Glücksversuche einer „Glücksphilosophin“

Zu Ariadne von Schirachs Buch Glücksversuche: Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen

Will man/frau wissen, auf welch geistigem Unterst-Niveau sich Ariadne von Schirachs jüngstes in Buch gepresstes Gelaber über das Glück bewegt, so genügt ein Blick in Richard Herolds Lobhudelei auf Kulturzeit, ausgestrahlt am 10.1.2022. (https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/sendung-vom-10-januar-2022-100.html)

In seinem Beitrag entblödet sich Richard Herold (RH) zu folgenden Aussagen gewürzt mit Einsprengseln irgendwelcher Zufalls?-Passanten und den Antworten der „Philosophin“ (AS):

RH „Mit dem Glück beschäftigt sich die deutsche Philosophin und Autorin Ariadne von Schirach. Sie kennt sich bestens damit aus, ergründete in einer wöchentlichen Kolumne, was uns glücklich macht. Diese Texte hat sie in ihrem aktuellen Buch zusammengefasst.“

Philosophisches Fragen ist wohl kaum eine nationale Angelegenheit. Insbesondere wird das Glück sich wohl kaum nach nationalen Belangen differenzieren: als deutsches, schweizerisches usw. Glück. Die Dummheit des Attributs deutsch zeigt sich schon darin, dass im Beitrag Passanten mit Schweizer Akzent, also Nicht-Deutsche zu Wort kommen. Zudem könnte die Kennzeichnung deutsch eine Nazi-Nähe suggerieren, die der Autor garantiert nicht intendiert. Damit aber nicht genug der Dummheit.

Eine Philosophin ist für Herold jemand, der sich bestens auskennt, eine Expertin also, im vorliegenden Fall eine Expertin für Glück. Eine Philosophin ist also eine Glücksexpertin. — Ginge es um Mäusezucht, gäbe es nach Herold dem Scharfsinnigen wohl auch Mäusezucht-Philosophen und -Philosophinnen.

Das Zusammentragen von Texten und das Publizieren dieser in Buchform: welch höchst philosophische Tätigkeit, preisverdächtig. Ob dieser Großtat sollte das Philosöphchen für den Ἄξιον ἐστίν 2022 nominiert werden. — Ob von Schirach bei der Textanordnung wohl ähnlich genial vorgegangen ist wie die Macher des Koran? Anordnung der Texte nach Anzahl der Wörter? Der Text mit den meisten Wörtern zuerst, der mit den wenigsten zuletzt? Inhalt: Nebensache. Logische Stringenz: Unwichtig.

AS „Glücklich machen uns Naturerfahrungen und glücklich macht uns inneres Wachstum. All diese Dinge sind nicht konsumierbar, aber sie sind erfahrbar und sind eine belastbare Antwort auf die Frage nach dem Glück und nach dem Sinn. Und Glück erscheint uns dann eher als etwas, das uns zufällt, eine goldene Zeit, eine wunderbare Begegnung, eine Liebesgeschichte und so weiter.“

Was ist das denn, inneres Wachstum? Ein Ding gar? Ein nicht konsumierbares Ding: Was soll das denn sein? Ob Philosöphchen dabei an Descartes gedacht hat (res cogitans vs. res extensa)? Welch Ding-Begriff liegt da zugrunde? Doch ist dies nicht geklärt, kann die Antwort nicht belastbar sein. Schon mal vom Satz vom Grund gehört? Leseempfehlung für Philosöpchen: Heideggers Vorlesungsskript Der Satz vom Grund.

Noch so ein nicht näher erläutertes Ding: die hingeworfene Nominalphrase eine wunderbare Begegnung. Was heißt hier wunderbar? Inwiefern können Begegnungen wunderbar sein?

RH „Also doch alles eher Zufall? Nur bedingt, sagt die Autorin. Glück kann erarbeitet werden.“

Und wie soll diese Arbeit am Glück aussehen?

