Glücksversuche einer „Glücksphilosophin“

Zu Ariadne von Schirachs Buch Glücksversuche: Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen

Will man/frau wissen, auf welch geistigem Unterst-Niveau sich Ariadne von Schirachs jüngstes in Buch gepresstes Gelaber über das Glück bewegt, so genügt ein Blick in Richard Herolds Lobhudelei auf Kulturzeit, ausgestrahlt am 10.1.2022. (https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/sendung-vom-10-januar-2022-100.html)

In seinem Beitrag entblödet sich Richard Herold (RH) zu folgenden Aussagen gewürzt mit Einsprengseln irgendwelcher Zufalls?-Passanten und den Antworten der „Philosophin“ (AS):

RH „Mit dem Glück beschäftigt sich die deutsche Philosophin und Autorin Ariadne von Schirach. Sie kennt sich bestens damit aus, ergründete in einer wöchentlichen Kolumne, was uns glücklich macht. Diese Texte hat sie in ihrem aktuellen Buch zusammengefasst.“

Philosophisches Fragen ist wohl kaum eine nationale Angelegenheit. Insbesondere wird das Glück sich wohl kaum nach nationalen Belangen differenzieren: als deutsches, schweizerisches usw. Glück. Die Dummheit des Attributs deutsch zeigt sich schon darin, dass im Beitrag Passanten mit Schweizer Akzent, also Nicht-Deutsche zu Wort kommen. Zudem könnte die Kennzeichnung deutsch eine Nazi-Nähe suggerieren, die der Autor garantiert nicht intendiert. Damit aber nicht genug der Dummheit.

Eine Philosophin ist für Herold jemand, der sich bestens auskennt, eine Expertin also, im vorliegenden Fall eine Expertin für Glück. Eine Philosophin ist also eine Glücksexpertin. — Ginge es um Mäusezucht, gäbe es nach Herold dem Scharfsinnigen wohl auch Mäusezucht-Philosophen und -Philosophinnen.

Das Zusammentragen von Texten und das Publizieren dieser in Buchform: welch höchst philosophische Tätigkeit, preisverdächtig. Ob dieser Großtat sollte das Philosöphchen für den Ἄξιον ἐστίν 2022 nominiert werden. — Ob von Schirach bei der Textanordnung wohl ähnlich genial vorgegangen ist wie die Macher des Koran? Anordnung der Texte nach Anzahl der Wörter? Der Text mit den meisten Wörtern zuerst, der mit den wenigsten zuletzt? Inhalt: Nebensache. Logische Stringenz: Unwichtig.

AS „Glücklich machen uns Naturerfahrungen und glücklich macht uns inneres Wachstum. All diese Dinge sind nicht konsumierbar, aber sie sind erfahrbar und sind eine belastbare Antwort auf die Frage nach dem Glück und nach dem Sinn. Und Glück erscheint uns dann eher als etwas, das uns zufällt, eine goldene Zeit, eine wunderbare Begegnung, eine Liebesgeschichte und so weiter.“

Was ist das denn, inneres Wachstum? Ein Ding gar? Ein nicht konsumierbares Ding: Was soll das denn sein? Ob Philosöphchen dabei an Descartes gedacht hat (res cogitans vs. res extensa)? Welch Ding-Begriff liegt da zugrunde? Doch ist dies nicht geklärt, kann die Antwort nicht belastbar sein. Schon mal vom Satz vom Grund gehört? Leseempfehlung für Philosöpchen: Heideggers Vorlesungsskript Der Satz vom Grund.

Noch so ein nicht näher erläutertes Ding: die hingeworfene Nominalphrase eine wunderbare Begegnung. Was heißt hier wunderbar? Inwiefern können Begegnungen wunderbar sein?

RH „Also doch alles eher Zufall? Nur bedingt, sagt die Autorin. Glück kann erarbeitet werden.“

Und wie soll diese Arbeit am Glück aussehen?

AS „Die Idee ist, ein zufriedenes Leben zu führen und dadurch das Glück anzulocken. Und ein zufriedenes Leben zu führen bedeutet sich zu kennen, sich anzunehmen, aber auch sich zu erziehen, weil wir selber sind oft unser schlimmster Feind. Und die Suche nach dem Glück beginnt damit, sich selbst ein Freund zu werden.“

Das klingt nach den Weisheiten aus Zeitschriften wie Die Bunte. Trost für die Dummen, die sich mit dem Gelaber anderer zufrieden geben, weil sie zu denkfaul sind, um selbst „die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen“. (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, https://www.marxists.org/deutsch/philosophie/hegel/phaenom/vorrede2.htm) Und so treffen sich denn von Schirachs Leser und ihr Philosöphchen in wundersamer Begegnung selbstverschuldeter Unmündigkeit:

„Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

(Kant, Was ist Aufklärung? https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/159_kant.pdf)

RH „Sich selbst ein Freund sein, klingt gut. Was gehört sonst noch zum Glück? — Das vergängliche Glück, das Glück mit anderen Menschen, das Glück mit sich selbst. Ariadne von Schirach meint mit ihren Glücksversuchen aber nicht Selbstoptimierung, nicht das Ich gegen außen aufpeppen, sondern nach innen schauen und sich in Lebenskunst üben. Dabei denken wir oft, das Glück stehe uns doch zu, als Standardausstattung sozusagen für privilegierte Erste-Welt-Menschen.“

Das Glück mit anderen Menschen? Vor wenigen Tagen kam an einer Kreuzung in der Nähe unserer Wohnung ein 15jähriger auf seinem eben erst zum Geburtstag geschenkten Fahhrad ums Leben, weil er zu unachtsam war und der nach rechts abbiegende LKW-Fahrer nicht aufpasste. Soll das Glück mit anderen Menschen sein? Nach Sophokles vielleicht, dem nach nicht geboren zu werden das Beste, und wenn doch geboren worden, möglichst bald zu sterben das Zweitbeste sei. Oder ist das zynisch? Ob Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft helfen kann?

Das Glück mit sich selbst: Was, bitte schön, soll das denn sein? Ein mit sich selbst identisches Glück? Eine Frage der Evidenz? Erst der nicht vollzogene Rekurs auf den Satz vom Grund, nun eine Anspielung auf den Satz der Identität (A=A). — Immerhin das Eingeständnis, es handle sich um Versuche, Laborarbeit also, mit dem Ziel Nicht Selbstoptimierung. Immerhin: Eine definito ex negativo. Wie hübsch, Annäherung an das, was Glück ist, sprich das Wesen des Glücks durch Ausschlussverfahren. Doch lässt sich das Wesen von etwas, einem Ding gar, überhaupt ex negativo zureichend fassen? — Und dann noch ein wenig Fichte: Das Ich selbst, das sich ein Nicht-Ich entgegen setzt, um sich als Ich zu erkennen? Falls die Antwort ja ist, ist dann zu fragen: Wie, durch welchen Begriff, sind sie vereinigt oder zu vereinigen? Fichtes Anwort:

„Wir haben die entgegengesetzten Ich und Nicht-Ich vereinigt durch den Begriff der Theilbarkeit.“

(Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, http://www.zeno.org/Philosophie/M/Fichte,+Johann+Gottlieb/Grundlage+der+gesammten+Wissenschaftslehre/1.+Grunds%C3%A4tze+der+gesammten+Wissenschaftslehre/%C2%A7+3.+Dritter,+seiner+Form+nach+bedingter+Grundsatz)

Trifft dies auf das Glück zu? Ist Glück teilbar? Das Philosöphchen schweigt dazu. Ist auch besser so. Nur nicht festlegen. Für Blabla kann man/frau nicht belangt werden, für nachgewiesene Dummheit schon: Si tacuisses, philosophus mansisses — hättest du geschwiegen, wärst du Philosoph geblieben (frei nach Boethius).

AS „Leute wie ich zum Beispiel sind in einer sehr privilegierten Position. Ich habe die Zeit, ich habe die Muße, ich habe den Raum darüber nachzudenken, wer ich bin, wer ich sein möchte, wer ich auf keinen Fall sein möchte, doch immer wieder werde und so weiter. Und das ist sozusagen ein Privileg, und Teil dieses Privilegs ist es auch immer daran zu erinnern, dass andere das nicht haben und sich dafür einzusetzen, das zu ändern.“

Schau an, Philosöphchen sieht sich als privilegiert. Und das zu Recht, auf mindestens vierfache Weise: (1) Nichts zustande zu bringen außer Gelaber. (2) Dieses Gelaber dann gedruckt zu bekommen — „Parturient montes, nascetur ridiculus mus“ — Die Berge kreißten und gebaren eine lächerliche Maus (Horaz) – (3) dann dafür bezahlt zu werden. (4) Und zu guter Letzt sogar noch gelobpreist werden! Wenn das nicht wahres, multiples Glück ist. — Selig sind die geistig Armen

RH „Hat die Suche nach dem Glück Selbstverwirklichung, aber heute noch eine Berechtigung angesichts von Klimaschock und Coronakrise?“

AS „Ein Glück beginnt damit, dass wir darüber nachdenken, wie wir uns selbst und den anderen und dem Leben gerecht werden, da liegt genau in der Krise die Notwendigkeit zu überlegen, was uns eigentlich wirklich glücklich macht. Ich kann Ihnen das ganz klar beantworten. Am glücklichsten machen Menschen, menschliche Beziehungen, tiefe menschliche Beziehungen. Das kostet nichts. Das kostet Zeit, das kostet Liebe, aber es kostet kein Geld.“

Doch gegebenfalls die Gesundheit oder das Leben. Tiefe menschliche Beziehungen? Zwischen Folterer und Gefoltertem?, wie sie Doğan Akhanlı in seinem Roman Fasıl beschrieb? Erlebnisse, die sein späteres Leben prägten, auf die er aber gern verzichtet hätte. Von wegen:

RH „Das Glück ist also oft nur den sprichwörtlich einen Schritt entfernt. — Zuletzt noch die Frage an die Glücksphilosophin, was sind Ihre ganz eigenen Glücksmomente?“

AS „Wenn ich mich mit einem Menschen unterhalte und austausche, wenn das Kind morgens zum Kuscheln kommt, wenn ich etwas sehr gutes zum Essen habe, wenn ich ein frisches Buch aufschlage, das ich noch nicht kenne, wenn ich in der Sauna daliege, nachdem ich mich abgekühlt habe, wenn ich das erste Mal das Meer sehe nach einer langen Zeit, beim Anblick erster Schlupf?-Vögel und Pflanzen…“

Die zufällig? befragten Passanten scheinen weiter zu sein als die von Herold zur Glücksphilosophin Gekürte. Denn sie haben erkannt: Glück ist relativ, auf die eigene Person bezogen und wird nur reflexiv bewusst und gewusst. Γνῶθι σεαυτόν – Erkenne dich selbst – lautete einer der auf dem Apollon-Tempel, der Orakelstätte in Delphi in Stein gemeißelten Sprüche.

Fazit: Statt von Schirachs Gewäsch zu konsumieren, seien aufgeklärten Menschen die Weisheiten der Sieben Weisen empfohlen. Deren Sprüche sind kurz, präzise und bedenkenswert — und zudem auch noch als Buch pekuniär wesentlich günstiger erhältlich.

Zeit der Sophisten. Scobel, Eilenberger und Gabriel im Verkaufsförderungskarussell

„Kulturzeit extra: Der philosophische Jahresrückblick 2020“, Kulturzeit vom 18.12.2020

Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Markus Gabriel – Für einen neuen Existentialismus!, SFR, 6.12.2020

Eine Zeit der Krise — wie die Corona-Zeit — ist immer auch eine Zeit der Chance für ansonsten mittelmäßig erfolgreiche Welterklärer, sich als alle anderen Mitbewerber*innen überragende Meister der Krisenbewältigung zu profilieren und d.h. zu inszenieren und: inszeniert zu werden.

Einer der bereits etablierten Inszenierer ist Gerd Scobel. Auf Kulturzeit darf/muss er immer dann ran, wenn die geplante Sendung ein (pseudo-)philosophisches und/oder -wissenschaftliches Niveau erreichen soll/könnte, das über den üblichen Gequake-Level hinaus reicht. So wurde er denn ausersehen, den Kulturzeit-Jahresrückblick zu moderieren. In der Kulturzeit-Sondersendung vom 18.12.2020 erklärte er das Jahr 2020 im Rückblick zu einem Jahr der Philosophie:

„2020. Dürre und verheerende Waldbrände weltweit, der Klimawandel. Dann, zu Beginn des Jahres die Pandemie. Sars-Cov-2 fordert viele Tote. Leergefegt sind die Straßen in den Hauptstädten der Welt. Schwere Zeiten, aber einen schönen guten Abend, meine Damen und Herren bei Kulturzeit. Hegel, dessen 250. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wurde, definiert die Philosophie als ein Erfassen der Zeit in Gedanken. Reicht Ihnen das? Auch Bilder und Symbole müssen ja eingefangen und interpretiert werden. Und, dann zunehmend nicht nur Gedanken, sondern vor allem auch Daten. Um unsere Gegenwart philosophisch zu erfassen, ist heute anderes und mehr nötig als damals.

[an auszuwertendem Material vielleicht; sicherlich aber nicht an gedanklicher Arbeit — oder sind wir in der Zwischenzeit, ohne es zu merken, zu Übermenschen mutiert, die mehr vermögen als nur die Anstrengung des Begriffs?]

Für uns ein Grund, bei Kulturzeit heute statt eines klassischen Jahresrückblicks zu versuchen, unsere Gegenwart unter heutigen Bedingungen philosophisch zu bestimmen. Warum philosophisch? Weil in diesem Jahr Philosophie vielleicht das erste Mal seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle spielte, als es darum ging, die Gegenwart nicht nur zu verstehen, sondern auch Gesellschaft und Politik gut zu steuern.

