(Kirsten Jacobsen: Mankell über Mankell. Kurt Wallander und der Zustand der Welt, Aus dem Dänischen von Lutz Volke, München 2015, dtv 21599)
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Anbei die für Henning Mankell wichtigsten Aspekte des Schreibens:
- Der Schriftsteller als Geschichten-/Parabelerzähler
Mankell sah und bezeichnete sich in Vorträgen und Lesungen zumeist “als storyteller”. (9)
In Jacobsens Buch sind vor allem die folgenden drei Erlebnisse aus Afrika widergegeben. Es scheint, dass ihn das Andere der afrikanischen Kultur (die interkulturelle Differenz) besonders prägte:
- Lehrerzählung/Paradigma 1
Ein, wohl das prägendste Schlüsselerlebnis Mankells schildert Kirsten Jacobsen bereits zu Beginn ihres Buchs, in dem sie ihre Gespräche mit Mankell nachzeichnet, (als Parabel):
“Während des Bürgerkriegs hielt ich [Mankell] mich einmal im Norden von Mosambik auf, in der Provinz Cabo Delgado, an der Grenze Tansania. Eines Tages ging ich auf einen schmalen Pfad auf ein Dorf zu. Das Gebiet war zerstört, die Felder abgebrannt, alles um mich herum roch nach Tod und Verelendung und Leiden.
Plötzlich kam mir ein junger Afrikaner auf dem Pfad entgegen. Er war um die fünfzehn Jahre alt, sehr abgemagert und sicherlich ausgehungert. Er war in Lumpen gekleidet, und als ich auf seine Füße blickte, entdeckte ich etwas, was ich im Leben nie vergessen werde:
Er hatte sich Schuhe auf seine Füße gemalt.
Mit Hilfe von Kräutern und Erdfarben hatte er sich die Schuhe gemalt, die er nicht besaß. Ich dachte: Wie stark sind doch Wille und Kraft des Menschen, wenn es darum geht, seine Würde zu verteidigen, selbst in den schwärzesten Stunden äußerster Not. Das ist seine Art, Würde zu bewahren. Er tut es, indem er Schuhe auf seine Füße malt. Und indem er das tut, setzt er Hoffnung auf die Zukunft. Er ist ein Mann, der sich zur Wehr setzt, a man of resistance.
Ich weiß nicht, wie es weiterging mit dem jungen Mann. Ich kenne seinen Namen nicht. Er ist höchstwahrscheinlich gestorben. Für mich aber lebt er, und er hat mir eines der wichtigsten Dinge im Leben vor Augen geführt: Selbst im tiefsten Elend besitzen wir Menschen eine unglaubliche Kraft, die uns befähigt, unsere Würde zu verteidigen und Widerstand zu leisten.“ (10; im Original kein Fettdruck)
- Lehrerzählung/Paradigma 2
„Einmal war ich [Mankell] gestolpert, hatte meinen Fuß verstaucht und hinkte. Ein paar Tage später setzte sich ein Vogel, dessen einer Flügel verletzt war, vor mir nieder, flog dann aber bald fort. Am nächsten Tag hinkte ich nicht mehr, die Schwellung und der Schmerz waren verschwunden. Die Afrikaner aber meinten, der Vogel hätte mein Hinken mit sich fort genommen.
Das machte mich zu einem man of witchcraft, und nun hatten Sie Angst vor mir. Denn ein schwarzer Medizinmann kann gefährlich sein, aber ein weißer Medizinmann ist gewiss doppelt so gefährlich!“ (125f)
- Lehrerzählung/Paradigma 3
„Da saß ich [Mankell] nun auf der Bank vor dem Theater und hörte den alten Männern zu. Und ich fand schnell heraus, dass sie über einen Mann sprachen, der gerade gestorben war.