AS „Die Idee ist, ein zufriedenes Leben zu führen und dadurch das Glück anzulocken. Und ein zufriedenes Leben zu führen bedeutet sich zu kennen, sich anzunehmen, aber auch sich zu erziehen, weil wir selber sind oft unser schlimmster Feind. Und die Suche nach dem Glück beginnt damit, sich selbst ein Freund zu werden.“

Das klingt nach den Weisheiten aus Zeitschriften wie Die Bunte. Trost für die Dummen, die sich mit dem Gelaber anderer zufrieden geben, weil sie zu denkfaul sind, um selbst „die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen“. (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, https://www.marxists.org/deutsch/philosophie/hegel/phaenom/vorrede2.htm) Und so treffen sich denn von Schirachs Leser und ihr Philosöphchen in wundersamer Begegnung selbstverschuldeter Unmündigkeit:

„Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

(Kant, Was ist Aufklärung? https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/159_kant.pdf)

RH „Sich selbst ein Freund sein, klingt gut. Was gehört sonst noch zum Glück? — Das vergängliche Glück, das Glück mit anderen Menschen, das Glück mit sich selbst. Ariadne von Schirach meint mit ihren Glücksversuchen aber nicht Selbstoptimierung, nicht das Ich gegen außen aufpeppen, sondern nach innen schauen und sich in Lebenskunst üben. Dabei denken wir oft, das Glück stehe uns doch zu, als Standardausstattung sozusagen für privilegierte Erste-Welt-Menschen.“

Das Glück mit anderen Menschen? Vor wenigen Tagen kam an einer Kreuzung in der Nähe unserer Wohnung ein 15jähriger auf seinem eben erst zum Geburtstag geschenkten Fahhrad ums Leben, weil er zu unachtsam war und der nach rechts abbiegende LKW-Fahrer nicht aufpasste. Soll das Glück mit anderen Menschen sein? Nach Sophokles vielleicht, dem nach nicht geboren zu werden das Beste, und wenn doch geboren worden, möglichst bald zu sterben das Zweitbeste sei. Oder ist das zynisch? Ob Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft helfen kann?

Das Glück mit sich selbst: Was, bitte schön, soll das denn sein? Ein mit sich selbst identisches Glück? Eine Frage der Evidenz? Erst der nicht vollzogene Rekurs auf den Satz vom Grund, nun eine Anspielung auf den Satz der Identität (A=A). — Immerhin das Eingeständnis, es handle sich um Versuche, Laborarbeit also, mit dem Ziel Nicht Selbstoptimierung. Immerhin: Eine definito ex negativo. Wie hübsch, Annäherung an das, was Glück ist, sprich das Wesen des Glücks durch Ausschlussverfahren. Doch lässt sich das Wesen von etwas, einem Ding gar, überhaupt ex negativo zureichend fassen? — Und dann noch ein wenig Fichte: Das Ich selbst, das sich ein Nicht-Ich entgegen setzt, um sich als Ich zu erkennen? Falls die Antwort ja ist, ist dann zu fragen: Wie, durch welchen Begriff, sind sie vereinigt oder zu vereinigen? Fichtes Anwort:

„Wir haben die entgegengesetzten Ich und Nicht-Ich vereinigt durch den Begriff der Theilbarkeit.“

(Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, http://www.zeno.org/Philosophie/M/Fichte,+Johann+Gottlieb/Grundlage+der+gesammten+Wissenschaftslehre/1.+Grunds%C3%A4tze+der+gesammten+Wissenschaftslehre/%C2%A7+3.+Dritter,+seiner+Form+nach+bedingter+Grundsatz)

Trifft dies auf das Glück zu? Ist Glück teilbar? Das Philosöphchen schweigt dazu. Ist auch besser so. Nur nicht festlegen. Für Blabla kann man/frau nicht belangt werden, für nachgewiesene Dummheit schon: Si tacuisses, philosophus mansisses — hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben (frei nach Boethius).

AS „Leute wie ich zum Beispiel sind in einer sehr privilegierten Position. Ich habe die Zeit, ich habe die Muße, ich habe den Raum darüber nachzudenken, wer ich bin, wer ich sein möchte, wer ich auf keinen Fall sein möchte, doch immer wieder werde und so weiter. Und das ist sozusagen ein Privileg, und Teil dieses Privilegs ist es auch immer daran zu erinnern, dass andere das nicht haben und sich dafür einzusetzen, das zu ändern.“

Schau an, Philosöphchen sieht sich als privilegiert. Und das zu Recht, auf mindestens vierfache Weise: (1) Nichts zustande zu bringen außer Gelaber. (2) Dieses Gelaber dann gedruckt zu bekommen — „Parturient montes, nascetur ridiculus mus“ — Die Berge kreißten und gebaren eine lächerliche Maus (Horaz) – (3) dann dafür bezahlt zu werden. (4) Und zu guter Letzt sogar noch gelobpreist werden! Wenn das nicht wahres, multiples Glück ist. — Selig sind die geistig Armen