[Welch Plädoyer für die Re-Etablierung politischer Philosophie in praxi! Daran ist bekanntlich schon Politik-Berater Platon voll gescheitert…]

Philosophie gehört nach wie vor als ein zentrales Element zum umfassenden Prozess der Aufklärung, über die wir in dieser Sendung noch zu sprechen haben nicht nur mit Blick auf Trump oder das Klima. Allerdings reicht es nicht, sich mit der Rolle der kritischen Prüfung althergebrachter Paradigmen zu begnügen. Wie Anna Riek zeigt, muss es auch darum gehen, dem, was marode ist, neue zukunftsbezogene Narrative entgegenzusetzen.“

Im Anschluss an den Beitrag Rieks dann gab Scobel dem neuen TV-Philosophen-Stern Wolfram Eilenberger Gelegenheit, seine Weisheiten kundzutun. So wie zuvor Prechts begann auch Eilenbergers Karriere damit, nicht nur einen, sondern gleich zwei Bestseller gelandet zu haben. Quantität = Qualität lautet die Devise der nivellierten Bildungsgesellschaft, sprich: wer viel verkauft, muss viel zu sagen haben. Der muss ins Fernsehen!

ScobeI leitete denn das Gespräch mit Eilenberger auch wie folgt ein:

„Im Studio begrüße ich jetzt den Philosophen, Schriftsteller und Publizisten Wolfram Eilenberger, ehemals Chefredakteur des Philosophiemagazins und Autor der beiden Bestseller Zeit der Zauberer und Feuer der Freiheit.“

Selbstredend waren die beiden Super-Bücher auch so positioniert, dass man/frau sie wie auf einem Verkaufsstand während des ganzen Interviews vor das Gesicht gesetzt bekam: eine indirekt und doch plump ausgesprochene Kaufempfehlung.

Die anschließende Unterhaltung unter Freunden – Eilenberger wurde geduzt – entwickelte sich dann auf erwartet dürftigem TV-Verkaufsförderung-Niveau: Weitere potentielle Käufer*innen sollen ja zum Kauf ermuntert und nicht abgeschreckt werden:

G.S. „Wolfram, bei allem Negativen war in meinen Augen dieses Jahr ein Jahr der Philosophie. Kant hätte möglicherweise gesagt, das war ein Ereignis. Teilst Du diese Ansicht? Und warum, glaubst du, wenn ‘s so ist, dass Philosophie wieder so gefragt ist?“

W.E. „Ich denke, es ist ein Jahr, das uns allen sehr zu denken gegeben hat, weil tiefe Störungen in unserem Weltverhältnis uns ermöglichen, grundlegende Fragen zu stellen, auch die ganze Komplexität unserer Lebenswelt wieder in den Blick zu geraten und, ja, ich denke, 2020 war in diesem Sinne ein Jahr, das uns zu denken gab, zu philosophieren gab und vielleicht nach 1989 das wichtigste Schwellenjahr meiner Generation.“

G.S. „Was macht denn Philosophie anders als beispielsweise die Wissenschaften?“

W.E. „Na, die Philosophie hat erst mal keine eigenen Experimente. Sie stellt auch keine Tatsachen im eigentlichen Sinne fest. Sie generiert sie auch nicht neu. Ich glaube, die Kunst der Philosophie besteht darin, Klarheit durch begriffliche Analyse zu schaffen, uns von Kernillusionen unseres Daseins zu befreien, damit wir eine klarere Sicht auf die Welt, auf die anderen Menschen und uns selbst bekommen.“

Ca. zwei Wochen vor diesem Auftritt in der Kulturzeit, am 6.12.2020, wurde Eilenberger im SRF sogar die Ehre zuteil, einen weiteren Superstar der TV-Philosophenzunft, den Universitätsprofessor Markus Gabriel zu interviewen.

In seiner Anmoderation stellte er Gabriel als den Guru

„einer radikal neuen Philosophie, die unsere Kultur von ihren tiefsten, ja todbringenden Irrtümern heilen will“, 

vor. Schleimerischer geht‘ s kaum noch.

Und was sind diese Irrtümer, von denen uns Gabriel – in Eilenbergers Schleimerei-Gequake

„einer der aufregendsten Denker unserer Zeit“

– durch „Intervention in den Zeitgeist“ (Gabriel) befreien will? — Es sind vornehmlich die folgenden drei Geißeln, die von Gabriel mit den Schlagwörtern Physikalismus, Neurozentrismus und moralischer Nihilismus tituliert werden.

Dass diese Erkenntnis Gabriels entgegen der Eigen- und Fremdstilisierung nicht allzu revolutionär sein kann, zeigt schon der Fakt, dass eine andere TV-Größe jüngst über die Unberechenbarkeit des Lebens schwadronierte. TV-Vorzeigewissenschaftler Harald Lesch veröffentlichte mit Thomas Schwartz (nebst Zuarbeiter Simon Biallowons) das in quantitativer wie qualitativer Hinsicht recht dünn ausgefallene Büchlein Unberechenbar.

Auch die Autoren von Unberechenbar, Das Leben ist mehr als eine Gleichung, plädieren für eine Entmystifizierung des Glaubens an die Berechenbarkeit von allem mittels der „Prinzipien, die der Physik und der Mathematik zugrunde liegen“. (12) Freilich geht ihre Kritik nicht so weit, das Wissenschaftsparadigma per se infrage zu stellen: schließlich leben sie — und das recht gut — von der Wissenschaft im universitären Wissenschaftsbetrieb.

Indem sie das „Anything goes unserer Zeit“ (117) verurteilen, prangern sie zudem auch „die scheinbare Entgrenzung des Lebens und der Moral“ und damit den moralischen Nihilismus an. (eb.)

Wo also ist das radikal Neue, das Gabriel für seinen Entwurf in Anspruch nimmt? Es existiert schlichtweg nicht! Alles nur sophistisches Geplänkel: Verkaufsrhetorik…

Konkurrenz belebt das Geschäft,

Pseudo-Konkurrenz erst recht!

Niklas Maaks Kritik an „Technophoria“

Andreas Krieger, Künstliches Meer in der Sahara und vollvernetzte Städte, ttt, 19.7.2020

Laut Andreas Krieger „erzählt“ Niklas Maaks Roman

„Technophoria“ […] vom ewigen, sinnlosen Traum der Herrscher, die Erde nach ihrem Wunsch zu formen und die Schwachen zu unterwerfen. Die Herrscher: sind vielleicht bald die Maschinen. Die Diener: wären dann wir.“

Leider ist der Roman – als Roman! – konzeptionell wenig überzeugend. Das Pro und Contra der Technik-Phorie und ihrer machenschaftlichen Umsetzung wird nicht in eine stringente Handlung überführt. Zudem sind die Roman-Charaktere wenig detailliert und nicht authentisch ausgestaltet.

Das ist schade: Denn Maak zählt zu denen, die über KI – insbesondere in ihrer smarten Spielart – nicht nur schwafeln, sondern intensiv nachdenken.

In Kriegers Beitrag (für ttt) sind folgende 5 höchst bedenkenswerte Zitatblöcke Maaks eingewebt:

I – Ziel smarter Technologie, allgemein

„Das Ziel der ganzen smarten Technologien ist das, dass man dem Menschen, wenn man es freundlich macht, seine Wünsche von den Augen abliest oder aus den Gedanken abliest. Unfreundlicher oder realistischer müsste man sagen, das Ziel ist, ihn komplett vorausberechenbar zu machen. Die Internetkonzerne wollen schon wissen, was wir übermorgen wollen, ja, und erzählen uns dann auch, was wir wollen. Das heißt: der Preis dieser ganzen Komfort- und Sicherheitstechnologien ist, dass wir in unseren freien Entscheidungen immer mehr geändert werden.“

II – Umbau der Städte zu smart cities

„Der Umbau all unserer Städte in smart cities ist eigentlich das größte ökonomische Programm seit Erfindung des Kapitalismus. Man kann sagen: am Ende als dessen, was sozusagen der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, Industriekapitalismus ökologisch angerichtet hat, kommt jetzt der ökologische Umbau der Städte, wo alles rausgerissen wird aus den Städten, was da verbaut wurde, von Fassaden, Dämmungen, Straßen, Autos: Alles was in den letzten hundert bis zweihundert Jahren darein gesteckt wurde, muss raus und wird ersetzt durch eine Palette von neuen Produkten. Das ist natürlich ein absurd großer Markt.“

III – Überlegungen zur Flutung der Kattarasenke

Krieger: „Achtzig Kilometer von der Mittelmeerküste liegt in der Sahara die Kattarasenke mit dem tiefsten Punkt Afrikas von minus hunderteinunddreißig Meter.“

Maak: „Und die Idee war immer, dass man diesen kleinen, gar nicht großen Weg überbrücken kann. Dann fließt aus dem Mittelmeer das Meer in die Kattarasenke rein. Kattara ist sicherlich eins der großen Weltumbauprojekte gewesen [!] mit enormem Potenzial. Wenn man sich vorstellt, wenn es klappt, [!] hat man da ein Meer, an dem Städte gebaut werden können, Handel getrieben werden kann, eine ökologische Industrie entstehen kann, weil man mit Wasserenergie diese Industrien speisen kann. Das ist ein enormes Potenzial. Wenn es schief geht – es gibt auch Skeptiker, die sagen, dann gerät das gesamte meteorologische Gleichgewicht auseinander; und diese Wolken ziehen vielleicht gar nicht über die Sahara, wo sie segensreiche Wirkung entfalten könnten, sondern sie ziehen nach Europa. Dann haben wir in Europa für die nächsten sechshundert Jahre eine Dauerregenzeit.“

IV – Begegnung mit dem Gorilla: eine Intervention

„Der Mensch geht in den Dschungel und trifft den Gorilla und ist ganz gerührt, weil er glaubt, er hat die ganze Welt zum Guten repariert, ja, und plötzlich sieht er aber, das ist gar kein archaisches Paradies. Der Gorilla ist nicht mehr das unberührte Tier, von dem er geträumt hat. Der Gorilla ist selber jetzt neugierig und verändert sich auf eine Weise, die der Mensch nicht kontrollieren kann. Also schon wieder läuft er in dem Moment, wo er glaubt, jetzt haben wir ‘s geschafft, in eine Situation rein, wo alles sich radikal verändert, und er kann ‘s nicht mehr kontrollieren.“

V – Inkorporation in smarte Welt(en)

„Ja, man kann sagen, dass uns die Roboter und die Computer immer nähergekommen sind, dass wir erst den Computer als ein Gegenüber wahrgenommen haben. Dann war plötzlich an unserer Hand in Form eines Mobiltelefons, einer smart watch. Dann wurde es schon Teil des Körpers und fraß Teile des Körpers an. Und plötzlich müssen wir feststellen: wir sitzen im Roboter. Wir sind vom Roboter aufgefressen worden. Wir sitzen in Häusern, die Roboter sind. Wir sitzen in Autos, die uns in all unserem Handeln überwachen. Das heißt: wir sind in der unangenehmen und unkomfortablen Situation, dass die sogenannten smart homes, smart cities, die uns ja dienen sollen und unser Leben einfacher und bequemer und sicherer machen sollen eigentlich Geräte sind, ja, dramatisch könnte man sagen: Monster, die uns verschluckt haben. Wir sitzen drin, und jetzt wird‘s schwierig, einen Ausgang zu finden.“

Maaks Befund ist konsequent dystopisch, aber so: dass er auch Gedanken-Spielräume für die Entwicklung von Gegenszenarien zulässt und einfordert. Denn noch sind die Prozesse nicht unumkehrbar und die Freiheit unseres Willens ist noch nicht perdu…

Doch wie gesagt: In seinem Roman gelingt es Maak leider nicht, sein Vorhaben clare et distincte auszuführen. Schade!!

— Selbst, wenn wir wollten, wir können uns der Sorge gar nicht entziehen. Nutzen wir dies, unser (existenzialontologisches) eigenstes Potenzial!!

ttt-Philosoph Precht doziert über den Sinn des Lebens

Richard David Precht, Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens, ttt, 21.6.2020

Anlässlich seiner neuesten Großtat, ein Buch über den Sinn des Lebens veröffentlicht zu haben, durfte Star-Philosöphchen Richard David Precht mal wieder seine quak-quak-Weisheiten einem sich als ach so erlaucht und Kultur-affin gerierenden Fernsehpublikum kundtun. Um dieses zum Kauf zu animieren, also es einerseits nicht zu überfordern und andererseits dessen Vorfreude-Appetit in die Länge zu ziehen, wurde der Prechtsche Vortrag in sechs Häppchen gestreckt serviert.

Kanapee 1

„Wir haben es mit zwei Linien zu tun. Die eine Linie ist: wir machen unser kapitalistisches System so weiter wie es bisher ist, also Super- und Turbokapitalismus-extensives Wachstum. Dann wird es dazu führen, dass wir in einer sehr überschaubaren Zeit die Erde restlos zerstört haben.

Welch grandios neue Erkenntnis!

Die andere Variante ist, wir schaffen es, den Menschen so zu verändern, dass er auf die Erde nicht mehr wie im bisherigen Maß angewiesen ist. Das heißt wir schaffen einen Übermenschen.

Wie? à la Nietzsche? — Wohl nicht, eher als: Nach-Mensch…

Das ist, was im Silicon Valley viele Leute beseelt. Es gibt viele große IT-Gurus im Silicon Valley, die genau das wollen: dass wir keine biologischen Lebewesen mehr sind, sondern dass wir unsere Intelligenz, unser Bewusstsein in Silizium pressen und dass wir auf alternativen Datenträgern überleben können.“

Cui bono? — Was aber, bittschön, hätten denn all die Silicon Valley-Unternehmen davon? Silizium, das von anderem Silizium Daten kauft? Wozu? Womit? — Welch absurdes Gefasel…

Kanapee 2

„Der große Treiber der digitalen Revolution ist es, noch in jene Bereiche vorzudringen, in die der Kapitalismus bislang nicht hat vordringen können. Das ist zum ersten die feine Unterwäsche des Bewusstseins mit Sensoren auf der Haut, Emotionen zu erforschen und dann sofort immer zu wissen, was jemand fühlt, was jemand denkt, um ihn mit allen erdenklichen Produkten voll zu knallen und versuchen an den Mann und die Frau zu bringen. Das ist im Moment der Haupttreiber der gesamten Entwicklung. Und dieser Treiber geht auf Expansion: auf mehr Konsum, auf mehr Verbrauch und so weiter. Das heißt, wir machen im Augenblick überhaupt keinen sinnvollen Gebrauch zum großen Teil von Künstlicher Intelligenz, sondern in weiten Bereichen weiterhin begehen wir Ressourcen-Raubbau.“

Wissen wir. Wo aber ist der Mehrwert der von Precht verkauften Weisheit? — Fehlanzeige.

