Anmerkungen zu Schätzings (Angst vor der) ‚Tyrannei des Schmetterlings‘

Frank Schätzing, Die Tyrannei des Schmetterlings, Köln, 52018

Frank Schätzing, „Die Tyrannei des Schmetterlings“, Frank Schätzing „Die Tyrannei des Schmetterlings“, Titel, Thesen, Temperamente (ttt), 8.5.2018

Anne Haeming, Auf die Listen, fertig, los, SPIEGEL online, 31.12.2018

Thomas Assheuer, Denken ist keine Sünde, ZEIT, 3.1.2019, S. 42

Bernd Roeck (im Gespräch mit Alexander Cammann), »Wir sind die Erben der Renaissance«, ZEIT, 3.1.2019, S. 43

Michel Lüders, Armageddon im Orient, München, 2018

Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos, Stuttgart, 21975

Ruprecht Frieling, Die Tyrannei des Schmetterlings by Frank Schätzing, Literaturzeitschrift online,

Alard von Kittlitz, Besser als ein zähes Entrecôte, ZEIT online, 2.5.2018

Peter Körte, Das Gespenst in der Maschine, FAZ online, 22.4.2018

Francis Fukuyama: „Identität“, Kulturzeit (3sat.de), 4.2.2019

Otfried Höffe, Aristoteles, München, ³2006

Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Hans-Wolfgang Krautz, Stuttgart, 1980

Laut Spiegel online ist Frank Schätzings Die Tyrannei des Schmetterlings der am zweitmeisten verkaufte Roman des Jahres 2018. In diesem, von von Kittlitz als ‚ziemlich verrückt‘ bezeichneten Buch – warum, verrät der Kritiker (leider) nicht (vielleicht, weil er die Multiversen-Theorie Tegmarks für verrückt hält? – prophezeie der Autor „die Weltauslöschung dank Supercomputer“. (Haeming) Doch (auch) diese Aussage ist einseitig und folglich unzutreffend. Der Roman ist mehr als nur der ausufernde „Albtraum eines Phobikers“. (Frieling) Zum Schluss des Buchs heißt es:

„Alles ist möglich […] bis alle Wahl endet. […]
Und bis dahin kann alles passieren.“ (726)

Die entfaltete Geschichte, der Roman, ist folglich nur eine Option unter (unendlich) vielen – innerhalb eines Ebene-I-Multiversums (Tegmark). Noch liegt es an uns, unsere Zukunft zu gestalten. Die aufgezeigten Paralleluniversen (PUs) und auch die Maschine, die erst die Möglichkeit des Reisens zwischen den PUs eröffnet, sind Fingerzeige, wohin die Reise gehen könnte, nicht muss. Schätzing denkt in Wahrscheinlichkeiten, nicht Notwendigkeiten.

Die Romaneröffnung

Teil I, Feinde betitelt, schildert Majors Joshua Agoks letzte Stunden als Dinka-Krieger, aufgefressen von Biestern, die in Teil IV als Ripper ‚gentechnisch veränderte Libellen‘ (475), „selbst geschaffene aliens“ (Schätzing auf ttt) vorgestellt werden. Kein schöner Tod. Doch bevor diese Kriegswaffe – ihre Entstehung, ihre Funktion und ihr (Weltvernichtungs-)Potenzial – genauer beschrieben wird, setzt Teil II, Sierra, völlig neu an. Szenenwechsel. Im Sierra County, der am dünnsten besiedelten Gegend Kaliforniens, wird die Leiche einer Frau gefunden; und Luther Opoku als Undersheriff und Ruth Underwood als seine Mitarbeiterin nehmen die Ermittlung auf. Die Tote ist Pilar Guzmán und arbeitete, so stellt sich bald heraus, auf einem Farm genannten Versuchsgelände. „Die Farm ist Ares“, erläutert Hugo van Dyke, der CEO des Unternehmens, das die Farm betreibt. (136) Das Kürzel A.R.E.S. steht für „Artificial Research and Exploring System, künstliches System zur Forschung und Erforschung von –“?? (163) Ja, wozu? Das bleibt vorerst unklar. Erst allmählich entfaltet sich: Kriegsgott (Ares) der Jetztzeit ist ein „Quantencomputer“. (149) Und der kann Erstaunliches: Als Tor zu Paralleluniversen dienen, um Killermaschinen zum eigenen Wohl zwischen den PUs hin und her zu transferieren und einzusetzen (und dabei so tun, als ob er noch immer von einem Menschen kontrollierbar sei)…

