus der Vorstadt Bagneux […] entführt wurde.“ (91) „Alle Gangmitglieder waren jung, der jüngste von ihnen war gerade einmal siebzehn, fast alle waren sie arbeitslos und Kinder von Immigranten oder Nachfahren von Immigranten aus afrikanischen Staaten und besaßen die französische Staatsbürgerschaft. Sie alle waren orientierungslos, frustriert und verroht und haben sich von radikalislamischer Literatur und deren Predigern aufhetzen lassen. Alle waren sie auf »die Juden« fixiert, von deren imaginärem Reichtum und Erfolg sie sich gedemütigt fühlten.“ (92; im Original kein Fettdruck)
Doch die Politik unternahm, laut Lustiger, nichts, um gegen diese Einstellungen vorzugehen:
„Kollektiv jedoch wurden die Einwandererkinder letzten Endes als unlösbares Problem gesehen. Das Spiel war immer das gleiche: Gewalt in regelmäßigen Abständen, der in regelmäßigen Abständen eine neue Politikstrategie im Kampf gegen Armut und Ausgrenzung folgte, die in regelmäßigen Abständen kritisiert wurde.
Die Rechtspopulisten malten alle Schrecken einer Überfremdung an die Wand, während die Linken in Ihrem Diskurs gefangen blieben. Was mich [Lustiger], Enkelin eines Kommunisten und Kibbuzgründers, am meisten schmerzt, ist der Realitätsverlust der radikalen Linken. [… Sie sind] schon lange keine verändernde Kraft mehr […]. Sei es, weil sie es nicht geschafft haben, sich zu erneuern, oder, weil sie Realitäten wie auch die wahren Bedürfnisse der Underdogs nicht zu erkennen imstande waren – keine dieser Bewegungen hat die Einwandererindker in den so genannten Klassenkampf einbinden können.“ (105f; im Original kein Fettdruck)
Lustiger kritisiert die politische Linke also ähnlich wie Bernd Stegemann in seinem kürzlich, Anfang 2017, erschienenen Buch Das Gespenst des Populismus. Die Linke könne, so Stegemann,
„die Tragödie von Kapitalismus und Faschismus [nur] verhindern“, (Stegemann, 96) wenn sie „den Antagonismus von Kapital und Arbeit wieder zur treibenden Kraft gesellschaftlicher Veränderungen“ mache. (Stegemann, 102)
Doch im Gegensatz zu Stegemann sieht Lustiger nicht das Kapital, sondern die Selbstreferenzialität und Reproduktion der Elite aus sich selbst heraus als Problem:
„Zu lange schon reproduziert sich die Elite in Frankreich selbst. Seit Jahrzehnten wird das Land von denen gelenkt, die nicht einmal zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.“ (117; im Original kein Fettdruck)
Mit Stegemann müsste man/frau Lustiger daher vorwerfen, die neoliberalistische Propaganda nicht durchschaut zu haben. Stegemann:
„Nicht die Eliten stehen im Gegensatz zum Volk, sondern die Interessen des Kapitals, das sich hinter ihrer Moral und ihrer Sprache versteckt und das dadurch für das Volk zu einer unangreifbaren Instanz gemacht worden ist.“ (Stegemann, 133)
Stegemanns Kritik ist auch insofern hilfreich, als er Moral und Sprache als abkünftige Modi des Kapitals fasst. Denn nur so wird deutlich, warum Sprache als Herrschaftsinstrument des Alltags erkannt, desavouiert und radikal abgelehnt wurde/wird. Doch der Umschlag von Sprachabkehr und Sprachlosigkeit in gewalttätiges, zerstörerisches Handeln markiert (in der Rückschau) erst eine Zwischenstufe der Eskalation. Denn: „Terror [ist] die radikalste Integrationsverweigerung“ (142)
Als Gegenwaffe empfiehlt Lustiger Humor:
„In einer Ausgabe, die gleich nach den Attentaten erschien, verspotteten die Charlie Hebdo-Karikaturisten mit ihrem üblichen Gespür für das Lächerliche im Menschlichen diese Haltung [„der Pariser […] sich ihrer Lebenslust und ihrer hedonistischen Seite zu versichern.“ (148)] . Auf dem Cover ist ein durchlöcherter, tanzender Mann mit einer Flasche Champagner in der Hand abgebildet. Die haben die Waffen. Wir scheißen auf sie. Wir haben Champagner, steht auf dem Titelblatt.
»Dies ist die einzige Antwort, die wir den Terroristen geben sollten: dass ihr Versuch, Terror auszulösen, vergeblich ist«, erklärte der Redaktionsleiter Riss [Laurent Sourisseau] im Editorial der Ausgabe.“ (149; im Original kein Fettdruck)
Bleibt nur zu hoffen, dass wir unseren Humor nicht verlieren und dass uns in der Integrationspolitik weittragendere Konzepte einfallen…