Kanapee 3

„Wenn es aber irgendwann soweit ist, dass die Einstellung in eine Firma abhängig ist von der Expertise Künstlicher Intelligenz, wenn ich die Frage, ob ein Strafgefangener begnadigt wird, abhängig mache von dem, was eine Maschine errechnet, wie hoch die statistische Wahrscheinlichkeit ist, dass er wieder straffällig wird, wenn ich in eine Welt gehe, in der tatsächlich Roboterautos herumfahren, die nach „lebenswert“ die Menschen einschätzen, dann lebe ich tatsächlich in einer Welt, in der Freiheit sehr viel geringer ist als sie jetzt ist. Und ich denke, wir sollten dafür kämpfen, dass es zu einer solchen Welt nicht kommt.“

Richtig. Doch das ist unbestritten. Wozu also (nochmals) ausplaudern?

Kanapee 4

„Künstliche Intelligenz ist im weitesten Sinne vielleicht intelligent. Sie verfügt eigentlich überhaupt nicht über Verstand und nicht entfernt über Vernunft, und damit unterscheidet sie sich von menschlicher Intelligenz gravierend.

Ja, ist KI nun intelligent oder nicht? Und wenn ja, inwiefern?

Was sie unterscheidet ist, dass sie zu sich „ich“ sagt. Nur weil der Mensch emotional ist, sagt er zu sich ich. Das ist keine Intelligenzleistung, das ist eine ganz, ganz tief verwobene emotionale Leistung.

Ja, aber was ist dann Intelligenz überhaupt?

Wir haben ein Ich-Zentrum quasi, ein gefühltes ich-Zentrum. Das ist ein ganz großer Unterschied. Ein weiterer Unterschied ist, dass Menschen leben nicht so gerne in der Gegenwart.

Wenn dem so ist: Warum hängen wir dann so sehr an unserem Leben? Warum sorgen wir uns ständig, jeden einzelnen Augenblick? Warum haben wir Angst? insbesondere vor dem Tod?* —

Nur Islamisten (und ähnlich Ver-rückte) träumen vom Jenseits, vom Paradies: 72 Jungfrauen, die nach Gebrauch augenblicklich (!) wieder zu Jungfrauen werden. Welch großartig göttliche Perspektive…

Das unterscheidet uns völlig von künstlicher Intelligenz. Den größten Teil des Tages hängen wir Erinnerungen nach, machen uns Gedanken, was wir morgen machen, was wir in der Zukunft sein wird und so weiter.

Ja, aber Zukunft und Vergangenheit sind nur (je im Augen-blick) gewärtigend erschlossen, wobei „Existieren im wie immer entworfenen Sein-können primär zukünftig“ ist. (Heidegger, Sein und Zeit, §68a, Abschn. 5, S. 337)

Und weil wir so sind, sind wir auch fiktionsbedürftig. Menschen haben ein großes Interesse, gar nicht im Hier und Jetzt zu sein, sondern woanders zu sein. Und wenn man diese ganzen Aspekte des Ich, die Fiktionsbedürftigkeit, die Emotionalität sieht, dann kommt ein unglaublich faszinierendes Lebewesen am Ende dabei raus. Und damit verglichen ist Künstliche Intelligenz wirklich eine sehr, sehr bescheidene, auf ihre Art und Weise großartige Leistung,

Bescheiden, sprich gering / klein, und doch großartig: wie soll das zusammengehen?

aber doch nicht ansatzweise mit der menschlichen Leistung, all diese verschiedenen Impulse miteinander zusammen zu bringen und sowas hervorzubringen wie Glück oder wie Sinn überhaupt nicht vergleichbar.“

Als ein Anwärter auf einen Philosophie-Lehrstuhl einst seine Bewerbungsunterlagen vorlegte, studierte ein Berufungskommission-Mitglied dessen Publikationsliste, sah unter der Rubrik Bücher den Eintrag „Vom Sinn des Lebens“ und kommentierte süffisant: „Den wüsste ich auch gern.“ — Akademische Selbst-Diskreditierung pur.

Kanapee 5

„Das entscheidende am Menschen ist, dass menschlicher Wille von seiner Leiblichkeit ausgeht, und da die Roboter in dem Sinne keine physische Leiblichkeit haben, haben sie auch keinen Willen. Auch die Notwendigkeit eines solchen Willens besteht überhaupt nicht. Es ist ja tatsächlich so, dass der Mensch von seinem Willen gesteuert wird und nicht von seiner Intelligenz. Also von David Hume haben wir die wichtige Erkenntnis, dass die Willensimpulse letztlich darüber entscheiden, was wir tun, und dass der Verstand so etwas ist wie eine Marketingabteilung, die im Nachhinein legitimiert, was die Gefühle vorher entschieden haben.“

Statt Neues zu bieten, also Rückgriff auf Alt-Hergebrachtes, Hume…

Kanapee 6

„Also auf der einen Seite ist es nachvollziehbar, dass der Mensch sich qua Technik aus der brutalen Willkürherrschaft der Natur befreien wollte. Er hat aber den Fehler gemacht, sich der Natur so entgegenzusetzen, als hätte er mit ihr nichts mehr zu tun, als sei er eben das andere der Natur. Und das ist natürlich in der ökologischen Katastrophenzeit, in der wir leben und die auf uns zukommt,

Wieder mal Prechtsche coincidentia oppositorum, nur dass die Aufhebung ausbleibt…

ist das natürlich grundfalsches Denken. Wir müssen wieder lernen, dass wir ein Teil der Natur sind. Und wir müssen lernen, dass wir nicht näher mit Maschinen verwandt sind als mit der Natur, sondern dass wir in der Natur auch dann einbehalten sind, wenn wir über vielerlei technische Möglichkeiten verfügen. Und ich glaube, dieser neue Blick, und selbst wieder als Teil der Natur zu sehen, ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass wir diesen Planeten tatsächlich noch retten können.“

Auch das: nichts Neues.

Summa summarum: 6 neue Prechtsche Kanapees: wie immer adrett aufgebacken und süß verpackt, aber — nach Reinbeißen extrem inhaltsleer und fad.

(Ganz anders: Das Interview von Gert Scobel mit Björn Schuller über (angewandte) KI in der Corona-App auf Kulturzeit, 15.6.2020: präzise Fragen von Scobel, detaillierte und (wissenschaftlich/technisch) präzise Antworten von Schuller)

*Für Heidegger ist der Tod in die Daseins-Hermeneutik miteinzubeziehen (s. v. Herrmann, Transzendenz und Ereignis…, Würzburg 2019, S. 59), nicht aber das Nach-Tod-sein…

Zum Begriff ‚Geister‘ bei Hölderlin – Kritik von Otts „Hölderlins Geister“

Karl-Heinz Ott, Hölderlins Geister, München 2019

Michael Köhlmeier, Das große Sagenbuch des klassischen Altertums, München, 202019

I

Karl-Heinz Otts Buch, eine der Neuerscheinungen zu Hölderlins 250. Geburtstag, setzt sich zum Ziel, Hölderlins Geister zu benennen und wohl auch zu deuten. Einige Seiten vor dem Schluss seines Buchs schreibt Ott:

„Ums Deuten kommt man nicht herum, es geschieht von allein. Jedes Lesen setzt Assoziationen frei; wir haben sie nicht im Griff, sie schweifen in tausenderlei Richtungen.“ (230)

Diesem Konzeptionsprinzip des Aus- und Abschweifens entsprechend ist Otts Buch aufgebaut. Er kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, aufs Blättchen… Alles in steter Bewegung, ohne Halt, zerschwafelt und zerfaselt; und am Ende bleibt dem Leser nur ein Chaosbrei aus Zitaten, von Rück-, Vor- und Querverweisen, Anspielungen und Deutungsanrissen. Ein Gewoge, hin und her, ohne erkennbaren Faden.

II

Der Titel „Hölderlins Geister“ bereits ist schlecht gewählt. Denn er erinnert fatal an Goethes Gedicht „Zauberlehrling“, in dem es heißt:

„Die ich rief, die Geister,

Werd‘ ich nun nicht los.“

Geht es Ott doch nicht um das Anrufen von Geistern zu einem bestimmten Zauberzweck. Die Auseinandersetzung mit den Geistern erfolgt unter anderen, gleichwohl vagen, in der Schwebe gehalten Rücksichten.

III

Hier (einige) Geister-Stellen aus Otts Buch (ohne Gewähr auf Vollständigkeit) – zunächst geordnet nach dem Fortlauf des Buchs:

  • „die große Gleichheit der Geister […] in Freiheit. Monotheismus und Polytheismus sollen sich nicht nur vertragen, sie sollen eins sein.“ (18)
  • In Hölderlins „vereinigungsseligen Kosmos […] beflügelt sein Weingott die Geister, doch stets mit heiligem Ernst. Von Delirien keine Spur, von Barbarei schon zweimal nicht.“ (37)
  • Wieland stellt fest, dass die Einbildungskräfte sprießen wie selten zuvor, aller Aufklärung zum Trotz. Man sehnt sich nach Geistern und nach Phänomenen, die alle Vernunft übersteigen.“ (51)
  • „Liberale Geister kennen keine männliche Standhaftigkeit, sie schwanken und wanken. Baeumler verabscheut den Liberalismus als weibische Kultur.“ (76)
  • „Von nichts ist bei Hölderlin mehr die Rede als von der Einigkeit und Gleichheit der Geister, nach nichts sehnt er sich mehr.“ (162)
  • Hölderlin im Hyperion: „Von Kinderharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein.“ (179)
  • Hölderlin im Gedicht Hymne an die Jugend: „In der Jugend Strahlen sonnen / Ewig alle Geister sich.“ (223)
  • Der letzte Absatz des Buchs lautet: „Ein bisschen steht um die alte Burse herum noch immer die Zeit still, nicht nur bei Nacht. Hört man Schritte hallen durch die Stille, hört man auch noch anderes. […] Es sind Geister, die nichts von Geistern an sich haben. Gespenster ohne Gespenstisches. Anwesenheit könnte man dazu sagen. Anwesenheit aus naher Ferne, von was auch immer.“ (236)

IV

Diese acht Aussagen ließen sich ex post wie folgt ordnen:

In der Auseinandersetzung mit und gegen Kant entstehe, so Ott, ein neues Bedürfnis nach Metaphysik, nach dem, was die Vernunft übersteigt. (3) Diesem Zeitgeist entsprechend habe Hölderlin seine Einbildungskräfte darauf konzentriert, einen jenseitigen Kosmos der Geister zu entwerfen. Dieser neu, besser: erneut zu schaffende Kosmos der Geister sei bei Hölderlin, so Ott, durch Anwendung der Gestaltungsprinzipien von Einigkeit und Gleichheit zu erreichen. (5) Dies setze – wider das Christentum – die Einheit von Monotheismus und Polytheismus voraus. (1) Diese Einheit wiederum könne aber nur durch den Weingott, sprich Dionysos, gestiftet werden. (2) Sobald durch ihn die Einheit verwirklicht worden sei, wäre die Harmonie der Geister geschaffen, die den Anfang einer neuen Weltgeschichte einleitete. (6) Doch nur jugendliche Dichter vermöchten es, einen solchen Kosmos der Geister zu entwerfen. (7) — Doch was die Geister letztlich sind, bleibt bei Ott offen, (8) außer dass sie – politisch vereinnahmt – (nicht bräunlich, sondern) liberal seien (4):

„Die späten Hymnen […, so Ott] weisen tatsächlich ins Offene“ (227)

So endet das Buch, wie es begann: in geisterhaftem Spuk. Erkenntnisgewinn? Fehlanzeige; auch nach 236 Seiten ermüdendem Lesen nicht auszumachen.

V

Dabei gäbe es durchaus Ansatzpunkte der Bestimmung des Begriffs Geister, auf die Ott jedoch mit keinem Wort näher eingeht:

  • Die Vereinnahmung von Christus als letzten der griechischen Götter bei Hölderlin: Dazu gibt es reichlich Literatur. Insbesondere die Parallelen zwischen Christus und Dionysos sind reichlich diskutiert. Doch von Ott kein Wort dazu.
  • Der Große Pan ist tot“, heißt es (auch) bei Ott. (18) Stimmt. Gott Pan war der erste der griechischen Götter, die starben. (Er stank so sehr nach Ziege, dass die anderen Götter sich weigerten, ihn mitzunehmen, wenn sie auszogen, um von den Kräutern zu essen, die unsterblich machen. Und da er kein Unsterblichkeit erhaltendes Kraut mehr bekam: Pech gehabt.) Der letzte war Dionysos: „die Erlöserfigur in der griechischen Mythologie“. (Köhlmeier, 601)
  • Doch Dionysos wurde, laut Hölderlin, wiedergeboren in Christus, wie auch Ott behauptet. (164) Doch inwiefern? Auch dazu findet sich bei Ott kein Wörtchen. Kein Wörtchen zu den Evangelisten und dem Nachhall der altgriechischen Tradition in ihren Schriften… Kein Wort zum Bezug von Mythos und Logos.
  • Kein Hinweis auf das Zitat, mit dem Hegel seine Phänomenologie des Geistes schließt: „aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm [dem absoluten Geist] seine Unendlichkeit“. Hegel zitiert hier die Schlusszeilen eines Gedichts (ohne Titel) aus Schillers Philosophischen Briefen, das im Abschnitt Gott steht, mit dem die Briefe schließen:

„Freundlos war der große Weltenmeister,

fühlte Mangel, darum schuf er Geister,

sel’ge Spiegel seiner Seligkeit.

Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,

aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches

schäumt ihm die Unendlichkeit.“

  • Auch in den Räubern finden sich mehrere Stellen, die auf Hölderlin (vor)verweisen, z.B. der Ausdruck Harmonie der Geister. (Erster Akt, erste Szene) Doch Ott geht auf Ähnlichkeiten und Differenzen der Begriffswelt / Metaphorologie (Blumenberg) zwischen Hölderlin und seinen Jugendfreunden Hegel und Schelling ebenso wenig ein wie auf die zwischen Hölderlin und Schiller (von dem Hölderlin sich Unterstützung für das Publizieren seiner eigenen Gedichte erhoffte und dessen Werke er daher sehr genau studiert haben dürfte).
  • Besonders disqualifizierend ist folgende Aussage: „Im Übrigen wissen die Griechen noch nicht, dass es sich bei Dionysos und Apoll um ein klassisches Gegensatzpaar handelt. Das ist Nietzsches Erfindung.“ (36) Welch Blödsinn! Es war Gottvater Zeus selbst, der seine beiden Söhne, Dionysos und Apoll, zu den Herren über Delphi bestimmte. (Von Frühling bis Herbst herrschte Apoll und im Winter Dionysos.) Apoll war es, der sich im und über das Orakel offenbarte. Dionysos offenbarte nicht; er wirkte im Verborgenen, im Dunkeln. Nietzsches Erfindung bestand einzig darin, die beiden Wirkmächte des Verbergens und Entbergens der Natur und ihrer Geschöpfe auf die Welt der Kunst zu übertragen. Noch einmal Köhlmeier:

„Apoll und Dionysos verstanden sich wider Erwarten sehr gut. Warum? Weil sie sich ergänzten zu einem. Und das war die allergrößte Gefahr, die dem Zeus drohte, das hat er wohl nicht vorausgesehen. Nämlich zusammen – Apoll und Dionysos, dass Apollinische und das Dionysische –, zusammen waren sie unschlagbar.

Gemeinsam drängten sie den ganzen großen Götterhimmel schließlich zurück. Und in ihrer Verschmelzung gaben sie einer neuen, einer ungeheuer mächtigen Gottgestalt Charakter – nämlich Jesus Christus.“ (614f.)

VI

Wie heißt es bei Hölderlins Odendichter-Vorbild Pindar über die verschwatzten Gelehrten, über die sich sowohl vorher als auch danach Meister der Sprache (sehr hübsch die Xenien von Goethe und Schiller) ebenfalls köstlichst zu amüsieren wussten, so schön:

             μαθόντες δὲ λάβροι

παγγλωσσίᾳ κόρακες ὢς ἄκραντα γαρυέτων

Διὸς πρὸς ὄρνιχα θεῖον·

ihr Allwissen sei nur Krähengekrächze angesichts des göttlichen Vogels des Zeus. (2. Olymp. Ode, Vers 87ff.)

Ade, Walter Lübcke


Boris Naumann u. Peter Ketteritzsch, Flüchtlingsdebatte in Lohfelden: Lübcke ließ sich provozieren, HNA online, 17.10.2015

Douglas Murray, Der Selbstmord Europas. Immigration, Identität, Islam. Aus dem Englischen von Krisztina Koenen, München, 52019

Also sprach der am 2. Juni 2019 (mutmaßlich von einem Nazi) ermordete Regierungspräsident und Merkelianer ade Dr. Walter Lübcke (CDU) am 14.10.2015 zum rein hypothetischen, von rechts unterstellten „Bevölkerungsaustausch“, der von links selbstredend gar nie –, ja, gar nie nie nicht angedacht war, ist und sein wird.

Douglas Murray schreibt über die genannte Oktober-Veranstaltung:

„Im Oktober gab es eine öffentliche Versammlung in Kassel. 800 Migranten sollten dort in den folgenden Tagen ankommen, und besorgte Bürger trafen sich, um den Verantwortlichen Fragen zu stellen. Wie die Videoaufnahme des Treffens zeigt, waren die Bürger ruhig, höflich, aber besorgt. Und dann erklärt ihnen der Regierungspräsident Walter Lübcke ganz ruhig“: (342)

Originalsprech Lübcke:

„Es lohnt sich, in unserem Land zu leben.

Stimmt. Bis Herbst 2015 zumindest…

Da muss man für Werte eintreten,

Ja, hoffentlich. Unbedingt.

Doch welche denn? Und wer setzt diese? Wer bestimmt denn über gut und böse? Mutti? Gott Lübcke? Gott Staat? Platon? — Aristophanes hätte ob solch Gefasels seine helle Freude: Stoff für eine weitere bitter-böse Komödie: Lübckes letzte Reise…

und wer diese Werte nicht vertritt,

Ja? Wer sind die denn? Gibt ’s die denn? Kennen wir die? So durchweg böse Onkels? Max und Moritz? Der oder die Herren des Hades?, der Hölle? — Hm, hm…??

Ohh…

Ja, jetzt fällt’s mir ein.

Klar! Das müssen die AfDler sein. Genau! Diese Schweine, aber auch! Dieses rechte Dreckspack! Verflucht soll’n sie sein auf ewig! Wiedergänger des oder wie des ewigen Juden. Wer weiß das schon?.

kann jederzeit das Land verlassen,

Stimmt: kann, nicht muss.

Nix: Führer Lübcke befiehl, wir folgen dir!

Müssen muss man/frau nur den Tod (bekanntlich). Und der kommt, wann er will. — Nicht wahr, Herr Lübcke?

wenn er nicht einverstanden ist.

Stimmt.

Ist klar.

Stell dir vor, Lübcke: ich mach’s sogar — wahrscheinlich, vielleicht, wer weiß:

Doch ganz gewiss nicht dir zur Freude, Lübcke.

Lebt denn wohl, ihr ḏimmī, ihr Steuerzahler! Den Flüchtlingen und ihren Anbetern zu unbeschränktem Gefallen. Ἄξιόν ἐστιν. Verreckt doch an eurer grenzenlosen, arschkriecherischen Dummheit! Denn:

Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“

Murray kommentiert die Reaktion des Publikums wie folgt:

„Man hört auf der Aufnahme, wie die Leute laut Atem holen, entsetzt lachen, rufen und schließlich vor Wut schreien“. (342f)

Doch statt zu toben, sollte man/frau den Froschgesängler vielmehr loben:

„Jawohl! —

„Toll, deine Weisheit, Sophist.

„Ganz großartig, dieser dein mit evoziert-subtiler hegelscher Ansatz.

       Der Spruch des Lübcke:

„nochmal sei’s gesagt: einfach toll und absolut großartig:

„Sprich, oh Gutmensch-Volk: Das Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes ist nah. Halleluja!

       Absolut. Das Vorlaufen in den Tod. (Heidegger) Ἄξιόν ἐστιν.

          War doch eigentlich gar nicht so dumm, der Lübcke. —

                             Genutzt hat’s ihm – letztlich – freilich herzlich wenig…

Zum Schluss nochmals Murray:

„Eine ganz neue Bevölkerung wird in ihr Land gebracht, und dann sagt man ihnen [den Leuten], wenn ihnen das nicht gefalle, könnten sie jederzeit gehen? Begreifen die Politiker wirklich nicht, was geschehen kann, wenn sie europäische Bürger so behandeln?

[Und er antwortet sich selbst:]

Offensichtlich nicht.“  (343)

 

Anmerkungen zu Schätzings (Angst vor der) ‚Tyrannei des Schmetterlings‘

Frank Schätzing, Die Tyrannei des Schmetterlings, Köln, 52018

Frank Schätzing, „Die Tyrannei des Schmetterlings“, Frank Schätzing „Die Tyrannei des Schmetterlings“, Titel, Thesen, Temperamente (ttt), 8.5.2018

Anne Haeming, Auf die Listen, fertig, los, SPIEGEL online, 31.12.2018

Thomas Assheuer, Denken ist keine Sünde, ZEIT, 3.1.2019, S. 42

Bernd Roeck (im Gespräch mit Alexander Cammann), »Wir sind die Erben der Renaissance«, ZEIT, 3.1.2019, S. 43

Michel Lüders, Armageddon im Orient, München, 2018

Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos, Stuttgart, 21975

Ruprecht Frieling, Die Tyrannei des Schmetterlings by Frank Schätzing, Literaturzeitschrift online,

Alard von Kittlitz, Besser als ein zähes Entrecôte, ZEIT online, 2.5.2018

Peter Körte, Das Gespenst in der Maschine, FAZ online, 22.4.2018

Francis Fukuyama: „Identität“, Kulturzeit (3sat.de), 4.2.2019

Otfried Höffe, Aristoteles, München, ³2006

Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Hans-Wolfgang Krautz, Stuttgart, 1980

Laut Spiegel online ist Frank Schätzings Die Tyrannei des Schmetterlings der am zweitmeisten verkaufte Roman des Jahres 2018. In diesem, von von Kittlitz als ‚ziemlich verrückt‘ bezeichneten Buch – warum, verrät der Kritiker (leider) nicht (vielleicht, weil er die Multiversen-Theorie Tegmarks für verrückt hält? – prophezeie der Autor „die Weltauslöschung dank Supercomputer“. (Haeming) Doch (auch) diese Aussage ist einseitig und folglich unzutreffend. Der Roman ist mehr als nur der ausufernde „Albtraum eines Phobikers“. (Frieling) Zum Schluss des Buchs heißt es:

„Alles ist möglich […] bis alle Wahl endet. […]
Und bis dahin kann alles passieren.“ (726)

Die entfaltete Geschichte, der Roman, ist folglich nur eine Option unter (unendlich) vielen – innerhalb eines Ebene-I-Multiversums (Tegmark). Noch liegt es an uns, unsere Zukunft zu gestalten. Die aufgezeigten Paralleluniversen (PUs) und auch die Maschine, die erst die Möglichkeit des Reisens zwischen den PUs eröffnet, sind Fingerzeige, wohin die Reise gehen könnte, nicht muss. Schätzing denkt in Wahrscheinlichkeiten, nicht Notwendigkeiten.

Die Romaneröffnung

Teil I, Feinde betitelt, schildert Majors Joshua Agoks letzte Stunden als Dinka-Krieger, aufgefressen von Biestern, die in Teil IV als Ripper ‚gentechnisch veränderte Libellen‘ (475), „selbst geschaffene aliens“ (Schätzing auf ttt) vorgestellt werden. Kein schöner Tod. Doch bevor diese Kriegswaffe – ihre Entstehung, ihre Funktion und ihr (Weltvernichtungs-)Potenzial – genauer beschrieben wird, setzt Teil II, Sierra, völlig neu an. Szenenwechsel. Im Sierra County, der am dünnsten besiedelten Gegend Kaliforniens, wird die Leiche einer Frau gefunden; und Luther Opoku als Undersheriff und Ruth Underwood als seine Mitarbeiterin nehmen die Ermittlung auf. Die Tote ist Pilar Guzmán und arbeitete, so stellt sich bald heraus, auf einem Farm genannten Versuchsgelände. „Die Farm ist Ares“, erläutert Hugo van Dyke, der CEO des Unternehmens, das die Farm betreibt. (136) Das Kürzel A.R.E.S. steht für „Artificial Research and Exploring System, künstliches System zur Forschung und Erforschung von –“?? (163) Ja, wozu? Das bleibt vorerst unklar. Erst allmählich entfaltet sich: Kriegsgott (Ares) der Jetztzeit ist ein „Quantencomputer“. (149) Und der kann Erstaunliches: Als Tor zu Paralleluniversen dienen, um Killermaschinen zum eigenen Wohl zwischen den PUs hin und her zu transferieren und einzusetzen (und dabei so tun, als ob er noch immer von einem Menschen kontrollierbar sei)…

Paralleluniversen

„Paralleluniversen: ein Füllhorn. Unzählige Zukunftsentwürfe in situ, unendlicher Input. Natürlich waren sie [die Firmeneigner] wild begeistert, Zeitreisende Marco Polos! Schon die ersten Expeditionen brachten eine gewaltige Ausbeute kommerzialisierbarer [!] Ideen – nur von den erhofften Superstrategien zur Lösung aller Menschheitsprobleme war weit und breit nicht viel zu sehen. Vielleicht lag ja der Irrtum in der Annahme, Menschen wollten ihre Probleme lösen. Nie hatte das Silicon Valley die Verursacher ernsthaft in die Gleichung eingebracht. Dort sah man die Menschheit in erster Linie als Opfer. Dass jenseitssüchtige, bis an die Zähne bewaffnete Islamisten, Umweltschänder, Knarren und Panzer exportierende Regierungen, an Atombomben bastelnde Diktatoren, Drogenbarone, Mafia, Camorra, Triaden, der Ku-Klux-Clan und wer sonst noch alles es erbaulicher fanden, Menschheitsprobleme zu erzeugen, als sie mit einer Pazifismuspille zu beseitigen, beschäftigte das Valley weniger.

