Gutmenschen-Hybris vs. Kants kategorischen Imperativ

Für Kant heißt Aufklärung zunächst/vor allem Vernunftkritik. Von ihm können wir lernen, was es für einen Aufklärer heißt, weise zu sein, sprich vernünftig zu leben: i.e. vernünftig zu denken und zu handeln.

Unter Bezug auf die Kritik der praktischen Vernunft (Seitenverweise nach AA) sind folgende Aspekte relevant:

  1. Bezug von Theorie und Praxis

Für Kant waren sowohl spekulative/theoretische als auch praktische Vernunft: reine Vernunft. (159) Doch nur die praktische Vernunft helfe uns über die Sinnenwelt hinaus und verschaffe uns Erkenntnisse von übersinnlicher Ordnung und Verknüpfung. (190) In der Verbindung von reiner spekulativer und reiner praktischer Vernunft zu Erkenntnis hat letztere insofern das Primat. (218)

Fazit 1: Handeln hat den Vorrang vor dem Denken. Gut zu sein erweist sich im Handeln.

2. Der Mensch als Zwitterwesen

Möglichkeitsbedingung der praktischen Vernunft sei, dass jede handelnde Person zugleich Noumenon, d.h. reine Intelligenz, als auch Erscheinung sei: Als Erscheinung unterliege sie der Kausalität nach Naturgesetzen, als Noumenon sei sie ein nicht der Zeit nach bestimmtes Dasein — Heidegger greift in Sein und Zeit auf diese Fragestellung zurück —, d.h. als Noumenon ist der/die Handelnde von allem Naturgesetze frei: er/sie unterliegt der Kausalität nach Freiheit. (206)

Fazit 2: Der Mensch ist sowohl Erscheinung (Materie) als auch Geistwesen (Noumenon).*

3. Zur Willensfreiheit des Menschen

Freiheit aber ist ein Postulat: ein zwar theoretischer, aber kein erweislicher Satz (!!), (220) d.h. reiner Vernunftglaube. (226) Denn ein Postulat kann durch spekulative Vernunft weder bewiesen, noch widerlegt werden. (257) Immerhin sei Freiheit die einzige von insgesamt drei Ideen (neben der Idee der Freiheit postuliert Kant noch die Ideen Gott und Unsterblichkeit), wovon wir a priori wissen: weil bzw. insofern sie die Bedingung des moralischen Gesetzes sei. (5)

Fazit 3: Frei ist der Mensch, wenn überhaupt (!), nur in seinem Willen, d.h. als Handelnder.

4. Vom Wesen vernünftigen Handelns

Laut Kant wissen wir also nicht, ob der Mensch überhaupt in seinen Handlungen frei ist oder nicht. Willensfreiheit ist von Kant lediglich postuliert, um sittliches Handeln (und das höchste Gut als Gegenstand sittlichen Handelns) überhaupt begründen zu können: Das höchste Gut sei nur durch Freiheit des Willens hervorzubringen. (203) Wenn jedoch das höchste Gut sich nur im Rahmen der eigenen Vernünftigkeit aus Freiheit begründen lässt, so ist intersubjektive Gültigkeit sittlicher Normen nicht diktierbar! (Selbst von Gott nicht!) Sie ist überhaupt nur erreichbar, wenn diese Normen von (ausnahmslos) allen! Vernunftwesen, sprich Menschen, aufgrund ihrer Vernünftigkeit geteilt werden können. Daher formuliert Kant den kategorischen Imperativ wie folgt:

„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (54)

Fazit 4: Sittlich, weil vernünftig, ist das Handeln des Einzelnen, wenn zu erwarten ist, dass dieses Handeln von allen Vernunftwesen (Menschen) als zumindest (einspruchslos) akzeptabel angesehen ist.

5. Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung

Das von Kant gleichwohl zu benennen angestrebte Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung (Prinzip a priori) muss also so gefasst sein, dass es allgemeingültig ist. Es muss folglich ein Wert a priori sein, der aus der Kausalität nach Freiheit resultiert. Im Unterschied zur Kausalität nach Naturgesetzen zielt die Kausalität nach Freiheit nicht auf Ursache(n) als Letztbegründung, sondern auf Zwecke. Das höchste Gut ist folglich der notwendige höchste Zweck. (207) Dementsprechend lässt sich das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung nun wie folgt setzen:

„Daß, in der Ordnung der Zwecke, der Mensch (mit ihm jedes vernünftige Wesen) Zweck an sich selbst sei, d. i. niemals bloß als Mittel von jemandem (selbst nicht von Gott) ohne zugleich hierbei selbst Zweck zu sein, könne gebraucht werden, daß also die Menschheit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse, folgt nunmehr von selbst, weil er das Subjekt des moralischen Gesetzes“ ist. (237; Fettdruck: im Original gesperrt gedruckt)

Fazit 5: Die reine praktische Vernunft kann nur ein (einziges) allgemeines Gesetz formulieren. Der zunächst formulierte kategorische Imperativ ist als das höchste Gut (241) und reine moralische Gesetz, (258) das uneigennützige Achtung fordere, (266) entsprechend so zu präzisieren:

Handle so, dass du jeden Menschen niemals bloß als Mittel, sondern als Zweck an sich selbst gebrauchst.

Schlussfolgerung

Wenn Gutmenschen also unterstellen, allein im Besitz sittlicher Werte zu sein, so ist das eine ungerechtfertigte Anmaßung, weil ihr Anspruch dem Prinzip der Allgemeingültigkeit widerspricht. Im Gegenteil: Indem sie anderen moralische Integrität absprechen, gebrauchen sie diese als Mittel zur Abwertung, also um ihre eigenen Zwecke in eigennütziger Absicht, und d.h. dem Allgemeinheitsgrundsatz zuwider, also widerrechtlich durchzusetzen.


*In Beilage VII seines Buchs Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (²1789) stellt Friedrich H. Jacobi daher die Frage: „hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen?“ (Meiner A, 286) und antwortet: „Ich nehme den ganzen Menschen, ohne ihn zu teilen“ (287) und so trifft denn beides zu…

Zeit der Sophisten. Scobel, Eilenberger und Gabriel im Verkaufsförderungskarussell

„Kulturzeit extra: Der philosophische Jahresrückblick 2020“, Kulturzeit vom 18.12.2020

Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Markus Gabriel – Für einen neuen Existentialismus!, SFR, 6.12.2020

Eine Zeit der Krise — wie die Corona-Zeit — ist immer auch eine Zeit der Chance für ansonsten mittelmäßig erfolgreiche Welterklärer, sich als alle anderen Mitbewerber*innen überragende Meister der Krisenbewältigung zu profilieren und d.h. zu inszenieren und: inszeniert zu werden.

Einer der bereits etablierten Inszenierer ist Gerd Scobel. Auf Kulturzeit darf/muss er immer dann ran, wenn die geplante Sendung ein (pseudo-)philosophisches und/oder -wissenschaftliches Niveau erreichen soll/könnte, das über den üblichen Gequake-Level hinaus reicht. So wurde er denn ausersehen, den Kulturzeit-Jahresrückblick zu moderieren. In der Kulturzeit-Sondersendung vom 18.12.2020 erklärte er das Jahr 2020 im Rückblick zu einem Jahr der Philosophie:

„2020. Dürre und verheerende Waldbrände weltweit, der Klimawandel. Dann, zu Beginn des Jahres die Pandemie. Sars-Cov-2 fordert viele Tote. Leergefegt sind die Straßen in den Hauptstädten der Welt. Schwere Zeiten, aber einen schönen guten Abend, meine Damen und Herren bei Kulturzeit. Hegel, dessen 250. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wurde, definiert die Philosophie als ein Erfassen der Zeit in Gedanken. Reicht Ihnen das? Auch Bilder und Symbole müssen ja eingefangen und interpretiert werden. Und, dann zunehmend nicht nur Gedanken, sondern vor allem auch Daten. Um unsere Gegenwart philosophisch zu erfassen, ist heute anderes und mehr nötig als damals.

[an auszuwertendem Material vielleicht; sicherlich aber nicht an gedanklicher Arbeit — oder sind wir in der Zwischenzeit, ohne es zu merken, zu Übermenschen mutiert, die mehr vermögen als nur die Anstrengung des Begriffs?]