Einer von ihnen sagte: >Ja, ich habe ihn zu Hause besucht, und er fing an, mir eine wunderbare Geschichte aus seiner Kindheit zu erzählen. Das war eine sehr lange Geschichte, und es war schon spät, sodass wir uns darauf verständigt haben, dass er sie am nächsten Tag zu Ende erzählt. Am nächsten Tag jedoch war er tot.<
Es trat eine Stille ein, und ich beschloss, die Bank nicht zu verlassen, bevor ich den Kommentar des anderen Alten gehört hatte. Er kam nach einer Weile. Er sagte: >Zu sterben, bevor man seine Geschichte zu Ende erzählt hat, ist keine gute Art, eine Geschichte zu erzählen.<“ (94f)
„Genau das sind wir: Geschichten erzählende und Geschichten empfangende Lebewesen. Das trifft nicht nur auf Leute wie mich zu, auf die Schriftsteller, das trifft auf alle zu. Alle haben eine Geschichte zu erzählen …“ (95)
2. Vorbilder der Moderne
„ich war also sechs, sieben oder acht Jahre alt und in der Lage Der alte Mann und das Meer zu lesen, von dem ich vielleicht ein Viertel Verstand. Der alte Fischer Santiago wurde mein Freund. Er lud mich ein, neben ihm im Boot zu sitzen. Vor ihm war es Robinson Crusoe – der beste Roman, der jemals geschrieben wurde.“ (209; Fettdruck im Original kursiv)
3. Vorbild der Antike: Die griechische Tragödie
„die griechische Tragödie [war] ein Porträt der Gesellschaft“. (45)
„Allen Künstlern geht es wurde Johann Sebastian Bach: Wir variieren immer das gleiche Thema, wieder und wieder und wieder. Als Schriftsteller verfügt man vielleicht über drei, vier, fünf Geschichten oder Grundkonflikte, wie man unendlich variiert. Wenn wir uns die klassischen griechischen Dramen ansehen, so finden wir diese Tendenz bereits dort. Ein gewisser Typus von Konflikt wird variiert.“ (81; im Original keine Hervorhebung)
„das klassische griechische Drama handelt in der Hauptsache von Rache. Die Rache der Götter an Menschen, der Menschen Rache an Menschen. Wir hier kennen auch die klassische Form, Blutrache genannt, und genauestens beschrieben in der Literatur Islands, Norwegens, Schwedens und auch Dänemarks. Und in der sizilianischen Vendetta.
Ich glaube, dass die Rache für erlittenes Unrecht aus einer Zeit stammt, in der wir noch einzelnen Sippen angehörten. Als nicht nur die eigene Ehre ungeheuer wichtig war, sondern die Ehre der ganzen Sippe. Die musste um jeden Preis bewahrt werden. Und man ging so weit, wie die Phantasie einen trug, um altes Unrecht an der Sippe zu rächen.
Heute können wir noch in den Einwandererkulturen erleben, dass Väter ihre Töchter töten, weil sie den verkehrten Geliebten haben. […] Es ist nicht nur die eigene Ehre, die er zu verteidigen hat, sondern die einer großen Gruppe. Das ist der Grund, warum Rache ein so starkes Motiv ist und in einer modernen Gesellschaft immer noch existiert.“ (178f; im Original keine Hervorhebung)
4. Der Schriftsteller als a man of resistance
[Siehe Aspekt 1.1]
„Ich sehe die Künstler als Teil einer Art Widerstandsbewegung an. Das ist notwendig, denn ich glaube, wir sind uns einig darüber, dass wir in einer schrecklichen, schrecklichen Welt leben. Einigen Menschen fehlt es an nichts, aber die meisten, die Massen, sind immer noch arm und unterdrückt.“ (96)
[Vgl. Albert Camus: Der Mensch in der Revolte]
„Ich [Mankell] glaube immer noch, dass es eine vernünftige Philosophie ist, solidarisch zu denken und zu handeln. Das kommt nicht nur vom Gefühl her, das ist Vernunft.“ (103)
5. Der Schriftsteller als (spartanisch lebend) Unbehauster
„Ich [Mankell] fühle mich wie ein Nomade. Ich kann im Flieger schreiben, im Hotelzimmer, allein oder im Beisein anderer, an jedem Flecken der Erde.“ (19)
„Der seltsamste Arbeitsplatz, den ich je hatte, war in Stockholm. Ich war jung, knapp zwanzig Jahre alt, arm und hatte eine leere Wohnung gemietet. Keine Möbel, keine Beleuchtung, kein Bett. Ich schlief auf dem Fußboden und entdeckte, dass im Backofen eine kleine Birne anging, wenn man die Klappe öffnete. Dieses Licht war meine Lampe und die Backofenklappe mein Tisch. Da habe ich dann gearbeitet. (19)