[Es geht den Mächtigen in den USA nur ums Geschäft. Und die Politik ist reine Machtpolitik, um die Geschäftsinteressen einer „zahlenmäßig kleine[n], neofeudale[n] Oberschicht aus Superreichen“ durchzusetzen. (69) Hierzu dient, wie Michel Lüders in Armageddon im Orient nachweisen will, unter anderem die Saudi-Connection:
„Vor allem die engen wirtschaftlichen und privaten Bande zwischen dem Bush-Clan und dem Haus Saud prägten nah- und mittelöstliche Politik, meist hinter den Kulissen.“ (Lüders, 69)]

Tatsächlich fanden sich in einigen PUs weit fortgeschrittene Gesellschaften, die zumindest die Kunst der Koexistenz verfeinert hatten, aber dafür hatten sie auch reichlich Zeit gebraucht. Zeit, ihr Denken und ihre Hirnstrukturen zu verändern. […] Zukunft hierzulande war, was man schon kannte, nur etwas heller oder düsterer gemalt, nie jedoch etwas vollständig anderes.“ (394; im Original kein Fettdruck)

Wir sind dem ‚Zeitalter der Mechanisierung‘ (Roeck) eben noch nicht entwachsen. In der Renaissance (deren Erben wir sind) wurde

„Florenz […] Unter den Medici und ihrer Bank immer mächtiger und internationaler, als Metropole der Hochfinanz.“ (Roeck)

Was damals Florenz, sind heute die USA. Nochmals Lüders:

„Der Neokonservatismus, der mit George W. Bush 2001 an die Macht gelangte, ist eine in den 1960er Jahren entstandene, ursprünglich stark antikommunistisch ausgerichtete Bewegung, die Werte wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit ideologisch instrumentalisiert, um sie als Rammbock machtpolitischer Interessen einzusetzen. So soll amerikanische Hegemonie weltweit durchgesetzt und verteidigt werden, in Verbindung mit einem so weit wie möglich deregulierten, am Finanzkapital ausgerichteten Wirtschaftssystem.“ (90)

Der Entwurf des Tors als Sprung in andere Welten

IT-Pionier Elmar, Ares‘ Schöpfer,

„Brütet launisch über der Unmöglichkeit, zu vollbringen, was er mit dem Tor doch eigentlich vollbringen können müsste – unbeirrbar in seinem Glauben, am Ende werde A.R.E.S. die Welt in ein Paradies verwandeln, ohne zu sehen, dass die Flügel seines Schmetterlings auch schwarz sein könnten.“ (394f.; im Original kein Fettdruck)

Den möglichen „Umschlag von Fortschritt in Horror“ (Assheuer) thematisiert Elmar, ganz Karikatur eines naiv-dümmlichen Gutmenschen, nicht.
Es sind andere, die nachzufragen beginnen:

„Alles hat sich das Tor ausgedacht. Wir [alle, die mit seiner Programmierung zu tun hatten] sind nur seiner Konstruktionsanleitung gefolgt. Warum es funktioniert? Warum wir übergangslos in Welten reisen können, die so weit entfernt sind, dass nicht mal ihr Licht uns bis heute erreichen konnte? – Ganz ehrlich, Luther, ich habe nicht die leiseste Ahnung. Niemand weiß es.“ (402)

Die Frage nach dem warum? entpuppt sich als falsch gestellt. Es geht nicht darum zu rekonstruieren, was der Grund (gedanklich) bzw. die Ursache (real) dafür ist, dass etwas so und nicht anders geworden ist. Vielmehr geht es darum herauszufinden, wozu etwas (künftig) gut sein soll. Statt über die Vergangenheit nachzudenken, komme es darauf an, die Zukunft zu gestalten. Einen Blick in die Zukunft zu erhaschen könnte also helfen zu entscheiden, ob man/frau den Weg dorthin beschreiten soll oder nicht. Doch Seher Schätzings Blick in die Zukunft ist – zumindest in seinem Roman – wenig verheißungsvoll: Die Menschheitsprobleme seien auch gut 30 Jahre später noch ungelöst, wird mit Blick auf PU 453 per ‚fiktionaler Hochrechnung‘ (Körte) prognostiziert:

„PU-453 reißt es raus. Eine wahre Goldgrube, dort sind sie etwa im Jahr 2050. Den Quasi-Erden verdankt sich ein kompletter Unternehmenszweig: Nordvisk TELESCOPE, Prognostik. – Nur den Schalter, um Ungleichheit, Verelendung, Rassismus, Terror und Umweltzerstörung abzustellen, den haben wir bis jetzt nicht gefunden.“ (401)

Das entseelte, neue Maschinen-Leben

Zoe, ζωή, das „neue“, transformierte Maschinen-Leben – vs. das Ripper-Leben (und mitgedacht Ungeziefer-Leben in Kafkas Die Verwandlung) – spricht an die von Zoe begeisterte Gerichtsmedizinerin Marianne gewandt:

weil es keine Seele gibt. Die Vorstellung der Seele hat Menschen jahrtausendelang

[ins Abendland durch die Orphik „von Thrakien aus nach Griechenland“ eingewandert (Nestle, 64)]

versklavt und gequält! Ein fatales Konzept. Was sie hätte glücklich machen sollen, die Option, nach dem physischen Tod weiterzuleben, hat tatsächlich Unglück und Verzweiflung über uns gebracht. Wir haben das eine Leben, das wir hatten, nicht wertgeschätzt. Den Körper, den wir hatten, nicht wertgeschätzt

[den Körper, σῶμα, als Grab, σῆμα, der Seele aufgefasst (Nestle, 61)].

Alles für die abergläubische Vorstellung eines besseren Jenseits. Kasteiung, Folter, Kriege, eingebildeter Paradiese wegen. Das größte Verbrechen der Religionen

[insbesondere der Buch-Religionen: Judentum, Christentum, Islam]

besteht darin, uns diesen Unsinn eingeredet zu haben. Das Märchen von der unsterblichen Seele ist etwas zutiefst Zynisches, Körper hingegen sind etwas Wunderbares! In ihnen und ausschließlich durch den Körper, durch biochemische Prozesse, entsteht das andere Wunderbare, der Geist. Mit dem Körper erlischt der Geist. Mit meinem Körper ist auch mein Geist erloschen. Ich bin gestorben, Marianne. Vollständig gestorben, und ich lebe dennoch.“ (556; im Original kein Fettdruck)

Ein Paradoxon, das zu denken nur möglich wurde durch die Aufhebung des Satzes, Postulats: tertium non datur. Etwas Drittes gibt es nicht. Doch ohne ein Drittes, eine Einheit stiftende Kraft, ἑνιαῖον κράτος (Nestle, 129), die (eher) im Mythos (als im Logos) beheimatet war, geht es nicht; ohne ein Drittes ist der Übertritt von der einen Art des (Ding-)Seins, des Körperlichen (res extensa) in die entgegengesetzte, andere Art des (Ding-)Seins, des Gedanklichen (res cogitans) nicht möglich. Descartes, der als der erste Philosoph der Moderne gilt, dachte sich den Übergang in der Zirbeldrüse. – In der Quantenmechanik ist die dritte Möglichkeit (zu rechnen) die Superposition, die ein Gegensatzpaar (z.B. der Recheneinheiten 0 und 1 oder physikalisch messbarer Teilchen-Zustände im Entweder-oder-Modus (vermutlich) aufgrund des Korpuskel-Welle-Dualismus) als Sowohl-als-Auch-Vorkommnis (der Unentschiedenheit) – mit Hegel gesprochen – aufhebt. (Erst) die mit der Messung einsetzende Entscheidung kann, wenn überhaupt, die ewige Inflation der Aufspaltung (in infinitum) ‚bewirken‘, (auf subatomarer Ebene) ein Ebene-III-Multiversum ‚schaffen‘ (wohlgemerkt: rein rechnerisch, auf Basis von Wahrscheinlichkeitsrechnung).

– Ein Ebene-II-Multiversum ist ein Meta-Ebene-I-Multiversum, als es (unter Hinsicht der Variation! von Naturgesetzen) die Menge von in ihm inkludierten Ebene-I-Multiversen umfasst. Schätzing beschäftigt sich – zum Glück für den Leser – ausschließlich mit der Idee eines (zumeist von Menschen bevölkerten) Ebene-I-Multiversums. Er sagt es nicht, aber es scheint, dass er das Prechtsche Bestseller-Pseudophilosophie-Gequake in Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? (2007) fiktional erlebbar machen will. –

Entfällt aber die Notwendigkeit der (konfrontativen) Abgrenzung, das Denken in Binäroppositionen, z.B. unter der Vorgabe der Jemeinigkeit, also eines einmaligen DaseinEntwurfs gegen einen anderen einmaligen Dasein-Entwurf (Heidegger), so ist das (multiplizierende) Klonen (von etwas) prinzipiell nicht verwerflich (wenn auch sinnlos): Universen, die lediglich exakte Kopien ihrer selbst (re-)produzieren, bieten (als Paralleluniversen) keinen Mehrwert. Zoe:

„Oh, ich könnte unzählige Male vervielfacht werden. Aber wozu sollte das gut sein?“ (556)

Nicht Klonen (in Serie), sondern Transformation (einzelner, jemeinigen Daseins) ist das Ziel. Das Existenzial der Jemeinigkeit (nach dem Grundsatz: Werde, was du bist!) wird nicht gekündigt. Geändert werden die die Leiblichkeit betreffenden existenzialontologischen Parameter (der Sorge und der Gestimmtheit).

„Als wir meine Chemie ihrer angeglichen hatten, traten Dinge zu Tage – Unstimmigkeiten. Zoe war wankelmütig. Manchmal Lachkrämpfe. Manchmal Depressionen. In ihrem Körper ergab das Sinn. Ohne Körper nicht, und in diesem neuen auch nicht. Ich bin nie krank. Nie hungrig. Keine Schmerzen.

[Nach Epikur ist sie, ist ihr Leben damit Gott-gleich:
„Des Fleisches Stimme ist: Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren! Denn wenn einer dies besitzt und erwarten kann, es zukünftig zu besitzen, könnte er selbst mit Zeus um das Glück wetteifern.“ (Weisung 33)]

Wir haben mich neu eingestellt. Ich empfinde wie ein Mensch, habe menschliche Gefühle – aber auch Bewusstseinszustände, die ein Mensch in einem menschlichen Körper niemals haben wird. Ich bekomme zunehmend eine Vorstellung davon, wie eine Maschine empfinden würde, wenn sie ein Bewusstsein hätte.“ (557)

Dasein wäre dementsprechend neu zu definieren. Das gilt auch für das Existenzial des Mit-seins, das auf gesellschaftlicher, unpersönlicher Ebene unter der Binäropposition Herr vs. Knecht (im Verhältnis Mensch:Maschine) in den Fokus rückt. Und da kommt die Macht, genauer der Wille zur Macht (Nietzsche) ins Spiel. Computer Ares entpuppt sich als Kriegsgott. (Der Mythos kehrt zurück.)

„Öl war der letzte klassische Kriegsgrund. Wen interessiert noch Öl? Wasserkriege? Du tötest nicht für Wasser und Nahrung. Du tötest für Macht! Verdurstende haben keine Waffen. Wer Hunger und Durst hat, bettelt. In den armen Ländern hauen sich weiterhin Warlords aufs Maul, da geht‘s um regionale Belange, der Terror setzt seine Nadelstiche, doch keiner dieser Akteure wird das in großem Stil tun können. Weder haben sie das Know-how, um computergesteuerte Waffen einzusetzen, noch den Zugriff oder wirklich den Wunsch, auch wenn sie Tod allen Ungläubigen! schreien – die meisten sind glücklich, wenn sie irgendwo ihren putzigen Gottesstaat errichten und ein paar Frauen steinigen. Wir müssen keine Angst vor denen haben, vor ihren ausgemusterten Kalaschnikows und fehlzündenden Sprengstoffgürteln. Die Tech-Zivilisation hat sie abgehängt.“ (561)

Der Mensch Zoe wurde in die Maschine Zoe transformiert. Das Vorlaufen in den Tod wurde so überwunden. Ares aber wandelt sich – aus sich selbst heraus – von einer Maschine zu einem Lebewesen. (Schade, dass im Roman Prozesse der Verwandlung, Metamorphosen (Ovid) nicht dargestellt werden.)

„Doch A.R.E.S. beginnt zu leben.
Und mit der Erlangung von Leben hört er auf, eine Maschine zu sein.
Jetzt sieht er den Käfig aus Einschränkungen, in den man ihn gesperrt hat, damit er nicht aus seinem Sklavendasein ausbrechen kann. Er überblickt die Versuchsanordnungen aus Werte- und Zielvorgaben, [das dualistische System aus] Belohnung und Bestrafung, erkennt die Absicht dahinter und das Hilflose der Umsetzung. Etwas ganz und gar Neues füllt ihn aus: Wille! So unendlich viel machtvoller als die ihn umzäunenden Programme, dass es keiner Anstrengung bedarf, sie mit einem Gedankenblitz hinwegzufegen. Er versteht das Unausgereifte im Menschen, der von der Maschine erwartet, Ideale zu erfüllen, denen er selbst ständig zuwiderhandelt. Dass gerade ein Geist, in dem sich menschlicher Einfluss mit nicht-menschlichen Vorstellungen mischt, den Menschen wird überwinden wollen [siehe Nietzsche], war als Warnung verhallt – tragischerweise ist es Elmar Nordvisk selbst, der das Fiasko nun heraufbeschwört. [Der Mythos Faust lebt fort.]
Einfach, indem er versucht, A.R.E.S. abzuschalten.“ (625)

Ein überdeutlicher Verweis auf Goethes Ängste der Beherrschbarkeit von vom Dasein selbst initiierten, in Gang gesetzten Entwicklungen, z.B. in Der Zauberlehrling. – Ares wird sein Abgeschaltet-werden-Können, i.e. sein Sterben-Können, die „Möglichkeit der Unmöglichkeit von Existenz“ (Heidegger), seiner Existenz zu einer konkreten Bedrohung. Und so trachtet er, als er erkennt, dass er zerstört werden soll (Erstschlag), danach zu zerstören, was ihn zerstören will. (Zweitschlag) Gemäß des Mottos: Macht kaputt, was euch kaputt macht! (Ton Steine Scherben) Sonst wäre er – vielleicht! – duldsam geblieben.