Für uns ein Grund, bei Kulturzeit heute statt eines klassischen Jahresrückblicks zu versuchen, unsere Gegenwart unter heutigen Bedingungen philosophisch zu bestimmen. Warum philosophisch? Weil in diesem Jahr Philosophie vielleicht das erste Mal seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle spielte, als es darum ging, die Gegenwart nicht nur zu verstehen, sondern auch Gesellschaft und Politik gut zu steuern.

[Welch Plädoyer für die Re-Etablierung politischer Philosophie in praxi! Daran ist bekanntlich schon Politik-Berater Platon voll gescheitert…]

Philosophie gehört nach wie vor als ein zentrales Element zum umfassenden Prozess der Aufklärung, über die wir in dieser Sendung noch zu sprechen haben nicht nur mit Blick auf Trump oder das Klima. Allerdings reicht es nicht, sich mit der Rolle der kritischen Prüfung althergebrachter Paradigmen zu begnügen. Wie Anna Riek zeigt, muss es auch darum gehen, dem, was marode ist, neue zukunftsbezogene Narrative entgegenzusetzen.“

Im Anschluss an den Beitrag Rieks dann gab Scobel dem neuen TV-Philosophen-Stern Wolfram Eilenberger Gelegenheit, seine Weisheiten kundzutun. So wie zuvor Prechts begann auch Eilenbergers Karriere damit, nicht nur einen, sondern gleich zwei Bestseller gelandet zu haben. Quantität = Qualität lautet die Devise der nivellierten Bildungsgesellschaft, sprich: wer viel verkauft, muss viel zu sagen haben. Der muss ins Fernsehen!

ScobeI leitete denn das Gespräch mit Eilenberger auch wie folgt ein:

„Im Studio begrüße ich jetzt den Philosophen, Schriftsteller und Publizisten Wolfram Eilenberger, ehemals Chefredakteur des Philosophiemagazins und Autor der beiden Bestseller Zeit der Zauberer und Feuer der Freiheit.“

Selbstredend waren die beiden Super-Bücher auch so positioniert, dass man/frau sie wie auf einem Verkaufsstand während des ganzen Interviews vor das Gesicht gesetzt bekam: eine indirekt und doch plump ausgesprochene Kaufempfehlung.

Die anschließende Unterhaltung unter Freunden – Eilenberger wurde geduzt – entwickelte sich dann auf erwartet dürftigem TV-Verkaufsförderung-Niveau: Weitere potentielle Käufer*innen sollen ja zum Kauf ermuntert und nicht abgeschreckt werden:

G.S. „Wolfram, bei allem Negativen war in meinen Augen dieses Jahr ein Jahr der Philosophie. Kant hätte möglicherweise gesagt, das war ein Ereignis. Teilst Du diese Ansicht? Und warum, glaubst du, wenn ‘s so ist, dass Philosophie wieder so gefragt ist?“

W.E. „Ich denke, es ist ein Jahr, das uns allen sehr zu denken gegeben hat, weil tiefe Störungen in unserem Weltverhältnis uns ermöglichen, grundlegende Fragen zu stellen, auch die ganze Komplexität unserer Lebenswelt wieder in den Blick zu geraten und, ja, ich denke, 2020 war in diesem Sinne ein Jahr, das uns zu denken gab, zu philosophieren gab und vielleicht nach 1989 das wichtigste Schwellenjahr meiner Generation.“

G.S. „Was macht denn Philosophie anders als beispielsweise die Wissenschaften?“

W.E. „Na, die Philosophie hat erst mal keine eigenen Experimente. Sie stellt auch keine Tatsachen im eigentlichen Sinne fest. Sie generiert sie auch nicht neu. Ich glaube, die Kunst der Philosophie besteht darin, Klarheit durch begriffliche Analyse zu schaffen, uns von Kernillusionen unseres Daseins zu befreien, damit wir eine klarere Sicht auf die Welt, auf die anderen Menschen und uns selbst bekommen.“

Ca. zwei Wochen vor diesem Auftritt in der Kulturzeit, am 6.12.2020, wurde Eilenberger im SRF sogar die Ehre zuteil, einen weiteren Superstar der TV-Philosophenzunft, den Universitätsprofessor Markus Gabriel zu interviewen.