RH „Hat die Suche nach dem Glück Selbstverwirklichung, aber heute noch eine Berechtigung angesichts von Klimaschock und Coronakrise?“

AS „Ein Glück beginnt damit, dass wir darüber nachdenken, wie wir uns selbst und den anderen und dem Leben gerecht werden, da liegt genau in der Krise die Notwendigkeit zu überlegen, was uns eigentlich wirklich glücklich macht. Ich kann Ihnen das ganz klar beantworten. Am glücklichsten machen Menschen, menschliche Beziehungen, tiefe menschliche Beziehungen. Das kostet nichts. Das kostet Zeit, das kostet Liebe, aber es kostet kein Geld.“

Doch gegebenfalls die Gesundheit oder das Leben. Tiefe menschliche Beziehungen? Zwischen Folterer und Gefoltertem?, wie sie Doğan Akhanlı in seinem Roman Fasıl beschrieb? Erlebnisse, die sein späteres Leben prägten, auf die er aber gern verzichtet hätte. Von wegen:

RH „Das Glück ist also oft nur den sprichwörtlich einen Schritt entfernt. — Zuletzt noch die Frage an die Glücksphilosophin, was sind Ihre ganz eigenen Glücksmomente?“

AS „Wenn ich mich mit einem Menschen unterhalte und austausche, wenn das Kind morgens zum Kuscheln kommt, wenn ich etwas sehr gutes zum Essen habe, wenn ich ein frisches Buch aufschlage, das ich noch nicht kenne, wenn ich in der Sauna daliege, nachdem ich mich abgekühlt habe, wenn ich das erste Mal das Meer sehe nach einer langen Zeit, beim Anblick erster Schlupf?-Vögel und Pflanzen…“

Die zufällig? befragten Passanten scheinen weiter zu sein als die von Herold zur Glücksphilosophin Gekürte. Denn sie haben erkannt: Glück ist relativ, auf die eigene Person bezogen und wird nur reflexiv bewusst und gewusst. Γνῶθι σεαυτόν – Erkenne dich selbst – lautete einer der auf dem Apollon-Tempel, der Orakelstätte in Delphi in Stein gemeißelten Sprüche.

Fazit: Statt von Schirachs Gewäsch zu konsumieren, seien aufgeklärten Menschen die Weisheiten der Sieben Weisen empfohlen. Deren Sprüche sind kurz, präzise und bedenkenswert — und zudem auch noch als Buch pekuniär wesentlich günstiger erhältlich.

Überlegungen zur Tragödie

Im Nachgang zu Flaßpöhlers Sensibilitätsgequake einige wenige Anmerkungen zur Tragödie und Tragödientheorie.* Denn gerade die Tragödie führt vor Augen, wie schon die Athener ihre – um es Flaßpöhlerisch zu sagen – Sensitivität nutzten, um zu schaffen, was Aristoteles als die Sprachhandlung, μῦθος, als Nachahmung, μίμησις, der Praxis, πρᾶξις, dessen, was vor sich geht, bezeichnet („ἔστιν δὲ τῆς μὲν πράξεως ὁ μῦθος ἡ μίμησις“, Περὶ ποιητικῆς, 1450α, ~4).** Es gilt Mythen zu schaffen („μύθους ποιεῖν“, 1449β, ~5) die nicht Nachahmung der Menschen, sondern ihres Tuns und Lebens sind („μίμησίς ἐστιν οὐκ ἀνθρώπων ἀλλὰ πράξεων καὶ βίου“, 1450α, ~16). Es geht also um das Herstellen und Gestalten von möglichst realitätsnahen Handlungsabläufen. (Aristoteles wird aufgrund seines μίμησις-Verständnisses daher gern als erster Adäquationstheoretiker bezeichnet.)

Zur Tragödientheorie

Περὶ ποιητικῆς des Aristoteles sind Reflexionen über die Poetik, keine vollständig durchkomponierte, stringent ausformulierte Gesamtdarstellung. Und erst recht sind die folgenden Ausführungen lediglich Skizzen zu Einzelaspekten von Aristoteles‘ Tragödientheorie.