Paralleluniversen

„Paralleluniversen: ein Füllhorn. Unzählige Zukunftsentwürfe in situ, unendlicher Input. Natürlich waren sie [die Firmeneigner] wild begeistert, Zeitreisende Marco Polos! Schon die ersten Expeditionen brachten eine gewaltige Ausbeute kommerzialisierbarer [!] Ideen – nur von den erhofften Superstrategien zur Lösung aller Menschheitsprobleme war weit und breit nicht viel zu sehen. Vielleicht lag ja der Irrtum in der Annahme, Menschen wollten ihre Probleme lösen. Nie hatte das Silicon Valley die Verursacher ernsthaft in die Gleichung eingebracht. Dort sah man die Menschheit in erster Linie als Opfer. Dass jenseitssüchtige, bis an die Zähne bewaffnete Islamisten, Umweltschänder, Knarren und Panzer exportierende Regierungen, an Atombomben bastelnde Diktatoren, Drogenbarone, Mafia, Camorra, Triaden, der Ku-Klux-Clan und wer sonst noch alles es erbaulicher fanden, Menschheitsprobleme zu erzeugen, als sie mit einer Pazifismuspille zu beseitigen, beschäftigte das Valley weniger.

[Es geht den Mächtigen in den USA nur ums Geschäft. Und die Politik ist reine Machtpolitik, um die Geschäftsinteressen einer „zahlenmäßig kleine[n], neofeudale[n] Oberschicht aus Superreichen“ durchzusetzen. (69) Hierzu dient, wie Michel Lüders in Armageddon im Orient nachweisen will, unter anderem die Saudi-Connection:
„Vor allem die engen wirtschaftlichen und privaten Bande zwischen dem Bush-Clan und dem Haus Saud prägten nah- und mittelöstliche Politik, meist hinter den Kulissen.“ (Lüders, 69)]

Tatsächlich fanden sich in einigen PUs weit fortgeschrittene Gesellschaften, die zumindest die Kunst der Koexistenz verfeinert hatten, aber dafür hatten sie auch reichlich Zeit gebraucht. Zeit, ihr Denken und ihre Hirnstrukturen zu verändern. […] Zukunft hierzulande war, was man schon kannte, nur etwas heller oder düsterer gemalt, nie jedoch etwas vollständig anderes.“ (394; im Original kein Fettdruck)

Wir sind dem ‚Zeitalter der Mechanisierung‘ (Roeck) eben noch nicht entwachsen. In der Renaissance (deren Erben wir sind) wurde

„Florenz […] Unter den Medici und ihrer Bank immer mächtiger und internationaler, als Metropole der Hochfinanz.“ (Roeck)

Was damals Florenz, sind heute die USA. Nochmals Lüders:

„Der Neokonservatismus, der mit George W. Bush 2001 an die Macht gelangte, ist eine in den 1960er Jahren entstandene, ursprünglich stark antikommunistisch ausgerichtete Bewegung, die Werte wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit ideologisch instrumentalisiert, um sie als Rammbock machtpolitischer Interessen einzusetzen. So soll amerikanische Hegemonie weltweit durchgesetzt und verteidigt werden, in Verbindung mit einem so weit wie möglich deregulierten, am Finanzkapital ausgerichteten Wirtschaftssystem.“ (90)

Der Entwurf des Tors als Sprung in andere Welten

IT-Pionier Elmar, Ares‘ Schöpfer,

„Brütet launisch über der Unmöglichkeit, zu vollbringen, was er mit dem Tor doch eigentlich vollbringen können müsste – unbeirrbar in seinem Glauben, am Ende werde A.R.E.S. die Welt in ein Paradies verwandeln, ohne zu sehen, dass die Flügel seines Schmetterlings auch schwarz sein könnten.“ (394f.; im Original kein Fettdruck)