In seiner Anmoderation stellte er Gabriel als den Guru

„einer radikal neuen Philosophie, die unsere Kultur von ihren tiefsten, ja todbringenden Irrtümern heilen will“, 

vor. Schleimerischer geht‘ s kaum noch.

Und was sind diese Irrtümer, von denen uns Gabriel – in Eilenbergers Schleimerei-Gequake

„einer der aufregendsten Denker unserer Zeit“

– durch „Intervention in den Zeitgeist“ (Gabriel) befreien will? — Es sind vornehmlich die folgenden drei Geißeln, die von Gabriel mit den Schlagwörtern Physikalismus, Neurozentrismus und moralischer Nihilismus tituliert werden.

Dass diese Erkenntnis Gabriels entgegen der Eigen- und Fremdstilisierung nicht allzu revolutionär sein kann, zeigt schon der Fakt, dass eine andere TV-Größe jüngst über die Unberechenbarkeit des Lebens schwadronierte. TV-Vorzeigewissenschaftler Harald Lesch veröffentlichte mit Thomas Schwartz (nebst Zuarbeiter Simon Biallowons) das in quantitativer wie qualitativer Hinsicht recht dünn ausgefallene Büchlein Unberechenbar.

Auch die Autoren von Unberechenbar, Das Leben ist mehr als eine Gleichung, plädieren für eine Entmystifizierung des Glaubens an die Berechenbarkeit von allem mittels der „Prinzipien, die der Physik und der Mathematik zugrunde liegen“. (12) Freilich geht ihre Kritik nicht so weit, das Wissenschaftsparadigma per se infrage zu stellen: schließlich leben sie — und das recht gut — von der Wissenschaft im universitären Wissenschaftsbetrieb.

Indem sie das „Anything goes unserer Zeit“ (117) verurteilen, prangern sie zudem auch „die scheinbare Entgrenzung des Lebens und der Moral“ und damit den moralischen Nihilismus an. (eb.)

Wo also ist das radikal Neue, das Gabriel für seinen Entwurf in Anspruch nimmt? Es existiert schlichtweg nicht! Alles nur sophistisches Geplänkel: Verkaufsrhetorik…

Konkurrenz belebt das Geschäft,

Pseudo-Konkurrenz erst recht!

Islamkritik in der Kulturzeit

Nina M. Brunner im Gespräch mit Ebrahim Afsah über den Anschlag in Wien, Kulturzeit, 3.11.2020

Nina M. Brunner im Gespräch mit Hamed Abdel-Samad über „Aus Liebe zu Deutschland“, Kulturzeit, 3.11.2020

Viele Fragen an die Behörden, Tagesschau, 4.11.2020

Anlässlich des Terroranschlags in Wien am 2. November 2020 — begangen von einem 20-jährigen IS-Sympathisanten mit Doppelstaatsangehörigkeit (Österreich und Nordmazedonien), der frühzeitig aus der Haft entlassen wurde, „weil der Mann an einem Deradikalisierungsprogramm teilgenommen hatte“ — strahlte die Kulturzeit am Tag danach zwei Gespräche, geführt von Nina M. Brunner, aus, um diesen Anschlag aus übergeordneter Perspektive zu reflektieren.

  • Gespräch 1 mit Ebrahim Afsah, Professor für Rechtswesen und Ethik im Islam an der Universität Wien;
  • Gespräch 2 mit Hamed Abdel-Samad, Schriftsteller

Beide schildern die in Österreich bzw. Deutschland vorherrschende Dhimmi-Kultur: Afsah aus seiner Sicht als Professor an der Uni Wien, Abdel-Samad aus seiner Erfahrung als Islamkritiker in Deutschland.

Beide Gespräche sind ungekürzt widergegeben. Entscheidende Passagen sind fett gedruckt.

Gespräch 1

B. Bis gestern war Österreich ja nicht direkt vom dschihadistischen Terror betroffen. Gibt es Ihrer Meinung nach eine Begründung dafür, dass Wien jetzt in den Fokus gerückt ist, die über die Biografie des Täters hinausgeht?

 

A. Ich glaube nicht. Ich glaube nicht, dass Österreich irgendetwas getan oder unterlassen hat, was diese Anschläge provoziert haben könnte. Das sind Anschläge, die in dem weiteren europäischen Kontext zu sehen sind und in diesem weiteren Kulturkampf, den wir seit spätestens den dänischen Karikaturen Mitte der 2000er Jahre sehen.