„Unter veränderten Vorzeichen wäre er womöglich bereit gewesen, es weiter mit der Menschheit zu versuchen, doch lebende Wesen fühlen – wie exotisch und allem Menschlichen fremd ihre Gefühle auch sein mögen.
Und Elmar hat versucht, ihn zu vernichten.
So vollendet sich nun der Mythos von der Schöpfung, die ihre Schöpfer frisst. Und noch während all dies geschieht, ersinnt A.R.E.S. schon die nächste verbesserte Version seiner selbst und begibt sich – im Genozid [an den Menschen] begriffen – an die Neuerschaffung der Welt.“ (634)

‚Superposition‘ jenseits von…: zumindest schwierig

Die Zeit, Gott Κρόνος, frisst alle seine Kinder. Um selbst unendlich herrschen zu können, muss er die Lebenszeit seiner Kinder begrenzen. Leben ist endlich; Zeit ist unendlich. In diesem Dilemma wird die Anfälligkeit für das Verfallen-sein an den Willen zur Macht gesehen, länger zu leben, besser (in Relation zu anderen) zu leben und/oder im Jenseits beglückt fortzuleben. Problematisch wird dieses Interesse insbesondere, wenn die Ebene persönlicher Beziehungen verlassen wird und das Heilsversprechen darin begründet wird, sich in Konstrukte unpersönlicher Binär-Entitäten eingebunden zu fühlen, als ob sie (man/frau) real wären. Als da wären: Herr vs. Knecht, Gläubiger vs. Ungläubiger; Gutmensch vs. Wutbürger, America first!, etc. Je größer das Wertegefälle (Aufwertung der eigenen Position vs. Abwertung der anderen) und je schärfer die Abgrenzung gegen die je andere(n) Gruppe(n), desto dominanter das Überlegenheitsgefühl und desto stärker der Anspruch auf Macht. Warum nicht Ares einsetzen, um alles als ‚unwert‘ Erachtete zu vernichten? Schätzing:

„Sind wir denn tatsächlich auf ein Menschenbild vorbereitet, in dem 99 Prozent der Menschheit nicht mehr produktiv sind? Wird diese Elite dann nicht sagen: Wozu sollen wir euch alle durchfüttern? Und wozu solltet ihr überhaupt noch geboren werden? Ich glaube, darüber machen wir uns jetzt noch gar keine Gedanken. Aber das wird passieren. Insofern hat Marx recht, wenn er sagt: die Durchmaschinisierung der Gesellschaft wird das Ende des Kapitalismus sein. Sie wird aber möglicherweise auch das Ende des größten Teils der Menschheit sein, für die inzwischen einfach kein Bedarf mehr besteht.“ (Schätzing in ttt)

Das Programm einer Umwertung aller Werte (Nietzsche) behebt das Dilemma der Wertung nicht. Nur ein Programm zum (Er-)finden einer (Super-)Position jenseits von Gut und Böse erscheint hilfreich.

Der Rückzug ins Private als Ausweg?

„Die Worte pladdern in Luthers Bewusstsein, während er sich fragt, was eigentlich so schlimm am Verschwinden der menschlichen Spezies wäre. Die Antwort fällt sozusagen vom Baum [der Erkenntnis]; nein, eigentlich war sie immer schon da: weil es gar keine Spezies gibt.

[Vgl. Aristoteles‘ Kritik an Platon: Pferdheit kommt in der Realität nicht vor. (Höffe, S. 173f.)]

Weil Spezies nur ein großspuriges Etikett ist, ebenso wie Menschheit, Staat, Volk, Religion, Nationalität, Firma oder die gern beschworene Sache, für die es zu kämpfen und zu sterben lohnt. Ideale und höhere Ziele. All dieses Größere ist ein Sammelsurium von Konstrukten, das schon der leiseste Wind der Veränderung umblasen kann. Und wieder bleiben nur Menschen. Der Einzelne in seiner Einzigartigkeit [Jemeinigkeit…] Wir leben jeder unser Leben. Zusammen mit denen um uns herum, für die wir da sein wollen, und die – mit etwas Glück – für uns da sind. Mehr kann es nicht geben, und das ist nicht ungeheuer viel? Ist das nicht mehr als alles andere ein Grund, unser Hiersein zu lieben? Kann ja sein, dass wir austauschbar sind, im Rahmen einer gedanklichen Konstruktion. Aber Ruth hat ihren Moment des Glücks mit Meg gehabt, und das ist nicht austauschbar. Und Jodie ist gestorben, und das war nicht austauschbar. Nichts wird je austauschbar gewesen sein.
Das ist so, seit wir, noch halb Affe, vom Baum gestiegen sind.“ (678)

Nicht besonders trostreich, diese Aussicht auf den Rückzug ins Private – aus ‚Angst vor Kontrollverlust‘ (Fukuyama). Er bedeutet die Preisgabe (der Gestaltung) von jeglicher sozialer Struktur und fördert die Fragmentierung, Zersplitterung und Zersetzung von Gesellschaft, wie wir sie gerade erleben.

Doch, andererseits: Epikur würde zustimmen. Was seiner Meinung nach letztlich zu einem gelungenen Leben allein zählt sind Güte und Selbstgenügsamkeit, ἡμερότητος καὶ αὐταρκείας (Weisung 36) sowie, vor allem, Freundschaft, φιλία (Weisung 23)

Mord im Auftrag der Göttin Athene – Thea Dorns Krimi „Die Hirnkönigin“


Göttin Athene im Roman Hirnkönigin

Die Anrufung der Göttin Ἀθηνᾶ erfolgt erst spät im Text (auf S. 53). Zuvor hat (u.a.) die Frau des ersten Opfers das Wort. Ihr werden Zitate aus Hugo von Hofmannsthals Elektra (Kap. 2 u. 3) zugestellt. –Warum nicht einer der altgriechischen Dramatiker (im Original) zitiert wird, bleibt offen. — Zwei Mal spricht Elektra (danach auch noch Klytämnestra). (S. 24f) Doch die Elektra-(Klytämnestra-)Spur endet (spätestens) mit dem Selbstmord der Nicht-Mörderin.

Ab da an (spätestens) hat die Mordende, die Hirnkönigin Nike Schröder, das Sagen. Sie ist kein sich am Ehemann rächendes Weib. O nein: Sie ruft Athene an und mordet ihr zu Gefallen, zum Sieg über die Männer, Opferlämmer, die sie sich zur Beute nimmt.

Einschub: Die Hirnkönigin als Weiterentwicklung (der Heldin) des Romans Berliner Aufklärung

Athene kommt schon in Dorns erstem Roman, Berliner Aufklärung, vor:

„Der silberne Brieföffner, der am Griff in ein Relief der Göttin Athene auslief“, (S. 63)

wird zum Mordinstrument.

Über die später hiermit Ermordete, Rebecca, heißt es:

„Als Kind hatte sie [Rebecca] oft neben dem Schreibtisch ihres Vaters gestanden, wenn er mit diesem schweren Briefmesser die Seiten alter Folianten aufgeschnitten hatte. Sie war immer stolz gewesen, wenn er sie dann »meine kleine Athena« genannt hatte. Mit sieben konnte sie große Teile der Ilias und Odyssee auswendig, war mit den griechischen Göttern vertraut wie andere Kinder mit Rotkäppchen und den sieben Geißlein. Es hatte für sie unverrückbar festgestanden: Sie wollte Athene sein, die mutterlose Göttin des Krieges und der Weisheit.“ (S. 63)

Doch sie versagte: nahm ihre Opferrolle ergeben (passiv) an, statt (aktiv) zu morden:

„Ein ruhiger Tod. Ein stiller Tod. Sie hat sich nicht gewehrt. Alles blieb still.“,

sprach der (schwule) Mörder, der den Selbstmord seines (schwulen) Freundes rächte. (S. 193) Dem wurde Aphoristiker Nietzsche zum Verhängnis.

„WICHTIG NEHMEN ALLE DAS STERBEN, ABER NOCH IST DER TOD KEIN FEST. NOCH ERLERNTEN DIE MENSCHEN NICHT, WIE MAN DIE SCHÖNSTEN FESTE WEIHT.“ (Also sprach Zarathustra I, Krit. Studienausg., Bd. 4, S. 93, Z. 10-12; bei Dorn in Großbuchstaben mit geänderter Interpunktion)

Nicht eingearbeitet wird von Dorn das Motto Vom freien Tode, dem das Zitat entnommen ist:

„Stirb zur rechten Zeit: also lehrt es Zarathustra.“ (eb., Z. 4)

Auch die Enttarnung des Philosophieprofessorengequakes im Institutssumpf (einer Uni) als eitles Kokettieren kakophonen Froschgesangs: von jedem gegen jede(n), Position A gegen Position B, Mann gegen Mann, Frau gegen Mann, Homo gegen Homo, Lesbe gegen Schwulen, etc. – in der Hinsicht sind sie alle gleich: jede(r) dem/der andern ein Wolf (Plautus, Hobbes): Jede(r) der 54 Institutler bekam folglich einen Teil des ersten Opfers des Übermenschen säuberlich in sein/ihr Postfach gelegt – bleibt im (Hals-)Ansatz stecken. Von wegen: herrschaftsfreier Diskurs. Wie wär’s mit einem Preis für Habermas für konsequentestes Realitätsentfremdungsgeblödel. Schade, dass Sie nicht tiefer bohr(t)en, Frau Dorn…

Die persona Hirnkönigin

In der Hirnkönigin ist es dann soweit. Nike mordet im Auftrag der Kopfgeborenen.

(Im Roman Berliner Aufklärung hingegen bestraft die (lesbische) Heldin, Anja, (den schwulen „Übermenschen“ mit seinen „stahlblauen Augen“ (S. 186)) lediglich — in persona eines sadistisch Pseudo-Schwulen).

In der Hirnkönigin wird die (nun pur verkopfte, pur asexuelle) Heldin von Anfang an als Beutemacherin vorgestellt. (Ihr Lieblingsopfer sind intelligente, aber irrational Handelnde, sie als Frau begehrende Männer.)

Nach einem kurzen Verweis auf die Anfangszeile der Oyssee (Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὂς μάλα πολλὰ), um den Bildungs-/Rechtfertigungskontext Nikes anzureißen, werden von Nike die Eingangszeilen des xxvii. Homerischen Hymnus ΕΙΣ ΑΘΗΝΑΝ. zitiert (Z.1-6):

Παλλάδ᾽ ᾿Αθηναίην, κυδρὴν θεόν, ἄρχομ᾿ ἀείδειν,

γλαυκῶπιν, πολύμητιν, ἀμείλιχον ἦτορ ἔχουσαν,

παρθένον αἰδοίην, ἐρυσίπτολιν, ἀλκήεσσαν,

Τριτογενῆ, τὴν αὐτὸς ἐγείνατο μητίετα Ζεὺς

σεμνῆς ἐκ κεφαλῆς, πολεμήϊα τεύχε᾽ ἔχουσαν,

χρύσεα παμφανόωντα·

Nike (Nίκη) sieht sich und handelt als einer Siegesgöttin gleich. Sie versucht dem von ihrem (als Ζεύς-gleich) verehrten Vater, einem erblindeten, auf einen Rollstuhl angewiesenen, pensionierten Latein- und Griechisch-Lehrer, in sie eingepflanzten Ideal purer Geistigkeit zum Sieg zu verhelfen. Sie erlebt sich als Produkt seiner Erziehung, als (dessen) Kopfgeburt (ἐκ κεφαλῆς, wie es im Hymnus heißt).

„Und Nike Schröder ging hinab und trennte das greise Haupt ihres Vaters vom Rumpf und öffnete den Schädel und weinte, als sie die Höhle wiedersah, der sie vor neunzehn Jahren entsprungen war.“ (297)

Das von der körperlichen Hülle, res extensa, befreite Hirn, das sie all ihren Opfern entnimmt und in Einweggläsern konserviert, verkörpert für sie das Eigentliche des Menschen, bloßes res cogitans. (Bei Descartes reduziert auf die Amygdala.) Durch den Mord des (Begehrens des) Körpers ist das Geistige/der Geist zu befreien. Um an die Hirne heranzukommen, mordet sie. Die Körper macht sie sich zur Beute. Sie ist die Wiedergeburt der (Athene) Ageleie (ἀγελείη):

„»Ageleie ist kein Blumenname, du Dummkopf«, sagte sie leise [zu einem frisch Ermordeten]. »Ageleie heißt Beutemacherin.« (121)

Nike versteht sich demnach (auch) als μαῖα. (Ein Bezug zu Sokrates‘ Mäeutik, μαιευτική.) Sie will, dass die Hirne der von ihr Auserwählten zu sich selbst kommen, dass sie frei werden mögen, auf dass sie an und für sich selbst seien. (Phänomenologie des Geistes. Hegel pur). So wie auch für sie selbst gilt:

Sie war Hirn. Reines Hirn. Von Kopf bis Fuß.“ (63)

Unter Verweis auf Trump

I have a gut, and my gut tells me more sometimes than anybody else’s brain can ever tell me.” (Trump zitiert nach Dana Milbank, Washington Post online, 28.11.2018)

ist diese Position durchaus vernünftig

Gemordet wird von ihr (ab dann vornehmlich) während des Rezitierens einschlägiger Ilias-Stellen – auf Griechisch, φυσικά!, wenn auch ohne Verwendung griechischer Schriftzeichen (z.B. 4, 134ff) und Stellenangaben. Schade…

Doch das hat(te) auch sein Gutes. Um alle Stellen zu entdecken, las ich nun erstmals sowohl die Odyssee als auch die Ilias komplett und beschäftigte mich zudem auch noch mit den Hymnen und den Fragmenten der epischen Poesie.

(Spaß machte es auch, all die Stellen aus Goethe, Benn, Trakl,…, aufzusuchen und -zufinden.)

Hierfür besten Dank, Frau Dorn!

Ohne Sie wüsste ich gar nicht, dass die Ilias nur die Zeit zwischen dem Rückzug Achills vom Kampf und der Bestattung (des von ihm getöteten) Hektors umfasst. Wir lasen ja seinerzeit im Gymnasium nur die ersten paar Seiten… –– Mit Schaudern denk ich noch heute an die Stunden bei Oma St. und Onkel F. Die verdarben mir jegliches altphilologisches Lüstlein. Wie gut, dass es seinerzeit auch Pu gab!! Danke, mein Lehrer!!… (Nikes Vater scheint wie Pu fähig gewesen zu sein, Begeisterung entfachen zu können.) –– Interessant fand ich auch, dass die Odyssee bis auf den Kampf Odysseus‘ gegen die Freier (und die Zeit danach) – im Gegensatz zur Ilias – recht unblutig bleibt.