6. Der Schriftsteller als sich in viele Rollen/Leben Einfühlender
„Für mich [Mankell] ist Schreiben Sinnerfüllung. Und ich verspüre eine große Freiheit dabei. Das ist der Kern der Kreativität: dass man sich verwandeln kann. Irgendjemand hat ausgerechnet, dass ich in meinen Büchern in zirka zweitausend unterschiedliche Personen geschlüpft bin.“ (20)
7. Der Schriftsteller als Philosoph, der nach Begründung/Sinn sucht
„Am Anfang meiner [Mankells] Bücher steht immer eine Frage, die ich [Mankell] an mich selbst richte: Wie kann es sein, dass …? Ich denke darüber nach, untersuche das Problem, und am Ende weiß ich Bescheid. Wenn ich alles weiß, beginne ich zu schreiben. Manchmal schreibe ich den Schluss zuerst, manchmal den Mittelteil, und ein andermal gehe ich chronologisch vor.“ (20)
[wie u.a. Kafka im Prozess]
„Ich [Mankell] treffe umfangreiche Vorbereitungen, bevor ich anfange. Wenn ich einmal in Gang gekommen bin, kann ich normalerweise sagen: >Dieses Buch wird 510 Seiten lang.< Ich weiß alles über die Geschichte, kenne den Verlauf, die Details und den Aufbau. Die wichtigste Arbeit ist getan, wenn ich die ersten Zeilen schreibe.“ (212)
„das Vergangene, die Vergangenheit [… muss] immer präsent sein […], um die Gegenwart zu verstehen. Das ist die Rückspiegelphilosophie: Um sicher zu fahren, muss man immer wieder in den Rückspiegel schauen. Wenn Afrikaner beispielsweise gezwungen waren, ihr Dorf zu verlassen, exhumierten sie ihre verstorbenen Angehörigen, nahmen die Knochen mit und begruben sie an ihrem neuen Ort. Ein klares Symbol.“ (126)
„Die Handlungen entlarven die Haltungen. Das ist meine [Mankells] Hauptthese.“ (59)
8. Fiktion und Realität
„Schreiben ist ein rationales Handwerk“. (53)
„Ich [Mankell] habe die Probleme anderer miterlebt, ihre Gespräche aufmerksam verfolgt. Ich notierte und registriere, was um mich herum abläuft.“ (53)
[vgl. Peter Drucker: Genaues Beobachten als by-stander ist der Anfang von allem…]
“Fiktion bedeutet, etwas niederzuschreiben, was passiert sein könnte, aber nicht passiert sein muss.” (11)
„Eine fiktive Figur kann einem Leser also genauso lebendig entgegentreten wie der Schriftsteller, der sie geschaffen hat.“ (220)
„Man ist immer an zwei Orten zugleich. Man ist in der Geschichte, und man befindet sich außerhalb der Geschichte. Gleichzeitig.“ (53)
„Ich [Mankell] bin immer auf Landschaften aus, ich bin fasziniert von ihnen und von dem, wie sie auf Menschen einwirken.“ (25) Doch „Romane [sind] keine Landkarten [;…] es [gibt] einen Unterschied […] zwischen dokumentarischem Realismus und Fiktion.“ (32)
„Der kreative Prozess besteht darin, die Existenz zweier verschiedener Welten gleichzeitig zu beherrschen. Sagen wir mal, ich [Mankell] sitze in meinem Arbeitszimmer und beschreibe Wallanders Küche! Bei diesem Vorgang existieren beide Räume parallel in meinem Kopf, lebendig und sichtbar.“ (54) „Ich kann sogar in drei, vier, fünf Räume, Landschaften oder Situationen gleichzeitig abtauchen.“ (54)
„Ich [Mankell] wollte die Welt ohne diesen europäischen egozentrischen Filter sehen. Und um eine lange Geschichte kurz zu machen: Aus demselben Grund fahre ich immer wieder nach Mosambik. So bewahre ich mir die doppelte Perspektive. Ich denke dabei an einen Maler, der an seiner Staffelei dicht vor der Leinwand steht und immer wieder zurücktreten muss, um das Motiv zu erkennen.“ (132; im Original keine Hervorhebung)
9. Über die Kurt Wallander-Krimis
Ich, Mankell, „habe […] seit den Neunzigerjahren eine Serie sozial- und gesellschaftskritischer Kriminalromane mit Kommissar Kurt Wallander geschrieben“. (31)
„die Wallander-Bücher […] waren für mich [Mankell] lediglich der Ausgangspunkt, um auf den beginnenden Rassismus in Schweden aufmerksam zu machen. Ich möchte ein Geschichtenerzähler sein. Und ich bin sehr froh darüber, dass ich für meine übrigen Romane fast genauso viele Leser habe ich für die Wallander-Bücher.“ (211)