Jedes ausgesprochene Machtwort beruht auf Entscheidungen. Es bewirkt Reaktionen, Handlungen, pro oder contra. Da die Reaktion bewegt/bewirkt ist, bedeutet sie auf Seite der Betroffenen πάθος, leidvolles Erleben, insbesondere dann, wenn die Forderung des Mächtige(re)n mit den Werten derer, an die die Forderung gerichtet ist, konfligiert. Doch wie immer die Reaktionen ausfallen, sie wirken auf die Mächtigen zurück. Stehen die Auswirkungen im Gegensatz zur Ausgangsintention, bezeichnet Aristoteles dies als Peripetie: Peripetie, περιπέτεια, ist der Umschlag, μεταβολή, dessen, worauf das Handeln abgezielt wurde, des ursprünglich Intendierten in sein Gegenteil („ἔστι δὲ περιπέτεια μὲν ἡ εἰς τὸ ἐναντίον τῶν πραττομένων μεταβολὴ“, Περὶ ποιητικῆς,1452a, ~21). Aus Sicht des zuschauenden Zuhörers aber kann und soll – so Aristoteles – das Mitleiden am (schweren) Leid, πάθος (siehe insbes. Περὶ ποιητικῆς, 1452β, ~11) , οἰκτρά (siehe Περὶ ποιητικῆς, 1453β, ~14), derer auf der Bühne zur κάθαρσις, Reinigung der Psyche, ψυχή, vom Leid des Lebens führen. (Περὶ ποιητικῆς, 1449β, ~28)***

Sophokles‘ Wort, dass es das Beste sei, gar nicht erst geboren zu werden und das Zweitbeste, falls doch geboren worden, möglichst früh zu sterben (Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ, 1224ff.), gründet in der Grunderfahrung schicksalsbestimmten Lebens –: dass jede Entscheidung notwendigerweise Folgen nach sich zieht (ob man/frau dafür kann oder nicht). In dieser Grunderfahrung wurzelt die Grundstimmung von πάθος. Ödipus, der selbstgeblendete, unbehauste Exilant, spricht es kurz vor seinem Tod als Summe**** seines Lebens aus: All mein Tun ist mehr (passiv) erlitten als (aktiv) getan. („ἐπεὶ τά γ᾽ ἔργα μου πεπονθότ᾽ ἐστὶ μᾶλλον ἢ δεδρακότα“, Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ, 266f.)

Die Tragödie: das erste große Sensibiliisierungsprogramm – der Antike!

Philosöphchen Floßpöhler zum Lesen empfohlen!!