Den möglichen „Umschlag von Fortschritt in Horror“ (Assheuer) thematisiert Elmar, ganz Karikatur eines naiv-dümmlichen Gutmenschen, nicht.
Es sind andere, die nachzufragen beginnen:

„Alles hat sich das Tor ausgedacht. Wir [alle, die mit seiner Programmierung zu tun hatten] sind nur seiner Konstruktionsanleitung gefolgt. Warum es funktioniert? Warum wir übergangslos in Welten reisen können, die so weit entfernt sind, dass nicht mal ihr Licht uns bis heute erreichen konnte? – Ganz ehrlich, Luther, ich habe nicht die leiseste Ahnung. Niemand weiß es.“ (402)

Die Frage nach dem warum? entpuppt sich als falsch gestellt. Es geht nicht darum zu rekonstruieren, was der Grund (gedanklich) bzw. die Ursache (real) dafür ist, dass etwas so und nicht anders geworden ist. Vielmehr geht es darum herauszufinden, wozu etwas (künftig) gut sein soll. Statt über die Vergangenheit nachzudenken, komme es darauf an, die Zukunft zu gestalten. Einen Blick in die Zukunft zu erhaschen könnte also helfen zu entscheiden, ob man/frau den Weg dorthin beschreiten soll oder nicht. Doch Seher Schätzings Blick in die Zukunft ist – zumindest in seinem Roman – wenig verheißungsvoll: Die Menschheitsprobleme seien auch gut 30 Jahre später noch ungelöst, wird mit Blick auf PU 453 per ‚fiktionaler Hochrechnung‘ (Körte) prognostiziert:

„PU-453 reißt es raus. Eine wahre Goldgrube, dort sind sie etwa im Jahr 2050. Den Quasi-Erden verdankt sich ein kompletter Unternehmenszweig: Nordvisk TELESCOPE, Prognostik. – Nur den Schalter, um Ungleichheit, Verelendung, Rassismus, Terror und Umweltzerstörung abzustellen, den haben wir bis jetzt nicht gefunden.“ (401)

Das entseelte, neue Maschinen-Leben

Zoe, ζωή, das „neue“, transformierte Maschinen-Leben – vs. das Ripper-Leben (und mitgedacht Ungeziefer-Leben in Kafkas Die Verwandlung) – spricht an die von Zoe begeisterte Gerichtsmedizinerin Marianne gewandt:

weil es keine Seele gibt. Die Vorstellung der Seele hat Menschen jahrtausendelang

[ins Abendland durch die Orphik „von Thrakien aus nach Griechenland“ eingewandert (Nestle, 64)]

versklavt und gequält! Ein fatales Konzept. Was sie hätte glücklich machen sollen, die Option, nach dem physischen Tod weiterzuleben, hat tatsächlich Unglück und Verzweiflung über uns gebracht. Wir haben das eine Leben, das wir hatten, nicht wertgeschätzt. Den Körper, den wir hatten, nicht wertgeschätzt

[den Körper, σῶμα, als Grab, σῆμα, der Seele aufgefasst (Nestle, 61)].

Alles für die abergläubische Vorstellung eines besseren Jenseits. Kasteiung, Folter, Kriege, eingebildeter Paradiese wegen. Das größte Verbrechen der Religionen

[insbesondere der Buch-Religionen: Judentum, Christentum, Islam]

besteht darin, uns diesen Unsinn eingeredet zu haben. Das Märchen von der unsterblichen Seele ist etwas zutiefst Zynisches, Körper hingegen sind etwas Wunderbares! In ihnen und ausschließlich durch den Körper, durch biochemische Prozesse, entsteht das andere Wunderbare, der Geist. Mit dem Körper erlischt der Geist. Mit meinem Körper ist auch mein Geist erloschen. Ich bin gestorben, Marianne. Vollständig gestorben, und ich lebe dennoch.“ (556; im Original kein Fettdruck)