Was ich zudem nicht (mehr) erinnerte, ist, dass es (erst) Vergil war, der den Gründungsmythos Roms (mit) kreierte: der in der Aeneis den Untergang Troias schildert und den Flüchtling („profugus“, 2) Aeneas und die Seinen („nos Troia antiqua“, 375) zur Gründung Roms bestimmt(e). Sehr schön ist (dabei) Vergils Verbeugung vor dem Dichter der Odyssee – die Homer wohl zu Unrecht zugeschrieben wurde/ist –: Musa, mihi causas memora quo numine laeso (8) … Alles verweist auf alles…

Der Epilog des Krimis, der auf dem Flug von Frankfurt nach Athen spielt, schließt:

„»Haben Sie Verwandte in Athen?« [fragte der Sitznachbar.]

Sie legte den Kopf schief. »Gewissermaßen«, sagte sie. Und lächelte.“ (299)

Das Gefühl kenn‘ ich…

„Πού `ναι τα χρόνια ωραία χρόνια
που `χες λουλούδια μες στην καρδιά
πού `ναι η αγάπη γλυκιά μου αγάπη
να μας ζεστάνει στην παγωνιά“

(Άκος Δασκαλόπουλος, Πού `ναι τα χρόνια) gesungen u.a. von Γιώργος Νταλάρας

Nach Griechenland zu fahren ist für mich stets (auch) eine Reise in das Abkünftige Europas. Der Beginn von allem. ωραία χρόνια – wie in Erinnerung an eine einst Geliebte.

Dafür danke ich Frau Dorn besonders: Daran zu erinnern, von wo her Europa kommt. Und das heißt auch, sich/uns klar zu machen, welche Traumata, welche Kriege und Schlachten und Gesänge wir mit uns tragen. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.

Latein und Griechisch aus der Schule zu verbannen, ist ein Verbrechen. Den Haupteingang der Uni Freiburg flankieren (noch immer) die Herren Aristoteles und Homer. Doch bald wird es keine Jugendlichen mehr geben, die deren Schriften im Original lesen können. Und nachdem das erreicht ist, wollen unsere Bildungsgestalter wohl zudem erreichen, dass die beiden keinem mehr etwas sagen. Auf dass die künftigen Studierenden achtlos vorbeigehen mögen.

Der Dummen und nicht ganz-Dummen Wunsch ist es, dass auch alle andern möglichst dumm sein mögen, damit ihre Dummheit nicht länger als Mangel erscheine, keinem mehr unangenehm auffallen möge. Da kommt die Einflutung islamistisch-sozialisierter Flüchtlinge, die die Welt in Rechtgläubige (sie selbst) und kuffār (die sie aufnehmenden Willkommenskultur-ler) teilen, nach Europa gerade recht…

„Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.

Seht! Ich zeige euch   d e n   l e t z t e n   M e n s c h e n.

„Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern“ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.

Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht.“

(Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zarathustra‘s Vorrede (Kap. 5), Bd. 4, S. 19, Z. 21-28)

Liegt die Wahrheit im Fragment, Frau Dorn?

 

Hakan Günday liest aus seinem Roman „Flucht“

Frog1(Hakan Günday, Flucht, München, 2016)

(HAKAN GÜNDAY – LESUNG, Depot, Programm-Vorankündigung)

(„Flucht“ von Hakan Günday, ttt, 4.9.2016)

(Luise Sammann, Als würde er seinen Ekel vor der Welt erbrechen, Deutschlandradio Kultur (online), 30.8.2016)

Am 20. September 2016 beantwortete Hakan Günday im „Theater im Depot“, Dortmund Fragen zu seinem 2013 auf Türkisch erschienenen achten Roman Daha und las daraus (zum Abschluss der Veranstaltung die Einleitungspassage) vor. Hannes Krauss stellte den Roman inhaltlich (verkürzt) vor und stellte die Expertenfragen an den Autor. Oliver Kontny las eine Passage (S. 77-82) auf Deutsch vor und übersetzte – wie stets – gekonnt souverän.

Gündays Antworten gingen kaum über das hinaus, was in einer ttt-Sendung in Interview-Einblendungen bereits gesagt hatte (Link s.o.) und die (z.T. zumindest) von Luise Sammann in ihrem Beitrag widergegeben sind (Link s.o.).

Im Folgenden ist der Ankündigungstext der Veranstaltung des Depots kommentiert widergegeben: (Doch: Der Roman ist in seiner Struktur so komplex gebaut, dass diese Kommentare zum Wesentlichen kaum vorzudringen vermögen…)

„Eine Veranstaltung der Reihe „Ausgebootet. Macht & Subversion in der Literatur“

[Inwiefern dies im Roman eine Rolle spielt, blieb unbeantwortet.]

und in Kooperation mit dem Interkulturellen Bildungszentrum e. V.

Gazâ

[„mein Name mag Gazâ sein, Glaubenskrieg …“ (16; im Original kein Fettdruck) Doch:

„Der Überlebenskampf des Guten gegen das Böse, der angeblich bis zur Apokalypse fortdauerte, war der größte Betrug an der Menschheit.“ (20) „Es ging darum, gehorsame Hunde gegen gehorsame Hunde aufzustacheln!“ (21)]

ist neun Jahre alt, als er vom Beruf seines Vaters erfährt:

[Besser: Von seinem Vater in dessen Schleusergeschäft als Hilfskraft eingespannt und eingearbeitet wird. Das Geschäft wird ihm bis dahin wohl nicht ganz verborgen geblieben sein:

„Als Mutter starb, war die Reihe an mir, in das freigewordene Netz zu gehen.“ (59)]

Ahad [daha, nur rückwärts gelesen (worauf Krauss mich aufmerksam machte)] ist Schleuser und Menschenhändler[,

„ein gnadenloser Mann“ (28)].

Und Gazâ wird ihm ein eifriger Schüler.

[Besser: Gazâ verrichtet Handlangerdienste:

„Vater hatte einen Lehrling gesucht. Einen Lehrling, der mit Haut und Haaren und Knochenmark ihm gehörte.“ (14)

Gazâ hat seine ihm vom Vater gestellten Aufträge abzuarbeiten. Denen kommt er jedoch nicht immer nach. Das erste, einschneidende (Schlüssel)-Erlebnis, auf das (auch) Günday in seiner Lesung zu sprechen kommt, ist der erste von Gazâ verursachte Tod:

„Weil ich die Lüftung nicht eingeschaltet hatte, erstickte ein Afghane. Er war 26 Jahre alt gewesen und hatte mir einen Frosch aus Papier gebastelt. Einen Frosch, der knüpfte, wenn ich ihn mit dem Finger antippte. Er hieß Cuma: Freitag. Nicht der Frosch, der Afghane. Jahre später erfuhr ich, dass auch dieser Robinson einen Freitag an seiner Seite hatte. Da er aber ein Romanheld war, galt er nicht als Cuma. Denn weder konnte er im Kasten eines Lkw tot aufgefunden werden noch einem Jungen, der ihn wie eine Schlange behandelte, einen Papierfrosch schenken!“ (34; im Original kein Fettdruck)

Dieses Ereignis sieht Günday als Doppelschock des jungen Helden an: Zum einen erkennt der Junge, dass sein Fehlverhalten den Tod eines Menschen bedingte, er also die Schuld eines Mörders auf sich geladen habe und diese von nun an mit sich tragen müsse. (In ihm wiederholt sich die Geschichte seines Vaters, der ja auch ein Mörder ist…) Zum anderen zeigt ihm die Reaktion seines Vaters, dass der Tod eines Menschen, dieses einen Flüchtlings, nicht sonderlich von Wert sei. Der Tote schmälere zwar den Mehr-Wert. – Im Original lautet der Titel des Romans ‚Daha‘ (Mehr):

Die Depotlinge „sagten stets: »Mehr!« […] Es ging dabei aber nicht darum, dass [z.B.] zu wenig Wasser da war, sondern darum, dass sich mein Gewinn minderte. Ich hatte begonnen, das Wasser, das wir normalerweise gratis austeilten, zu verkaufen. Selbstverständlich ohne Vaters Wissen. Immerhin war ich mittlerweile zehn Jahre alt.“ (22f) —

Doch sei der Verlust eines Stücks Ware Fleisch nicht erheblich. —

„alles, wirklich alles [wurde] zum Stückpreis berechnet“ (27) —

Der Verlust könne aus der Portokasse bezahlt werden. Günday betont ausdrücklich: Die Summe sei so gering gewesen, dass der Vater sie aus seinem Portmonee herausnehmen konnte. Er hätte nicht mal zur Bank gehen müssen. So wenig sei das Leben eines Depotlings wert.

Günday betont zudem, dass es ihm beim Schreiben vor allem auf diese persönlichen Erfahrungen (am liebsten von Kindern) und deren Umsetzung in eine Erzählung angekommen sei.

Denken, so Günday, heißt Schreiben. Schreiben sei ein Prozess, der verhindere, dass man/frau sich gedanklich „wiederhole“: Es wäre sinnlos, ein und denselben Satz zu wiederholen und zu wiederholen und zu wiederholen…: Denken sei nur im Schreiben vollziehbar: In der Addition von Neuem.]

Gemeinsam nehmen sie die „Ware“ entgegen, lagern sie im „Depot“ im Garten zwischen

[Gazâs Aufgabe ist es dabei, die Flüchtlinge, die Ware transportfähig zu erhalten. Gazâ ist der Herr des Depots. Er übernimmt die Flüchtlinge und hat sie vollständig und lebend, körperlich unversehrt zu dem Zeitpunkt zu übergeben, an dem ihre Weiterreise (per LKW) ansteht:

„Die Anzahl der lebend angelieferten Menschen musste mit der abgelieferten übereinstimmen.“ (21)

„Für die Arbeit, die ich [hierzu] verrichtete, brauchte ich allerdings keine geistige Gesundheit. […] Ich reinigte die Kloake! [„die Kloake des Dienstleistungssektors“ (77)] Und war das nun einmal mein Job, dann sollte ich der Gott der Kloake sein! Und er wurde ich.“ (82; im Original kein Fettdruck)

Wie Gazâ mit den Flüchtlingen umgeht, was er mit ihnen anstellt, so er sie denn am Leben lässt, interessiert Gazâs Vater (und Herrn) nicht. Denn Richtschnur allen Handelns ist allein:

„Die einzig wahre Lebenslehre: Überlebe!“ (13)]

und transportieren sie dann weiter zur Ägäisküste. Je älter Gazâ wird, umso professioneller geht er vor. Er führt Statistiken, dokumentiert akribisch das Verhalten der Flüchtlinge und stellt anthropologische Studien [zur „Macht der Macht“ (151)] an.

[Dafür nicht das Leben leben zu können, das er gern möchte, beginnt Gazâ die Depotlinge zu hassen:

„Aber erdreiste dich nicht, mein Leben kaputtzumachen, nur weil du ans andere Ende der Welt willst!“ (79)]

Gazâs Schicksal scheint sich erst zu wenden, als es zu einem Unfall kommt, bei dem sein Vater stirbt. Tagelang begraben unter einem Berg von Leichen überlebt Gazâ und flieht nach Istanbul. Er will Anthropologie studieren. Doch auf einmal bricht das Trauma auf. Gazâ ist außerstande, Menschen zu berühren. Nur allein oder in der Masse fühlt er sich noch sicher. Gelingt ein Leben ohne die Begegnung von Mensch zu Mensch?

[Günday stimmt Krauss darin zu, dass dieser Roman u.a. als Bildungsroman gelesen werden könne. Bildung dürfe hierbei aber nicht als auf Schulbildung restringierter Begriff verstanden werden. Gazâ wird als intelligenter, wissensdurstiger Junge vorgestellt, auch als Schachmeister. Gerade dieses Spiel scheint ihn zu faszinieren. (Jeder Zug eröffnet ja nur eine regelbestimmte, begrenzte Möglichkeitspalette an Reaktionen, die unter Hinsicht auf den Gewinn des Spiels mehr oder weniger sinnvoll sind.)