Zur Tragödie

  1. Tragödien sind ausnahmslos athenisch, nicht (gesamt-)griechisch. Tragödien haben gemeinsam, dass sie im Dionysos-Theater von Athen zur Aufführung kamen oder (wie Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ) zur Aufführung verfasst wurden. Das Attribut griechisch ist also falsch und das Attribut athenisch ist überflüssig.
  2. Aufführungsort (Dionysostheater) und Aufführungszeit (Dionysien) weisen die religiöse Bedeutung der Tragödie aus. Tragödien haben dionysischen Fest-Charakter. Gott Dionysos wird direkt (z.B. in den Βάκχαι des Euripides) oder indirekt ins Geschehen einbezogen. (So wird er in Ἀντιγόνη zur Reinigung der Stadt von gewaltiger Krankheit herbeigerufen, 1140ff.)
  3. In Tragödien werden – von einigem effekthascherischem Beiwerk zur Unterhaltung der Massen abgesehen – ernste Sprachhandlungen vollzogen. Jedes Wort ist mit Bedacht zu wählen. Und es sollte nur so viel gesprochen werden wie nötig. Jede Art von Geschwätzigkeit ist zu vermeiden. Schauspieler verbergen sich hinter (statischen) Masken. Es agieren nur die Stimmen, sei es von Einzelnen oder von Mehreren, von Vielen, von Gemeinschaften (Chören). Die Reden der Chöre sind gegenstrophig gebaut: auf jede Strophe folgt eine Gegenstrophe. (Das heißt aber nicht im Sinne von Schulaufsätzen, für und wider das Rauchen. Es geht um Nuancen…)
  4. Im Zentrum der Sprachhandlung steht (fast) immer eine einfache, einzige, alles Weitere entscheidende Entscheidung eines Mächtigen. (In der Tragödie Antigone (Ἀντιγόνη) ist es Kreon – kρέων bedeutet Herrscher –, der mit seinem Befehl die Tragödie ins Rollen bringt. In Οἰδίπους τύραννος ist Ödipus als Tyrann tituliert, nicht als βασιλεύς, König. Wenn wir gleichwohl von König Ödipus sprechen, ist das in unserem Sprachgebrauch zwar nicht falsch, aber die von Sophokles unterstellten Machtverhältnisse mehr als verharmlosend. Denn als Tyrann, also unrechtmäßig: zwar in Erbfolge, aber als Vatermörder an die Macht gekommen, hat Ödipus (bis zum Sturz) die Macht, die Konsequenzen seines Handelns selbst zu gestalten. Er wählt die Selbstblendung und das Exil. Die Selbstblendung vollzieht er. Dann wird er von Kreon, dem nun Herrschenden zudem ins Exil gejagt. (Wäre Ödipus selbstbestimmt ins Exil gegangen, hätte Kreon sich nicht schuldig gemacht…) Es geht immer um das Umgehen mit Macht. Weissagen heißt weise sagen; weise sagt, wer die Fähigkeit aufbringt, die Konsequenz(-en) einer geforderten Entscheidung vorab nüchtern zu bedenken und diese – im Rahmen des von den Göttern Erlaubten! – auszusprechen. (Die Macht des Orakels von Delphi beruhte letztlich darauf, dass seine Weissagungen eintrafen. Manch Fragender soll die Antwort dem Orakel gar vorgegeben haben: self-fulfilling prophecy…)
  5. Jede getroffene Entscheidung zeitigt Konsequenzen und verursacht, schafft Leiden. Gott Dionysos ist das Sinnbild für das Leiden alles Lebendigen – in seinem ersten Leben (als Zagreus) überlebte er das Säuglingsalter nicht; er wurde gevielteilt –, aber auch für die Erlösung vom Leid. Er ist es, der vermag, die Psyche zu reinigen. Er (wie auch Gott Osiris) ist der Wiedergeborene, Auferstandene (Dionysos) und wird als Baby (Iakchos) verehrt. (Weih-Nacht-en lässt grüßen.) — Aischylos prophezeite in seiner Tragödie Der gefesselte Prometheus (Προμηθεὺς Δεσμώτης) Gottvater Zeus gar seinen Untergang, sollte er einen Sohn (Dionysos) zeugen. — Ein weiser Mann, der Aischylos…

*In Wikipedia heißt es:

„Die Tragödie ist eine Form des Dramas und neben der Komödie die bedeutsamste Vertreterin dieser Gattung. Sie lässt sich bis in das antike Griechenland zurückführen.“

(https://de.wikipedia.org/wiki/Trag%C3%B6die, zugegriffen am 2.1.2022)

Eine Aussage, die auf Abwege führt…

**Alle Übersetzungen sind vom Autor: Versuche…

***ψυχή ist für Aristoteles das Vermögen eines Lebewesens, Leben zu ermöglichen und zu erhalten (Περὶ ψυχῆς, 415a, 15ff.) — Heidegger übersetzt „παθήματα τῆς ψυχῆς“ (Hermeutik, 16a, 6f) treffend mit „Erleidnisse der Seele“ (Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, 244)

****Insbesondere Heidegger hat immer wieder auf die Grundbedeutung von λέγειν: (ver-)sammeln hingewiesen. Aristoteles‚ Bestimmung des Menschen als ζῷον λόγον ἔχον ist entsprechend mit zu deuten. Die spätere lateinische Fassung animal rationale verunklart die ursprüngliche Intention dann endgültig. (Siehe insbes. Beiträge zur Philosophie, 498)

Antigone-Adaption frei nach Thea Dorns „Trost“-Gesang

Thea Dorn, Trost. Briefe an Max, München, 2021

Wolfgang Ambros, Es lebe der Zentralfriedhof, google.com, zugegriffen am 25.2.22021

Thea Dorn singt in ihren Briefen an Max den Zorn Johannas (wie einst Homer in der Ilias den Zorn des Achill):

„Ich lasse mir meinen Zorn nicht ausreden!!!!“ (152)

Johannas Zornesausbruch gründet im Tod ihrer betagten Mutter:

„Aber meine Mutter, meine brillante, dauerumtriebige, vierundachtzigjährige, bescheuerte Mir-kann-keiner-was-anhaben-Mutter – sie musste stur nach Italien fahren, obwohl sich dieses Land bereits mit einem Bein im Ausnahmezustand befand. Obwohl es bereits Reisewarnungen gab.“ (11)

Vier Gründe nennt Johanna für ihren Zorn im ersten Brief:

„Meine Mutter ist tot.