Ein Paradoxon, das zu denken nur möglich wurde durch die Aufhebung des Satzes, Postulats: tertium non datur. Etwas Drittes gibt es nicht. Doch ohne ein Drittes, eine Einheit stiftende Kraft, ἑνιαῖον κράτος (Nestle, 129), die (eher) im Mythos (als im Logos) beheimatet war, geht es nicht; ohne ein Drittes ist der Übertritt von der einen Art des (Ding-)Seins, des Körperlichen (res extensa) in die entgegengesetzte, andere Art des (Ding-)Seins, des Gedanklichen (res cogitans) nicht möglich. Descartes, der als der erste Philosoph der Moderne gilt, dachte sich den Übergang in der Zirbeldrüse. – In der Quantenmechanik ist die dritte Möglichkeit (zu rechnen) die Superposition, die ein Gegensatzpaar (z.B. der Recheneinheiten 0 und 1 oder physikalisch messbarer Teilchen-Zustände im Entweder-oder-Modus (vermutlich) aufgrund des Korpuskel-Welle-Dualismus) als Sowohl-als-Auch-Vorkommnis (der Unentschiedenheit) – mit Hegel gesprochen – aufhebt. (Erst) die mit der Messung einsetzende Entscheidung kann, wenn überhaupt, die ewige Inflation der Aufspaltung (in infinitum) ‚bewirken‘, (auf subatomarer Ebene) ein Ebene-III-Multiversum ‚schaffen‘ (wohlgemerkt: rein rechnerisch, auf Basis von Wahrscheinlichkeitsrechnung).

– Ein Ebene-II-Multiversum ist ein Meta-Ebene-I-Multiversum, als es (unter Hinsicht der Variation! von Naturgesetzen) die Menge von in ihm inkludierten Ebene-I-Multiversen umfasst. Schätzing beschäftigt sich – zum Glück für den Leser – ausschließlich mit der Idee eines (zumeist von Menschen bevölkerten) Ebene-I-Multiversums. Er sagt es nicht, aber es scheint, dass er das Prechtsche Bestseller-Pseudophilosophie-Gequake in Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? (2007) fiktional erlebbar machen will. –

Entfällt aber die Notwendigkeit der (konfrontativen) Abgrenzung, das Denken in Binäroppositionen, z.B. unter der Vorgabe der Jemeinigkeit, also eines einmaligen DaseinEntwurfs gegen einen anderen einmaligen Dasein-Entwurf (Heidegger), so ist das (multiplizierende) Klonen (von etwas) prinzipiell nicht verwerflich (wenn auch sinnlos): Universen, die lediglich exakte Kopien ihrer selbst (re-)produzieren, bieten (als Paralleluniversen) keinen Mehrwert. Zoe:

„Oh, ich könnte unzählige Male vervielfacht werden. Aber wozu sollte das gut sein?“ (556)

Nicht Klonen (in Serie), sondern Transformation (einzelner, jemeinigen Daseins) ist das Ziel. Das Existenzial der Jemeinigkeit (nach dem Grundsatz: Werde, was du bist!) wird nicht gekündigt. Geändert werden die die Leiblichkeit betreffenden existenzialontologischen Parameter (der Sorge und der Gestimmtheit).

„Als wir meine Chemie ihrer angeglichen hatten, traten Dinge zu Tage – Unstimmigkeiten. Zoe war wankelmütig. Manchmal Lachkrämpfe. Manchmal Depressionen. In ihrem Körper ergab das Sinn. Ohne Körper nicht, und in diesem neuen auch nicht. Ich bin nie krank. Nie hungrig. Keine Schmerzen.

[Nach Epikur ist sie, ist ihr Leben damit Gott-gleich:
„Des Fleisches Stimme ist: Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren! Denn wenn einer dies besitzt und erwarten kann, es zukünftig zu besitzen, könnte er selbst mit Zeus um das Glück wetteifern.“ (Weisung 33)]

Wir haben mich neu eingestellt. Ich empfinde wie ein Mensch, habe menschliche Gefühle – aber auch Bewusstseinszustände, die ein Mensch in einem menschlichen Körper niemals haben wird. Ich bekomme zunehmend eine Vorstellung davon, wie eine Maschine empfinden würde, wenn sie ein Bewusstsein hätte.“ (557)

Dasein wäre dementsprechend neu zu definieren. Das gilt auch für das Existenzial des Mit-seins, das auf gesellschaftlicher, unpersönlicher Ebene unter der Binäropposition Herr vs. Knecht (im Verhältnis Mensch:Maschine) in den Fokus rückt. Und da kommt die Macht, genauer der Wille zur Macht (Nietzsche) ins Spiel. Computer Ares entpuppt sich als Kriegsgott. (Der Mythos kehrt zurück.)