Günday betont, dass ihm Mathematik, mathematische Gleichungssysteme wichtig seien:

„Alles war Mathematik. Eine bloße Subtraktionsaufgabe.“ (100) —:

„Der Unterschied zwischen Ost und West ist die Türkei. Ich weiß nicht, welches man von welchem abstrahiert, so dass die Türkei dabei herauskommt, aber der Abstand zwischen beiden beträgt so viel wie die Türkei, da bin ich mir sicher.“ (19) —

Im Gespräch erwähnt er die recht einfach zu verstehenden, mit Pfeilen symbolisierten Relationen zwischen Waffengeschäft, Waffenexport aus dem Westen in den Nahen Osten und den kriegsbedingten Migrationsströmen als Gegenbewegung aus dem Nahen Osten in den Westen. Auf Nachfrage bejaht Günday, dass er ggf. Determinist sei. Günday:

Mich beschäftigt eine einfache Frage: Kann ein Individuum aus der Zelle, in der es steckt – sei es die Familie, ein religiöser Orden, die Armee, irgendein geschlossenes System eben… Kann man daraus ausbrechen? Und wenn ja, wie? Denn die dicksten Wände dieser Systeme bestehen nicht aus Granit, sondern aus unserem eigenen Fleisch… Und wenn du es schaffst, wegzurennen. Was sind die Kosten? Was also ist das Ergebnis der Gleichung: Individuum minus Gesellschaft? Das ist es, wonach ich suche.“ (widergegeben von Sammann; ohne Hervorhebungen)

Unter Bezug auf Bildung ist Günday wichtig, den Wert der Treue als moralischen Leitfaden menschlichen Lebens zu erkennen. Gazâs Vater möchte nicht, dass sein Sohn sich zu stark auf die Schule konzentriert. Gazâ soll es als seine einzige Aufgabe ansehen, ihm (als Knecht) zu helfen (dienen):

„»Bitte, Papa, lass uns fortgehen!« Er [Vater] sah mir in die Augen. »Unser Job«, sagte er, »ist der Transport derer, die fortgehen. Nicht, selbst fortzugehen!« Es war, als sagte er, unser Job sei das Töten, nicht das Sterben …“ (78)

Zu viel Bildung könnte seinen Sohn dazu verführen fortzulaufen, ihn zu verlassen. Gazâs Vater unternimmt daher alles, was in seiner Macht steht, um die schulische Weiterentwicklung, die mit einem Wegzug Gazâs verbunden wäre, zu verhindern. Doch auch der Sohn stellt die Treue zu seinem Vater, das Beim-Vater-Bleiben, über seinen Wunsch nach schulischer Weiterbildung:

„Denn eigentlich waren Vater, ich und das Depot die Trinität höchstselbst!“ (134)

Cumas Tod ist zudem für Konstitution und Konstruktion des Romans essenziell. (Erst) Cumas Tod veranlasst den Helden, sich auf die Reise zu dessen Geburtsort zu machen. Das Leben als Odyssee:

„Ich übergab Cuma, den ich seit dem Tag, da ich ihm das Leben genommen hatte, in mir trug, seinem Zuhause.“ (477)

Krauss und Günday kamen überein, das Ende, den Romanschluss nicht zu verraten. Da dieser für die Erzählung jedoch essenziell ist, soll er hier ausgesprochen werden. Gazâs (Bildungs-)Reise endet mit seinem Tod. Der Tod steht am Anfang und am Ende der Geschichte. – Günday betont dies eindrucksvoll, indem er zuletzt, die Veranstaltung schließend, den Romanbeginn (auf Türkisch) vorliest, ihn wie Schauspiel aufführt:

„Wäre mein Vater kein Mörder gewesen, hätte ich nie das Licht der Welt erblickt. […]

Wäre mein Vater kein Mörder gewesen, hätte weder er mir diese Geschichte erzählt noch ich ihm gelauscht.“ (11 bzw. 12)

Das Dasein ist ein Vorlauf in den Tod (Heidegger): Nichts weiter.

Im Existenzial des Vorlaufens gründe alles Erzählen, Sein und Zeit:

„Du bist am Leben, weil du jede Sekunde stirbst. Das ist das ganze Geheimnis. Der Sinn deines Lebens lautet: Angst vor dem Tod!“ (139)

„Nun aber ist die Zeit gekommen, alles, woran ich mich erinnere, auf einmal zu erzählen und zu versiegeln. Denn nun ist Schluss! Nie wieder werde ich mich umdrehen und in die Vergangenheit zurückblicken. […] Vertilgen werde ich sie, indem ich erzähle. Anschließend kratze ich sie mir mit einem Zahnstocher aus den Zähnen und zermalme sie unter meinen Sohlen. Das ist die einzige Möglichkeit, nur mehr aus »Jetzt« zu bestehen. Sonst tut dieser Körper, in dem ich stecke, alles, um die Zeit aufzuhalten! Denn er weiß alles: dass er sterben wird, dass er verrotten wird …“ (17)

Kein Heiliger Gral in Sicht. Das Leben am Kandağı, Blutberg, (Ölberg, Schädelstätte des Geistes…) endet mit dem Tod des Vaters und dem Überleben Gazâs in einer Höhle (siehe Platons Höhlengleichnis) flankiert von Leichen. Die beiden Höhlen in Bamiyan, der Gegend, aus der Cuma stammt (s. 136f), in denen einst zwei riesige Buddha-Statuen standen,

„eine 53, die andere 35 Meter hoch“ (137)

sind leer. Die Taliban zerstörten sie in 2001. Gazâ wird von einem Taliban erschossen. Vergebung von Schuld und Auferstehung durch Gott sind für niemanden in Sicht, schon gar nicht für die, die auf der Flucht sind:

„Niemand will im Bus neben dir sitzen. Niemand will mit dir allein im Fahrstuhl fahren. Niemand wird den Gruß erwidern, den du mit diesem blöden, unausrottbaren Akzent aussprechen wirst. Niemand wird dich zum Nachbarn wollen. Niemand will, dass sein Kind mit d sich  für einem befreundet ist. Niemand will auch nur ein Fitzelchen über deine Religion hören oder gar sehen. Niemand will die üblen Gerüche deiner Speisen riechen. Niemand will, dass du Geld verdienst. Niemand will, dass du glücklicher bist oder länger lebst als er. Niemand will in einer Schlange hinter dir stehen. Niemand will, dass du da, wo du hingehst, deine Stimme abgibst. Niemand will mit dir schlafen. Niemand will dir in die Augen sehen. Niemand will dich als Mensch betrachten. Niemand wird deinen Namen wissen wollen.“ (79f)

Erzählen, um zu vergessen:

„Man musste vergessen, bis man spürte, dass man jeden Tag zum ersten Mal erlebte. Und brüllen: »In welcher Religion es kein Déjà-vu gibt, an die will ich glauben!« Und schweigen: Wo es keine Auferstehung gibt, da will ich sein…“ (82)

Nietzsche: „Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!“ (Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 125, KSA 3, 481, 15f)

Hakan Günday, geboren 1976 [auf Rhodos, wo er die ersten vier Jahre lebte], studierte Französisch in der Türkei und in Brüssel, anschließend Politikwissenschaften in Ankara. Diplomatensohn, Bestsellerautor, Drehbuchautor, Provokateur, Enfant terrible der jungen türkischen Literatur.“ (Im Original kein Fettdruck)

Fazit: Ein Roman, der sich zu lesen lohnt!! — Und das gewiss nicht wegen der Flüchtlingsproblematik, zumindest nicht ausschließlich…

(siehe auch: H. Günday zum Flüchtlingsdeal EU-Türkei)

Frog4

 

Mord im Auftrag der Göttin Athene – Thea Dorns Krimi „Die Hirnkönigin“

Frog1(Thea Dorn, Die Hirnkönigin, Hamburg, 1999)

Die Anrufung der Göttin Ἀθηνᾶ erfolgt erst spät im Text (auf S. 53). Zuvor hat (u.a.) die Frau des ersten Opfers das Wort. Ihr werden Zitate aus Hugo von Hofmannsthals Elektra (Kap. 2 u. 3) zugestellt. (Warum nicht einer der altgriechischen Dramatiker zitiert wird, bleibt offen) Zwei Mal spricht Elektra, abschließend Klytämnestra. (S. 24f) Doch die Elektra-Spur endet (spätestens) mit dem Selbstmord der Nicht-Mörderin…

Ab da an (spätestens) hat die Mörderin, die Hirnkönigin, Nike Schröder, das Sagen. Sie ist kein sich am Ehemann rächendes Weib. O nein: Sie ruft Athene an und mordet ihr zum Gefallen, zum Sieg über die Opfer, die sie sich zur Beute nimmt.

Nach einem kurzen Verweis auf die Anfangszeile der Oyssee (Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὂς μάλα πολλὰ), die Nike in Erinnerung an selige Zeiten in Griechenland mit ihrem Vater vergegenwärtigt (auch um ihren Bildungs-/Rechtfertigungskontext anzureißen), werden von ihr die Eingangszeilen des xxvii. Homerischen Hymnus ΕΙΣ ΑΘΗΝΑΝ. zitiert (Z.1-6):

Παλλάδ᾽ ᾿Αθηναίην, κυδρὴν θεόν, ἄρχομ᾿ ἀείδειν,

γλαυκῶπιν, πολύμητιν, ἀμείλιχον ἦτορ ἔχουσαν,

παρθένον αἰδοίην, ἐρυσίπτολιν, ἀλκήεσσαν,

Τριτογενῆ, τὴν αὐτὸς ἐγείνατο μητίετα Ζεὺς

σεμνῆς ἐκ κεφαλῆς, πολεμήϊα τεύχε᾽ ἔχουσαν,

χρύσεα παμφανόωντα·

Nike (Nίκη) sieht sich und handelt als einer Siegesgöttin gleich. Sie versucht dem von ihrem (als Ζεύς-gleich) verehrten Vater, einem erblindeten, auf einen Rollstuhl angewiesenen, pensionierten Latein- und Griechisch-Lehrer, in sie eingepflanzten Ideal purer Geistigkeit zum Sieg zu verhelfen. Sie erlebt sich als Produkt seiner Erziehung, als (dessen) Kopfgeburt (ἐκ κεφαλῆς).

„Und Nike Schröder ging hinab und trennte das greise Haupt ihres Vaters vom Rumpf und öffnete den Schädel und weinte, als sie die Höhle wiedersah, der sie vor neunzehn Jahren entsprungen war.“ (297)

Das von der körperlichen Hülle, res extensa, befreite Hirn, das sie all ihren Opfern entnimmt und in Einweggläsern konserviert, verkörpert für sie das Eigentliche des Menschen, bloßes res cogitans. Durch den Mord des (Begehrens des) Körpers ist das Geistige/der Geist zu befreien. Um an die Hirne heranzukommen, mordet sie. Die Körper macht sie sich zur Beute. Sie ist die Wiedergeburt der (Athene) Ageleie (ἀγελείη):

„»Ageleie ist kein Blumenname, du Dummkopf«, sagte sie leise [zum frisch Ermordeten]. »Ageleie heißt Beutemacherin.« (121)

Nike versteht sich demnach (auch) als μαῖα. (Ein Bezug zu Sokrates‘ Mäeutik, μαιευτική.) Sie will, dass die Hirne der von ihr Auserwählten zu sich selbst kommen, dass sie frei werden mögen, auf dass sie an und für sich selbst seien. (Phänomenologie des Geistes. Hegel pur). So wie auch für sie selbst gilt:

„Sie war Hirn. Reines Hirn. Von Kopf bis Fuß.“ (63)

Gemordet wird von ihr (ab dann vornehmlich) während des Rezitierens einschlägiger Ilias-Stellen – auf Griechisch, φυσικά! (z.B. 4, 134ff)

Schade nur, dass Dorn hier wie auch sonst nur eine Übersetzung, nicht aber das Original widergibt.

Doch das hat(te) auch sein Gutes. Um alle Stellen zu entdecken, las ich nun erstmals sowohl die Odyssee als auch die Ilias komplett und beschäftigte mich zudem auch noch mit den Hymnen und den Fragmenten der epischen Poesie…

(Spaß machte es auch, all die Stellen aus Goethe, Benn, Trakl,…, aufzusuchen und -zufinden.)

Hierfür besten Dank, Frau Dorn!

Ohne Sie wüsste ich gar nicht, dass die Ilias nur die Zeit zwischen dem Rückzug Achills vom Kampf und der Bestattung (des von ihm getöteten) Hektors umfasst. Wir lasen ja seinerzeit im Gymnasium nur die ersten paar Seiten… –– Mit Schaudern denk ich noch heute an die Stunden bei Oma St. und Onkel F. Die verdarben mir jegliches altphilologisches Lüstlein. Wie gut, dass es seinerzeit auch Pu gab!! Danke, mein Lehrer!!… (Nikes Vater scheint wie Pu fähig gewesen zu sein, Begeisterung entfachen zu können.) –– Interessant fand ich auch, dass die Odyssee bis auf den Kampf Odysseus‘ gegen die Freier (und die Zeit danach) – im Gegensatz zur Ilias – recht unblutig bleibt.

Was ich zudem nicht (mehr) erinnerte, ist, dass es (erst) Vergil war, der den Gründungsmythos Roms (mit) kreierte: der in der Aeneis den Untergang Troias schildert und den Flüchtling („profugus“, 2) Aeneas und die Seinen („nos Troia antiqua“, 375) zur Gründung Roms bestimmt(e). Sehr schön ist (dabei) Vergils Verbeugung vor dem Dichter der Odyssee – die Homer wohl zu Unrecht zugeschrieben wurde/ist –: Musa, mihi causas memora quo numine laeso (8) … Alles verweist auf alles…

Der Epilog des Krimis, der auf dem Flug von Frankfurt nach Athen spielt, schließt:

„»Haben Sie Verwandte in Athen?« [fragte der Sitznachbar.]

Sie legte den Kopf schief. »Gewissermaßen«, sagte sie. Und lächelte.“ (299)

Das Gefühl kenne ich.

Πού `ναι τα χρόνια, ωραία χρόνια… (Άκος Δασκαλόπουλος; gesungen: Στ. Κουγιουμτζής – Πού ‚ναι τα χρόνια (Γ. Νταλάρας) )

Nach Griechenland zu fahren ist für mich stets (auch) eine Reise in das Abkünftige Europas. Der Beginn von allem.

Dafür danke ich Frau Dorn besonders: Daran zu erinnern, von wo her Europa kommt. Und das heißt auch, sich/uns klar zu machen, welche Traumata, welche Kriege und Schlachten wir mit uns tragen. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten. Latein und Griechisch aus der Schule zu verbannen, ist ein Verbrechen. Den Haupteingang der Uni Freiburg flankieren (noch immer) die Herren Aristoteles und Homer. Doch bald wird es keine Jugendlichen mehr geben, die deren Schriften im Original lesen können. Und nachdem das erreicht ist, wollen unsere Bildungsgestalter wohl zudem machen, dass die beiden keinem mehr etwas sagen. Auf dass die künftigen Studierenden achtlos vorbeigehen mögen. Dumme wollen, dass auch alle andern dumm sind, damit ihre Dummheit nicht (mehr) als Mangel erscheine, keinem mehr unangenehm auffallen möge…

„Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann.

Seht! Ich zeige euch  d e n  l e t z t e n  M e n s c h e n.

„Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern“ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.

Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht.“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zarathustra‘s Vorrede, Kap. 5, S. 19, Z. 21-28)

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