  1. Gestorben, weil sie sich in ihrem verdammten Leichtsinn für unsterblich hielt.

  2. Gestorben, weil blinde Politiker nicht sehen wollten, welche Gefahr auf uns zukommt.

  3. Gestorben, weil Wissenschaftler fröhlich verkündet haben, mit ein bisschen Händewaschen und In-die-Armbeuge-Niesen sei dieses Virus schon auszutricksen.

  4. Gestorben, weil unsere Krankenhäuser von einer Seuche heillos überfordert sind.“ (9)

Den Bezug zu Sophokles′ Tragödie Antigone stellt Dorn wie folgt her:

„Die grassierende Staatsräson ist um kein Haar weniger brutal als die von König Kreon, der Antigone verbieten will, ihren toten Bruder zu bestatten. Nur dass unser Staatsfeind Nr. 1 ein Virus ist.“ (16)

—-

Bleiben wir ein wenig bei Sophokles Tragödie Antigone.

In der Tat ist die Ausgangskonstellation vergleichbar. Antigone möchte ihren Bruder bestatten, doch Herrscher Kreon verbietet es. In einer Nebenrolle tritt als dritte Maske Antigones Schwester Ismene auf: Antigone widersetzt sich dem Herrscher; sie steht für Rebellion. Ismene hingegen unterwirft sich dem Herrscher; sie steht für Duckmäusertum. Aus der Schar der weiteren, kleineren Nebenrollen sticht vor allem der Seher Teiresias heraus. Denn er verkündet das Wort Gottes. Den Chor schließlich bilden die Greise aus Theben, der Stadt, in der die Tragödie spielt.

Unsere Corona-Adaption könnte dann wie folgt aussehen:

  • Johanna, die Zornige übernimmt die Rolle der aufmüpfigen Antigone (gesprochen von Thea Dorn persönlich);
  • Mutti, gefühlskalt-emotionslos, zahlenvernarrt-technokratisch und einschläfernd-verstaubt ersetzt als eingeblendete Sprechblase den machtgeilen, zynischen Kreon;
  • Doktorchen der Volksverdummung Karl Lauterbach, der TV-Lieblings-Politikerklärer für Markus Lanz und Co., ebenso fantasie- wie humorlos, spielt Muttis Lieblingsagent (des VEB Horch und Guck);
  • Professor Lothar H. Wieler verkündet – anstatt Seher Teiresias – drei Mal täglich die Schluck-Botschaften des Inzidenz-Orakels;
  • den Chor der dümmlich Alten bilden (beliebige) Omas und Opas aus der Verwahrstation Zum lieben Jesulein.

Als Zusatzgast wäre Heribert Prantl denkbar, der, um das Thema Corona in einen größeren, allübergreifenden Gutmensch-Diskursrahmen einzubetten – anstatt des Chors –, die Schlussweisheit verkünden darf:

„Vergesst mir ob Corona die Flüchtlinge nicht!“

—-

Oder sollten wir den Soff nicht eher in eine

Komödie

verpacken und das Virus auf die Anklagebank setzen?

Wie herrlich-unbedarft war doch die Zeit, als Sänger Wolfgang Ambros noch echt Wienerisch makaber den 100. Jahrestag des Bestehens des Zentralfriedhofs feiern durfte:

Es lebe der Zentralfriedhof
Und olle seine Toten
Der Eintritt is‘ für Lebende
Heit‘ ausnahmslos verboten,
Weü da Tod a Fest heit‘ gibt die gonze lange Nocht,
Und von die Gäst‘ ka anziger a Eintrittskort’n braucht

Dank da recht schee, Woifi! Du fehlst ma!

 

 

Von Schirachs grandios neues Meister-Machwerk „Feinde – Gegen die Zeit“

Ferdinand von Schirach im Gespräch mit Wolfram Eilenberger über Die Feinde des Rechts, SRF, Sternstunde Philosophie, 10.1.2021

Ferdinand von Schirach, Feinde – Gegen die Zeit, ARD, 3.1.2021

Thomas Kirn, Trauer, Wut und Verachtung sind geblieben, FAZ online, 25.9.2012

Maximilian Haase, Kölner Jubiläums-„Tatort“: Gab es in der DDR spionierende Prostituierte?, zum Tatort „Der Tod der Anderen“, Weser Kurier online, 10.1.2021