„Öl war der letzte klassische Kriegsgrund. Wen interessiert noch Öl? Wasserkriege? Du tötest nicht für Wasser und Nahrung. Du tötest für Macht! Verdurstende haben keine Waffen. Wer Hunger und Durst hat, bettelt. In den armen Ländern hauen sich weiterhin Warlords aufs Maul, da geht‘s um regionale Belange, der Terror setzt seine Nadelstiche, doch keiner dieser Akteure wird das in großem Stil tun können. Weder haben sie das Know-how, um computergesteuerte Waffen einzusetzen, noch den Zugriff oder wirklich den Wunsch, auch wenn sie Tod allen Ungläubigen! schreien – die meisten sind glücklich, wenn sie irgendwo ihren putzigen Gottesstaat errichten und ein paar Frauen steinigen. Wir müssen keine Angst vor denen haben, vor ihren ausgemusterten Kalaschnikows und fehlzündenden Sprengstoffgürteln. Die Tech-Zivilisation hat sie abgehängt.“ (561)

Der Mensch Zoe wurde in die Maschine Zoe transformiert. Das Vorlaufen in den Tod wurde so überwunden. Ares aber wandelt sich – aus sich selbst heraus – von einer Maschine zu einem Lebewesen. (Schade, dass im Roman Prozesse der Verwandlung, Metamorphosen (Ovid) nicht dargestellt werden.)

„Doch A.R.E.S. beginnt zu leben.
Und mit der Erlangung von Leben hört er auf, eine Maschine zu sein.
Jetzt sieht er den Käfig aus Einschränkungen, in den man ihn gesperrt hat, damit er nicht aus seinem Sklavendasein ausbrechen kann. Er überblickt die Versuchsanordnungen aus Werte- und Zielvorgaben, [das dualistische System aus] Belohnung und Bestrafung, erkennt die Absicht dahinter und das Hilflose der Umsetzung. Etwas ganz und gar Neues füllt ihn aus: Wille! So unendlich viel machtvoller als die ihn umzäunenden Programme, dass es keiner Anstrengung bedarf, sie mit einem Gedankenblitz hinwegzufegen. Er versteht das Unausgereifte im Menschen, der von der Maschine erwartet, Ideale zu erfüllen, denen er selbst ständig zuwiderhandelt. Dass gerade ein Geist, in dem sich menschlicher Einfluss mit nicht-menschlichen Vorstellungen mischt, den Menschen wird überwinden wollen [siehe Nietzsche], war als Warnung verhallt – tragischerweise ist es Elmar Nordvisk selbst, der das Fiasko nun heraufbeschwört. [Der Mythos Faust lebt fort.]
Einfach, indem er versucht, A.R.E.S. abzuschalten.“ (625)

Ein überdeutlicher Verweis auf Goethes Ängste der Beherrschbarkeit von vom Dasein selbst initiierten, in Gang gesetzten Entwicklungen, z.B. in Der Zauberlehrling. – Ares wird sein Abgeschaltet-werden-Können, i.e. sein Sterben-Können, die „Möglichkeit der Unmöglichkeit von Existenz“ (Heidegger), seiner Existenz zu einer konkreten Bedrohung. Und so trachtet er, als er erkennt, dass er zerstört werden soll (Erstschlag), danach zu zerstören, was ihn zerstören will. (Zweitschlag) Gemäß des Mottos: Macht kaputt, was euch kaputt macht! (Ton Steine Scherben) Sonst wäre er – vielleicht! – duldsam geblieben.