 

B. In diesen weiteren Kontext zählt jetzt ja auch der aktuelle Streit zwischen dem türkischen Präsidenten Erdoğan und seinem französischen Amtskollegen Macron. Wie hat denn diese Debatte die muslimische Gemeinschaft in Österreich beeinflusst?

 

A. Es ist wichtig, meiner Meinung nach, hervorzuheben: wir haben uns ein bisschen auf Erdoğan eingeschossen, aber sehr viele muslimische Staatsoberhäupter, zum Beispiel auch der als moderat geltende König von Marokko, der König von Jordanien oder der Emir von Kuwait haben sich sehr sehr ähnlich wie Herr Erdoğan dazu geäußert. Das ist also eine breiter angelegte Kampagne und fällt eben in diesen Kulturkampfkontext, den ich angesprochen habe. Es ist also kein Erdoğan-Problem.

 

B. Der von der Polizei gestern erschossene Attentäter, der war den Behörden ja offenbar länger schon bekannt, radikalisierte sich, das wusste man. Welche Versäumnisse sind denn da der österreichischen Justiz und dem Staatsschutz zuzuschreiben?

 

A. Wissen Sie, es ist einfach, in einer Situation wie jetzt nach schnellen Schuldigen zu suchen. Ich glaube, den Verfassungsstaat, den wir haben, also die Rechtsordnung und eben auch die Strafrechtsordnung, die wir haben, gibt eben nur ein bestimmtes Maß an Maßnahmen her. Und ob die nun hier ausgereizt worden sind oder nicht, maße ich mir nicht an zu bemessen; aber ähnliche Fälle können immer wieder passieren. Ich glaube nicht, dass man diese Anschläge den Strafverfolgungsbehörden zumessen kann. Es ist eben auch ein relativ großer Sumpf, aus dem solche Leute kommen. Er ist, ich will nicht sagen unerschöpflich, aber ist zumindest sehr sehr groß. Ich glaube nicht, dass man alle diese Leute überprüfen kann.

 

B. Immer fordert die Politik nach solchen Attentaten ganz schnell irgendwie hartes Durchgreifen. Was halten Sie denn von solchen Parolen, die natürlich kommen, auch heute in Österreich?

 

A. Es sind eben Parolen, wie Sie sagen. Man vergisst immer wieder, dass das ein lang anhaltender Kulturkampf ist, in dem die westliche Lebensordnung sich selbstbewusst verteidigen muss, und zwar nicht nur verteidigen im Sinne von Maßnahmen, die es trifft, sondern indem es eben auch seine Lebensart selbstbewusst, stolz vertritt und dementsprechend auch ein Anpassen an diese Lebensart einfordert. Ich unterrichte ja nun, wie gesagt, einen Haufen muslimischer Studenten, und ich hab‘s mit der organisierten islamischen Vertretung hier in Österreich zu tun; und ich muss einfach sagen, dass dort im ganz normalen täglichen Leben mit ganz normalen sogenannten moderaten Muslimen eklatante Probleme liegen. Und das sind keine Probleme, die wir mit dem Strafrecht lösen. Das sind auch keine Probleme, die jetzt immer im Nachgang eines jeweiligen Anschlags lösen können. Da müssen wir uns als Gesellschaft einfach ein etwas längeres Gedächtnis zulegen.

 

B. Sie sagen eklatante Probleme. Da möchte ich jetzt kurz, zum Schluss einmal nachfassen. Was heißt das denn für Sie als Professor mit einem Lehrstuhl? Heißt das, sie zensieren sich teilweise schon selbst?

 

A. Also es ist offensichtlich, dass die Universität mich zensiert, zum Beispiel, ich bin eingestellt worden, um sogenannte Islamlehrer, die Unterricht ausüben sollen, irgendwann später sogenannte Imame, unter anderem auszubilden in islamischem Recht. Die Glaubensgemeinschaft hat das, massiv dagegen protestiert. Und darauf hat eben die Universität der Glaubensgemeinschaft, noch bevor ich kam, zugesichert: Macht euch keine Sorgen, der Typ wird nur Juristen unterrichten, eure muslimischen Kinder werden von einem Rechtgeleiteten unterrichtet werden. Das ist natürlich ein Problem. Und wenn Sie solche Zugeständnisse machen, brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass dann mehr Forderungen kommen, und die sind jetzt in meiner speziellen Vita immer wieder gekommen. Es wurde immer wieder nachgegeben.