Der Tod der Anderen, Tatort (aus Köln), ARD, 10.1.2021

Katja Weise, NDR Buch des Monats Januar: „Unheimlich nah“, NDR, 12.1.2021

Johann Scheerer, Unheimlich nah, München, 2021

Sophokles, Antigone, Übersetzt von Friedrich Hölderlin, Bearbeitet von Martin Walser und Edgar Selge. Berlin, 62017

Was wurde um den Spielfilm Feinde – Gegen die Zeit in der ARD für ein Aufwand betrieben! Er wurde vorab massiv beworben und nach der Ausstrahlung vielfach besprochen und kommentiert. Ist der Film doch Produkt eines „der erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart“. (Begleittext zur Sternstunde) Und alles nur, um das TV-Publikum (nochmals) darüber aufzuklären, dass der deutschen Polizei Folter anzuwenden untersagt ist und unter allen Umständen unterlassen werden müsse.

Ausgangspunkt des Films ist der mittlerweile fast zwei Jahrzehnte (!!) zurückliegende Fall der Entführung und Ermordung des elfjährigen Jakob von Metzlers im Jahr 2002. Denn es begab sich Unerhörtes:

„Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner verfiel [damals…] zur Rettung des Kindes, für dessen Überleben er noch eine winzige Chance sah, auf einen in den Polizeiannalen bisher einmaligen Vorgang: Er ordnete die Androhung von Schmerzen durch einen Untergebenen an, er ordnete Vorbereitungen zum Schmerzzufügen an, er verlangte, dies solle unter ärztlicher Aufsicht geschehen, und er ordnete Nachforschungen über die Möglichkeit eines Wahrheitsserums an.“

Ferdinand von Schirach, der damals bereits (ganz Gutmensch) Stellung bezog und klar machte, dass die Anwendung von Folter unter keinen Umständen zu rechtfertigen sei, bekam, wie er in einem Gespräch mit Wolfram Eilenberger jetzt (!!) ausführte, u.a. Post von Leuten, die seine Rechtsauffassung nicht teil(t)en:

„Dass Leute aus einem ersten Impuls heraus denken: Wie kann man nur so kalt sein? Ja, wie kann man nur ein Kind den Prinzipien des Rechtsstaats opfern? Das ist eine verständliche Reaktion. Und ich dachte mir, vielleicht muss man das noch mal anders erzählen, diese Geschichte. Und auch klar machen, was die Folge dieser bösen Tat eigentlich ist, nämlich ganz am Schluss ist es die Folge, dass alle verlieren: der Rechtsstaat verliert, aber auch der Beschuldigte kann nicht verurteilt werden.“

Is‘ ja toll! — Warum von Schirach aber erst jetzt auf diese Vorgänge von anno dazumal reagiert, dazu schweigt er stille.

Und auch was mit dem Opfer, dem entführten Kind, geschieht, blendet sein Film, der ja laut Autor eine andere Erzählung des Ausgangsfalls intendiert, aus. Was aus der entführten Zwölfjährigen im Film wird, interessiert nicht.

Ganz anders im jüngsten Tatort-Krimi:

„Der bemitleidenswerte Norbert Jütte (Roland Riebeling) wurde gekidnappt und in ein Kellerverlies gesperrt, wo er jämmerlich zu sterben drohte, was der „Tatort“ in oft harten Szenen begleitete.“ (im Original kein Fettdruck)

Und was passiert, wenn der/die Entführte frei kommt? Was passiert mit den Familienangehörigen? — Johann Scheerer, der Sohn des entführten und nach mehreren Wochen erst freigelassenen Jan Philipp Reemtsma, der gerade seinen zweiten Roman über seinen Aufarbeitungsprozess veröffentlichte, der vom NDR zum Buch des Monats Januar 2021 gekürt wurde, meint:

„Ich glaube, dass der Prozess, sich überhaupt als Opfer zu sehen, in den allermeisten Fällen erst sehr, sehr lange nach dem tatsächlichen Verbrechen überhaupt anfängt. Wie lange es dauert, bis der abgeschlossen ist, ist, glaube ich, sehr individuell verschieden.“