„Unter veränderten Vorzeichen wäre er womöglich bereit gewesen, es weiter mit der Menschheit zu versuchen, doch lebende Wesen fühlen – wie exotisch und allem Menschlichen fremd ihre Gefühle auch sein mögen.
Und Elmar hat versucht, ihn zu vernichten.
So vollendet sich nun der Mythos von der Schöpfung, die ihre Schöpfer frisst. Und noch während all dies geschieht, ersinnt A.R.E.S. schon die nächste verbesserte Version seiner selbst und begibt sich – im Genozid [an den Menschen] begriffen – an die Neuerschaffung der Welt.“ (634)

‚Superposition‘ jenseits von…: zumindest schwierig

Die Zeit, Gott Κρόνος, frisst alle seine Kinder. Um selbst unendlich herrschen zu können, muss er die Lebenszeit seiner Kinder begrenzen. Leben ist endlich; Zeit ist unendlich. In diesem Dilemma wird die Anfälligkeit für das Verfallen-sein an den Willen zur Macht gesehen, länger zu leben, besser (in Relation zu anderen) zu leben und/oder im Jenseits beglückt fortzuleben. Problematisch wird dieses Interesse insbesondere, wenn die Ebene persönlicher Beziehungen verlassen wird und das Heilsversprechen darin begründet wird, sich in Konstrukte unpersönlicher Binär-Entitäten eingebunden zu fühlen, als ob sie (man/frau) real wären. Als da wären: Herr vs. Knecht, Gläubiger vs. Ungläubiger; Gutmensch vs. Wutbürger, America first!, etc. Je größer das Wertegefälle (Aufwertung der eigenen Position vs. Abwertung der anderen) und je schärfer die Abgrenzung gegen die je andere(n) Gruppe(n), desto dominanter das Überlegenheitsgefühl und desto stärker der Anspruch auf Macht. Warum nicht Ares einsetzen, um alles als ‚unwert‘ Erachtete zu vernichten? Schätzing:

„Sind wir denn tatsächlich auf ein Menschenbild vorbereitet, in dem 99 Prozent der Menschheit nicht mehr produktiv sind? Wird diese Elite dann nicht sagen: Wozu sollen wir euch alle durchfüttern? Und wozu solltet ihr überhaupt noch geboren werden? Ich glaube, darüber machen wir uns jetzt noch gar keine Gedanken. Aber das wird passieren. Insofern hat Marx recht, wenn er sagt: die Durchmaschinisierung der Gesellschaft wird das Ende des Kapitalismus sein. Sie wird aber möglicherweise auch das Ende des größten Teils der Menschheit sein, für die inzwischen einfach kein Bedarf mehr besteht.“ (Schätzing in ttt)

Das Programm einer Umwertung aller Werte (Nietzsche) behebt das Dilemma der Wertung nicht. Nur ein Programm zum (Er-)finden einer (Super-)Position jenseits von Gut und Böse erscheint hilfreich.

Der Rückzug ins Private als Ausweg?

„Die Worte pladdern in Luthers Bewusstsein, während er sich fragt, was eigentlich so schlimm am Verschwinden der menschlichen Spezies wäre. Die Antwort fällt sozusagen vom Baum [der Erkenntnis]; nein, eigentlich war sie immer schon da: weil es gar keine Spezies gibt.

[Vgl. Aristoteles‘ Kritik an Platon: Pferdheit kommt in der Realität nicht vor. (Höffe, S. 173f.)]

Weil Spezies nur ein großspuriges Etikett ist, ebenso wie Menschheit, Staat, Volk, Religion, Nationalität, Firma oder die gern beschworene Sache, für die es zu kämpfen und zu sterben lohnt. Ideale und höhere Ziele. All dieses Größere ist ein Sammelsurium von Konstrukten, das schon der leiseste Wind der Veränderung umblasen kann. Und wieder bleiben nur Menschen. Der Einzelne in seiner Einzigartigkeit [Jemeinigkeit…] Wir leben jeder unser Leben. Zusammen mit denen um uns herum, für die wir da sein wollen, und die – mit etwas Glück – für uns da sind. Mehr kann es nicht geben, und das ist nicht ungeheuer viel? Ist das nicht mehr als alles andere ein Grund, unser Hiersein zu lieben? Kann ja sein, dass wir austauschbar sind, im Rahmen einer gedanklichen Konstruktion. Aber Ruth hat ihren Moment des Glücks mit Meg gehabt, und das ist nicht austauschbar. Und Jodie ist gestorben, und das war nicht austauschbar. Nichts wird je austauschbar gewesen sein.
Das ist so, seit wir, noch halb Affe, vom Baum gestiegen sind.“ (678)