„Wie gesagt, soll nicht ich [Mankell] fühlen, wie Kurt Wallander fühlt, sondern der Leser soll es nachempfinden können.“ (53)
„Kurt Wallander wird – falls Mankell sich richtig erinnert – am 20. Mai 1989 »geboren«, nachdem sein Schöpfer beim Blättern im Telefonbuch auf diesen Namen gestoßen war.“ (35)
„Kurt Wallander und ich [Mankell] gleichen uns nur in drei Punkten: Wir sind ungefähr gleich alt, lieben beide die italienische Oper und verbringen unglaublich viel Zeit mit unserer Arbeit. Abgesehen davon sind wir sehr unterschiedlich. Ich glaube nicht einmal, dass wir, wenn er tatsächlich existieren würde, Freunde wären.“ (39)
„Ich [Mankell] habe Kurt Wallander als einen Menschen gestaltet, der Frauen nicht besonders gut behandelt. Er ist verhaftet in einem altmodischen, traditionellen Frauenklischee, und das ist mir fremd. Sowohl als Mann als auch als Mensch. Ich mag auch nicht, wie er sich vernachlässigt. Er isst zu fett und zu viel. Und nicht selten trinkt er zu viel.“ (40)
„Wallander ist ein sehr leidenschaftlicher Mann. Er liebt immer noch seine ehemalige Frau und hat deshalb Probleme mit anderen Frauen. Er vergleicht sie mit Mona. Erst als er begreift, dass die Ehe beendet ist und nie wieder aufgenommen werden kann, ist er imstande, ein Verhältnis mit einer anderen Frau einzugehen.“ (211)
„Ich [Mankell] glaube, dass Wallander menschlich wirkt, weil er so widersprüchlich ist. (41)
„Was mich [Mankell] aber am meisten interessiert, ist, wie die Gesellschaft auf ihn [Wallander] einwirkt; denn sein Beruf als Polizist bringt es mit sich, dass er sich da auffällt, wo die gesellschaftlichen Extreme am stärksten aufeinanderprallen. […] Wie konnte er zu dem Menschen werden, der ist?“ (41)
„ich [Mankell] habe ihm Diabetes dazugegeben, um ihn [Wallander] zu entheroisieren.“ (43)
„Im Gegensatz dazu haben wir nun den Vater [Wallanders], der sich gegen jegliche Veränderung stemmt. Seine Welt steht still und soll immer gleich bleiben, Tag für Tag. […] Wallander und sein Vater repräsentieren also zwei verschiedene Weltsichten. Ich [Mankell] habe sie bewusst einander gegenübergestellt.“ (49)
Das letzte Wallander-Buch ist „eine Geschichte, die von Wallander selbst handelte. In der er nicht Objekt im Verhältnis zu anderen Objekten ist, sondern sowohl Subjekt als auch Objekt. Und so entstand Der Feind im Schatten.“ (50)
„Im Februar 2007 beging die junge schwedische Schauspielerin Johanna Sällström, die die Linda in der schwedischen Fernsehverfilmung gespielt hat, Selbstmord, gleich nachdem Vor dem Frost abgedreht war. Linda Wallander war da als neue Hauptperson eingeführt worden. Danach wolltest du [Mankell] nicht mehr über Linda schreiben, die du, wohl gemerkt, mit einem Selbstmordversuch ausgestattet hattest.“
Mankell: „Als ich das von Johanna hörte, habe ich gedacht: Nein, verdammt nochmal, ich kann das nicht einfach fortführen. Und ich habe dann auch keine Wallander-Bücher mehr geschrieben, wenn man von der Feind im Schatten als Abschluss der Serie absieht.“ (51; Fettdruck im Original nicht hervorgehoben)
10. Über Kinder: Als Leser und Künstler
„Ja, ich [Mankell] schreibe viel über Kinder. Ich war selbst ein einsames Kind und bin immer noch ein einsames Kind. Ich bin gern allein“. (76)
Ich, Mankell, „betone […] immer, dass der wahre Künstler im Kind zu finden ist. Als Kind hat man ein vollständiges, uneingeschränktes Vertrauen zur Einbildungskraft, zur Phantasie.“ (81) „Wenn man sich später im Leben in der einen oder anderen Form künstlerisch betätigen will, muss man zu dem Kind in sich zurückfinden. Zu diesem Zutrauen, dem Schlüssel eines jeden kreativen Prozesses.“ (82) „ich glaube, dass das Kind der wahre Künstler ist. In diesem Abschnitt unseres Lebens gibt es keinen Unterschied zwischen Wirklichkeit und Phantasie.“ (92)