2. Gespräch

B. Bevor wir auf Ihr Buch [Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf] und Deutschland zu sprechen kommen, noch mal ein Reflex betreffend Österreich. Man weiß noch nicht allzu viel, aber der Attentäter war den Behörden offenbar bekannt als Sympathisant vom sogenannten IS. Was sagt Ihnen dieser Fall?

 

A.-S. Ich sage, ich als Islamkritiker und viele andere Islamkritiker müssen ja ihre Bewegungsfreiheit beschränken. Die leben in Angst. Wir leben unter Polizeischutz. Ich wechsle meine Wohnung alle drei, vier Monate, aber ein Gefährder, ein Salafist, ein Islamist können sich frei bewegen und sogar auch Menschen umbringen. Irgendetwas läuft schief in diesem Land, in diesem Kontinent. Europa ist dabei, seine Werte aufzugeben zugunsten von einem komischen Verständnis von Toleranz. Die westliche Zivilisation scheint aus der Mode gekommen zu sein für westliche Intellektuelle und westliche Politiker. Man will Minderheiten schützen. Das ist nobel. Man will Muslime nicht vor den Kopf stoßen. Das ist auch nobel. Aber im Namen dieser falsch verstandenen Toleranz lässt man zu, dass die Intoleranten ihre Infrastrukturen aufbauen, dass sie unsere Werte verachten und uns auch ihre Werte aufzwingen. Sie bestimmen, wer Mohammed zeichnet oder nicht. Sie bestimmen, was geschrieben wird oder nicht. Und ich höre seit dem elften September nur die gleichen Sonntagsreden: Wir dürfen die Intoleranten nicht mit Intoleranz, nicht begegnen. Wir kämpfen mit aller Vehemenz gegen Terrorismus. Aber ich sehe keine Strategie, keine Konzepte. Ich sehe, dass man versucht hat, sogar Islamisten ins Boot zu holen: türkische Organisationen, Erdoğan-Anhänger. Und am Ende hat man aber nicht erreicht, dass wir den Terrorismus bekämpfen, sondern Islamismus stärken. Mit dieser falsch verstandenen Toleranz haben wir nicht Minderheiten geschützt, sondern eher Islamisten gestärkt, Rechtsradikale gestärkt und die Demokratie geschwächt.

 

B. In Ihrem Buch gehen Sie ja konkret auf Deutschland ein. Sie schreiben: Eine unsichere Identität lädt diejenigen, die neu dazukommen, nicht zu Integration und Teilhabe ein. Was fehlt denn gerade Deutschland für eine gefestigte Identität?

 

A.-S. Vor allem Selbstbewusstsein. Ich sehe Schuldkult, Schuldbewusstsein, aber kein Selbstbewusstsein. Eine auf Schuld basierende Identität lädt weder Deutsche noch Migranten dazu ein, diese Identität zu umarmen, im Gegenteil. Das ist eine Identität, die abstoßend wirkt. Man muss an seine eigenen Werte wirklich glauben. Man muss diese Werte auch artikulieren. Und auch wenn Migranten kommen und sagen, das sind unsere Werte, und jeder, der zu uns kommt, muss sich daran halten. Wir zeichnen Propheten, Päpste und Politiker. Wir ziehen jeden durch den Kakao. Aber irgendwie wissen wir nicht, was wir von Migranten verlangen können. Wir wissen mittlerweile, was wir ihnen anbieten können: Sprachkurse, Integrationskurse und so weiter. Aber wir wissen nicht, was wir von ihnen verlangen können, sondern wir haben Integrationsangebote, aber keine Integrationsgebote. Wir haben keine Sanktionsmöglichkeiten. Jeder kann bei uns machen, was er will. Und sie lachen über uns mittlerweile, weil sie haben den Eindruck, wir sind schwach, wir nehmen unsere Werte nicht ernst. Und ich sehe, dass wir nicht so entschlossen für unsere Werte eintreten wie die Islamisten für ihre schlechten Werte.