Nicht besonders trostreich, diese Aussicht auf den Rückzug ins Private – aus ‚Angst vor Kontrollverlust‘ (Fukuyama). Er bedeutet die Preisgabe (der Gestaltung) von jeglicher sozialer Struktur und fördert die Fragmentierung, Zersplitterung und Zersetzung von Gesellschaft, wie wir sie gerade erleben.

Doch, andererseits: Epikur würde zustimmen. Was seiner Meinung nach letztlich zu einem gelungenen Leben allein zählt sind Güte und Selbstgenügsamkeit, ἡμερότητος καὶ αὐταρκείας (Weisung 36) sowie, vor allem, Freundschaft, φιλία (Weisung 23)

R. Martin: Die (schizophrene) Gutmenschperspektive

Frog1(Ralph Martin, Im Herzen des Unverständnisses, In der Übersetzung von Tobias Rüther, FAS, 20.11.2016, 47)

(Susan Neiman, Die Quelle allen Unglücks?, Zeit, 27.10.2016, 49)

Der (amerikanische) Gutmensch Ralph Martin schreibt über seinen Besuch in seiner Heimatstadt Granville, Ohio, am 4. Juli 2016:

„Die Granville Coffee Company“ nennt man auch den „Christian Coffee Place“, weil die Rechte evangelikale Christen hingehen und unter Bibelsprüchen aus dem Alten Testament sitzen um eine Bibel, die auf einem Tisch in der Mitte auslegt. Einige Wochen nachdem ich wieder zuhause angekommen war, bin ich ihr her gegangen. Zwei Sechzigjährige weiße Männer unterhielten sich darüber, wie blöd die Europäer wären, so eine riesige Zahl Muslime in ihre Länder zu lassen. Weil das ja nur Terrorismus mit sich bringen könnte. Es war der Tag, nachdem ein Terrorist auf der Promenade von Nizza mit einem Lastwagen 86 Menschen getötet hatte. Wenn man zu blöd ist, sagten die beiden Männer, dann muss man ja damit rechnen, dass sowas passiert. Ich sah zu, dass ich weiterkam, und habe meinen super heißen Kaffee so schnell getrunken, dass ich mir den Mund verbrannte.“

Es ist diese Einstellung: des Rückzugs, Einigelns und Aufgehens in der eigenen Komfortzone, die die Spaltung der Gesellschaft – hier die Gut-Herren, dort die minderwertige Plebs – vorantreibt…

Man/frau streiche in folgendem Zitat das Wort Heidegger und ersetze es durch Der Gutmenschen (oder ein anderes x-beliebiges Subjekt), schon wird das hier vorliegende Denkmuster(-Stereotyp) sichtbar:

Heideggers Verachtung der Öffentlichkeit ist nur ein Beispiel dafür, wie sich elitäres Denken [überhaupt] bedroht fühlt.“ (Neiman; imOriginal keine Hervorhebung)

Martin sollte von Kittlitz lesen (siehe: Forderung nach Selbstkritik)…

Doch ich fürchte, Martin und seine Freunde fühlen sich Leuten wie den beiden Sechzigjährigen, von denen Martin erzählt, intellektuell und moralisch so (pseudo-göttlich) überhoben, dass von Kittlitz‘ Forderung nach Reflexion der eigenen (Über-Ich-)Position für sie a priori ausscheidet: von ihnen (als den, wie sie sich wohl-fühlen, Wahrern von Gut und Schön) als unerhört zurückgewiesen wird… ((Sie sind und bleiben in ihrer Höhle, im System 1 verfangen…: Geben (sich und allen andern) aber vor, frei zu sein…