Für den Gutmensch-Juristen von Schirach aber zählen nicht die Ängste und Qualen der Opfer. Die sind ihm scheiß egal. Ihm geht es nur um die eindeutig juristischen Aspekte: und zwar aus seiner Sicht auf das Recht. Das im Film Dargestellte ist bloß Mittel zum Zweck: Vorlauf zur und in die Rede des (in sich selbst verliebten) Anwalts: des Gutmenschen par excellence. Und so erzählt von Schirach in seinem Film denselben (fiktiven) Fall aus lediglich zwei Perspektiven, zwei Handlungssequenzen: aus der des absolut bösen Polizisten, weil der den vermeintlichen Entführer foltert(e), und aus der des absolut guten, arrogant-selbstgerechten Rechtsanwalts des vermeintlichen Entführers. So sind die Rollen von Gut und Böse von Anfang an clare et distincte eindeutig präzisiert und zugeordnet. Die dem Fall zu Grunde liegende Beziehung Entführer:Opfer verkommt in beiden Erzählungen zur bloßen Staffage. Selbst die Beziehung Polizist:Entführer ist rein funktional ausgeleuchtet und instrumentalisiert.

(Anders als z.B. in Doğan Akhanlıs lesenswertem Roman Fasıl, in dem er, der selbst gefoltert wurde, Folter aus Sicht des Gefolterten und des Folterers in zwei separaten Erzählsträngen gegen- und miteinander bespiegelt. Im Mittelteil des Buchs, in dem sich die beiden Stränge treffen, auf den sie vorlaufen und sich begegnen, sind die Namen derer auf transparentem Papier eingeblendet, die seinerzeit von der türkischen Militärjunta unter General Kenan Evren 1980/81 zu Tode gefoltert wurden. — Bislang ist dieses Stück nacherlebbar gemachter Geschichte leider nicht ins Deutsche übersetzt.)

Die holzschnittartig vorgetragene Film-Inszenierung von Schirachs hingegen dient nur dazu, auch dem letzten Depperl von Zuschauer für alle Zeiten die Gutmensch-Sicht einzubläuen, dass Folter im Polizeieinsatz prinzipiell unstatthaft sei und gar nie, nie nicht angewandt werden dürfe. Und so kulminieren die beiden Film-Erzählungen – die des Polizisten und die des Rechtsanwalts – denn auch in der Gerichtsverhandlung. In ihr wird der Entführer durch das durch den Rechtsanwalt dominierte Gerichtsverfahren aus seiner Rolle als Täter entbunden und sukzessive zum Opfer von Polizeigewalt umgewertet und ummaskiert; und statt des Entführers wird der Polizist auf die Anklagebank gesetzt. Auf dass allen erwartungsvoll vor der Glotze Sitzenden das Licht der TV-Moral aufgehe: Der Polizist ist der Böse! Der Verbrecher ist ein armes Opfer von Polizeiwillkür – habt Mitleid, ihr Zuschauer! – und ist — so die Moral von der Geschicht‘ — entsprechend auf freien Fuß zu setzen.

Von Schirach hätte sein Belehrungsstück freilich noch anders, z.B. als griechische Tragödie aufführen können. Dann aber wäre freilich der Vorführeffekt von Gut (Anwalt) vs. Böse (Polizist) nicht mehr haltbar gewesen. Denn, wie Martin Walser und Edgar Selge über Sophokles‘ Tragödie Antigone schreiben:

„Die Tragödie ist aber umso mehr Tragödie, je weniger einer der Handelnden einfach verurteilt werden kann. Das Stück ist umso mehr unser Stück, je mehr alle gegeneinander Handelnden uns für sich einnehmen können, uns gefallen können. Und uns auch gefallen wollen. Stimme und Gegenstimme sind hier nicht so weit auseinander wie Gott und Teufel im christlichen Kasperletheater.“

Doch von Schirach bezweckt etwas anderes: Er will gar nicht, wie er behauptet, zum Nachdenken anregen. Er will sein Publikum über Gut und Böse belehren. Er ist der Wissende, der TV-Kasperl, der Gutmensch vom Dienst schlechthin. Er ist es, der seinem Publikum sagt, was es zu wissen und zu befolgen hat. Merke: der Polizist ist der Böse! Jeder Polizist ein potenzieller Folterer! (So wie es einst pauschal-verallgemeinernd hieß: Soldaten sind Mörder!) Gutmenschen ist Differenzierung verhasst. Würde die doch ihren Absolutheitsanspruch unterminieren.

Von Schirachs Film ist folglich zu lesen als nur ein Mosaiksteinchen mehr, um das Gutmensch-Bild des bösen Polizisten, hier als Folterer, wie zuvor schon als Neonazi, Schläger, Rassist, etc. im Bewusstsein der TV-Konsument*innen nachhaltig zu verankern.

Wozu bloß nur…?