Stralsund, Mitte Dezember 2015
Als ich am 15.12. abends mit dem Zug im Bahnhof ankam, war es schon stockdunkel. Auf der Fahrt zum Hotel erzählte mir der Taxifahrer, dass es nach der Wende für ihn als Kind toll war, mit den andern Jungs und Mädels durch die verlassenen Häuser zu streichen und auf den Dachböden nach Schätzen zu wühlen. Es wäre gewesen, als ob die nur einmal, aber für immer Ausgereisten sich nur zu Kurzausflügen aufgemacht hätten oder spontan vereist, oder auch Hals über Kopf abgehauen wären, weil sie reichlich Brauchbares, ja, ihr komplettes Alltagsleben zurückließen.
Am nächsten Morgen konnte ich vom Bett aus durch die zwei abgeschrägten Dachfenster meines Zimmers im Rügenblick, 2. Obergeschoß, den Wolken verhangenen Himmel sehen und nach dem Aufstehen geradeaus auf die gegenüberliegenden Häuser. Gegen Mittag ging ich ans Meer hinunter und dann den Sandstrand entlang bis hin zum Hafen. Es waren nur wenige Leute unterwegs. Ein Mann kam mir entgegen, der rückwärts ging. Aus einem Beutel, den er bei sich trug, mit mehreren Litern Fassungsvermögen, wie mir schien, nahm er ab und an etwas heraus, das er an zwei Schwäne verfütterte, die ihn fest im Blick knapp hinter ihm her watschelten. Der eine, der sich näher am Wasser hielt, fraß ihm sogar aus der Hand. Wenig später sah ich eine junge Frau, vielleicht eine Studentin von der nahen Fachhochschule, mit ihrem Hund: Ein zotteliges Wirrwarr in Grau, mit einem Körper kaum größer als zwei ausgewachsene Ratten und einem Paar sehr freundlich-neugieriger Augen. Zum Leidwesen seiner Herrin fand mich der Hund, sobald ich in seinen Spielbezirk kam, wesentlich attraktiver als all die anderen Spuren, denen er zuvor kreuz und quer über den Strand hinterherschnüffelte, so dass sie ihn nach einiger Zeit, als alles Rufen nichts half, auflas und sich mit ihm im Arm in Gegenrichtung zum Wasser eilig davonmachte. Die einzige weitere Person, die mir begegnete, war eine ältere Dame, die mich mit schnellen, zielstrebigen Schritten überholte. Alle drei Personen waren eingemummelt wie in tiefem Winter, obwohl die Temperatur auf mich eher frühlingshaft wirkte.
Auf dem Weg zurück zum Hotel ging ich auf dem asphaltierten, durch Laternen hell ausgeleuchteten Weg, der parallel zum Strand vom Hafen weg bis ans Ende der Stadt verläuft. Diesmal waren vor allem Radfahrer unterwegs. Doch wie schon auf dem Hinweg: Gegrüßt hat keiner. Die Leute an der See scheinen zunächst recht einsilbig verschlossen, als ob sie Paul Dirac nacheiferten, von dem es hieß, er habe stets reiflichst überlegt, um, sofern es ihm überhaupt geboten schien, sich dann zum einen so präzise als möglich zu fassen und zum andern dabei nur so viele Wörter als unbedingt nötig aufzuwenden.
Am Hafen sah ich eine Schiffskarten-Verkaufsbude, die in großen Buchstaben Tagesausflüge nach Hiddensee anpries, aber jetzt im Winter geschlossen war. Da spätestens reifte in mir der Entschluss, Lutz Seilers Kruso zu kaufen und in der zweiten Nacht im Rügenblick und anschließend auf der Rückfahrt nach Köln, noch den Stralsunder Wind und das Meer in der Nase, auszulesen. Doch das Buch erwies sich als zu voluminös und gehaltvoll, um mit ihm so rasch zu Ende zu kommen…