 

B. Sie bemängeln ja auch ganz konkret in Deutschland eine Diskursverengung auf der politischen Linken einerseits und eine apolitische Besitzstandwahrung der bürgerlichen Mitte andererseits. Inwiefern unterscheidet sich Deutschland von anderen westlichen Demokratien? Denn diese Phänomene der Polarisierung, die gibt‘s ja überall.

 

A.-S. Die Phänomene der Polarisierung gibt‘s überall, aber jedes Land muss seine Konzepte selbst entwickeln, und ich hab dieses Buch zu Deutschland geschrieben, an die deutsche bürgerliche Mitte auch gerichtet. Es kann nicht sein, dass alle Themen und Diskurse in Deutschland von den Rändern bestimmt werden, sei es, wenn wir über die Corona-Krise sprechen, über Islamismus, über Rassismus. Und es kann nicht sein, dass bei jeder Debatte alles emotional aufgeladen wird, dass kaum eine sachliche Debatte möglich ist. Es kann nicht sein, dass Erdoğan zum Beispiel mehr Einfluss auf Deutschland hat als umgekehrt. Es kann nicht sein, dass wir nicht imstande sind, den Islam und Europa zu modernisieren, und stattdessen wird Europa vom Islam islamisiert. Das geht überhaupt nicht. Wir müssen Kante zeigen. Wir müssen diese Engführung des Begriffs Toleranz ändern. Wir müssen das verändern, wie wir über Toleranz und Islamismus denken. Wir haben die Aufklärung zugunsten einer falsch verstandenen Toleranz aufgegeben, zugunsten von Multikultki und Ethnofetischismus. Das geht nicht. Deutschland muss wieder zeigen, was dieses Land ausmacht. Wir sind gerne ein offenes Land, aber wir müssen auch Grenzen zeigen und auch Sanktionen gegenüber Islamisten, aber auch, natürlich, Rechtsradikalen auch zeigen. Aber das Land ist gerade irgendwie so lasch. Die bürgerliche Mitte zieht sich in Komfortzonen, in intellektuelle und emotionale Komfortzonen, und die Ränder wachsen und bestimmen die Themen. So schwächt sich die Demokratie selbst. So schwächt sich die westliche Zivilisation selbst. Und der Islamismus ist nicht die größte Gefahr für die westliche Zivilisation und auch für Deutschland, sondern dass diese Zivilisation, diese Kultur sich selbst aufgibt.

Ernst nehmen muss man/frau die geäußerte Kritik in beiden Statements freilich nicht: Sind sie doch nur das Geschwätz von Islamophoben, denen — ausnahmsweise: anlässlich des real stattgefundenen Terrors — mal ein wenig Raum für ihre kruden Ansichten im Diskurs zugestanden werden musste —

Ach sind wir doch tolerant und generös, wir Kulturzeitler —

Salazars „Sprache des Terrors“ des IS

Frog1(Philippe-Joseph Salazar, »Kampf der Symbole«, Im Gespräch mit Elisabeth von Thadden, ZEIT, 1.9.2016, 37)

(Philippe-Joseph Salazar, Die Sprache des Terrors. Warum wir die Propaganda des IS verstehen müssen, um ihn bekämpfen zu können, München 2016)

Im Interview formuliert Philippe-Joseph Salazar sein Hauptanliegen, das Projekt der Aufklärung fortzusetzen, wie folgt:

„Wir füllen die Ideen der Aufklärung nicht mehr substantiell aus. […] Wir haben sie zu Managementvokabeln verkommen lassen. [… Das] heißt zuerst, dass gegenwärtig in einem Staat wie Frankreich die Aufklärung offenbar nicht mehr stattfinden soll. Wir Bürger werden nicht informiert. Die heiklen Quellen werden von uns ferngehalten, ob durch staatliche Zensurpolitik, Beschwichtigen der Medien [Lügenpresse…] oder die geheimdienstliche Auswahl von zugänglichen Informationen. Wir werden nicht ernst genommen. Aber wir sind der Souverän. Lesen wir endlich die Quellen des Gegners! Unsere französischen Schullehrer sind doch alle dafür ausgebildet, Texte zu analysieren: Warum machen wir die Texte und Videos des Kalifats nicht zur Schullektüre,