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von Kittlitz‘ Selbstkritik am Über-Ich: dem Gutmensch-Diktat

Frog1Alard von Kittlitz, „Es heißt, Trump die xenophob – aber wenn ein arabisch aussehender Mann mit Rucksack in die Bahn steigt, haben wir alle Angst. Wir sind nicht ehrlich mit uns“, Zeit, 24.11.2016, 80)

Gutmensch Alard von Kittlitz gibt zu, dass der Flüchtlingsdiskurs weitgehend gleichgeschaltet geführt wird, die Gutmensch-Erzählung von der Herrenklasse der öffentlichen Meinung dem Volk als alternativlos hingestellt wird. Doch er erkennt auch, dass sich Widerstand gegen die politische Korrektheit regt und die bösen Opponenten dabei sind, die Gutmensch-Diktatur zu unterlaufen. Ohnmächtig konstatiert er:

„Wir verlieren, obwohl wir schon lange kultureller Hegemon sind. Obwohl sich also alle, die wir persönlich kennen, fast alle Politiker, die wir als halbwegs normal bezeichnen, fast alle Stars auf unserer Seite befinden. Fast alle Fernsehsender und fast alle Zeitungen. Wir sind das Establishment, und wir haben verloren.“

Gut so, ihr Arroganzlinge!

Als Medizin gegen die eigene Überheblichkeit empfiehlt von Kittlitz die Rückbesinnung auf das jemeinige Säuglingsalter: Die Überwindung der antagonistischen Weltperspektive durch die Anerkennung von Ambivalenzen:

„Die Mutter gibt ihm [dem Säugling] die Brust: Sie ist gut. Die Mutter entzieht sich ihm: Sie ist böse. Die Mutter ist also gut und böse. Er selbst, lernt der Säugling, ist es also vielleicht auch. Er ist nicht rein. Das ist ein sehr großer Gedanke.“

Wir gratulieren zu dieser großartigen Erkenntnis!! (Schon mal was u.a. von Dialektik gehört??)

Von Kittlitz empfiehlt seinen Gutmenschfreunden daher, ihre arrogante Haltung, ihre Rechthaberei und ihren moralischen Überlegenheitsanspruch zu überdenken:

„Wir haben ein Riesenproblem: Wir sind nicht ehrlich mit uns. Wir sind nicht mehr aufgeklärt. [Hört, hört!!] Wir kennen uns selbst nicht mehr. Wir haben, würde der Analytiker sagen, ein zu dominantes Über-Ich.“ (im Original keine Hervorhebungen)

Dieses Über-Ich manifestierte sich in „Tabus und Denkverboten“. Je stärker diese zementiert würden, desto deutlicher und d.h. scharfkantiger akzentuiere sich die Opposition (als Gegenkraft):

„Es ist einfach, zu begreifen, was mit einer Gesellschaft geschieht, die das Scheitern am eigenen Über-Ich als Katastrophe erlebt: Sie beginnt sich zu spalten. Deshalb gibt es nun jene, die anfangen, das Über-Ich abzulehnen, und es ist kein Wunder, dass sie sich zuerst unter dem Banner des Hasses auf die Political Correctness zusammengefunden haben.“

Nur wenn es gelinge, Ambivalenzen zu tolerieren, anzuerkennen und die eigenen Überzeugungen aus der Perspektive anderer (Grund-)Positionen ehrlich zu hinterfragen, könne die (immer weiter zunehmende) Spaltung der Gesellschaft überwunden werden:

„Wenn uns [Gutmenschen] das Aussprechen [„unser[es] Scheitern[s]“ am eigenen Über-Ich] nicht gelingt, produzieren wir das, was uns so ängstigt: eine Gesellschaft, durch die ein immer tieferer Graben verläuft. Eine Gesellschaft, in der wir, die wir an die Werte der Aufklärung glauben [gemeint ist Kant…], immer weiter an Land verlieren. Eine Gesellschaft, in der zunehmend Gewalt droht.“

Klingt zunächst gut und vernünftig. Doch ob dem Geheuchel wohl auch Taten folgen??

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