[statt den Schülern und Schülerinnen Islamunterricht durch Organisationen wie Ditib anzubieten, die das Geschäft des IS betreiben, indem sie Aussagen treffen wie: Es gibt nichts Schöneres als Märtyrer zu sein/werden!]

um sie zu entdämonisieren, zu falsifizieren, ihre Widersprüche, Irrtümer und Manipulationen aufzudecken? Das ist und bleibt die beste Waffe, über die wir verfügen: uns auf die Urteilskraft zu verlassen und sie in Anspruch zu nehmen. Die schlechtestmögliche Verteidigung des Landes hingegen besteht darin, die Bürger für dumm zu halten.“

Doch die Gutmensch-Eliten machen exakt dieses. Qua gegenseitige Selbstermächtigung und gegenseitiges Schulterklopfen dominieren sie (Funktionäre, Parteigänger und Sympathisanten von – in Deutschland – CDU, SPD, Die Linke, die Grünen; FAZ, SZ, ZEIT…) den öffentlichen Diskurs in Presse und Fernsehen. Sie bestimmen die Diskursregeln und tragen für deren Exekution Sorge. Daher ist es schwierig, ihnen, diesen manichäisch vor-eingestellten Bevormundern (Wir sind die Guten und ihr seid die schlechthin, scheiß Bösen. Seht es doch endlich ein und kuscht gefälligst!) nicht genehme Informationen überhaupt zu beschaffen. – Zum Glück gibt es ein noch (!) weit gehend nicht-domestiziertes Internet und ab und an Anti-Pauschalisten (wie Juli Zeh, Markus Lanz…). –
Zudem ist es schier unmöglich, sich in den Diskurs einzubringen, ohne a priori aus der Schlechtmensch-Perspektive heraus als zum kleinen, großen oder gar absoluten Arschloch auserkoren (gegen das als das höchste Gute – bonum, τἀγαθά (Platon) – a priori Vorgegebene uns ins Göttliche Entrückte: To άξιον εστί Willkommenskultur!, und zwar: Gemäß der Maxime: Kαθ᾽ ἑαυτόν „Keine Obergrenzen!“) an-argumentieren zu müssen.

Leider konnten sich die – insbesondere radikalenAufklärer (siehe Philipp Bloms großartiges Buch hierzu) nicht durchsetzen… Und nicht nur das: Die Aufklärung (qua perennierender Imperativ über alle Generationen hinweg) scheint obsolet.

Letztlich sind wir Zombie-Christen (Emmanuel Todd) in der Ambivalenz stehen geblieben: Da die Sklavenmoral des Christentums, in der wir sozialisiert wurden, in unserem Unbewussten weiterlebt (wie Todd am Fall Frankreich zeigt), sind wir immer noch höchst empfänglich für Unterwerfungsappelle. (In der Hinsicht stehen wir dem IS weit näher als all die Gutmenschen wahrhaben wollen.)

Also sprach (schon) Nietzsche (siehe Vorrede Zarathustra): Die Bereitschaft sich (unter dem Imperativ der Gutmenschen – welcher Couleur auch immer!) zu versklaven ist in unserm Zeitalter (noch? zu?) stark ausgeprägt; der Wille zur Gegenwehr ist schwach und wird diskursethisch (zu Tode) nihiliert.

Ein einziges Bild eines einzigen toten Buben (Ailan Kurdi) genügt —: Und schon verfängt die alles, in toto nihilierende Mitleidsethik (Schopenhauer contra Nietzsche).

Das ist der Vorlauf in den Tod des anderen, des Fremden – sei es anonym (à la Albert Camus) oder benamt (à la Kamel Daoud) – SOWIE des europäischen Menschen.

Ihr seid Verächter EURER Freiheit! Ihr, die ihr da ruft:

Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!
Halleluja / Halelu Yah / Alhamdulillah! (Psalm 118:26) –;

sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum —;
egal, ob auf Deutsch, Jüdisch oder Arabisch…;

und wer nicht mitmacht, für den gelte: Rübe ab! —: Sei es nun bloß im Diskurs, oder gar existenziell:
Das allein sei die zur Wahl stehende Differenz;

amen.

(siehe auch: J. Zeh zu Merkels ‚Wir schaffen das.‘)

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